Teilerfolg für abgewiesene Asylsuchende
Das Verwaltungsgericht pfeift den Kanton bei seiner strengen Praxis zur privaten Unterbringung von Nothilfe-Beziehenden zurück. Eine zweite Beschwerde zur Nothilfe lehnt es ab.
Der Andrang im Gerichtssaal des Berner Verwaltungsgerichts ist gross am Donnerstagmorgen. In einer öffentlichen Urteilsberatung hat das Gericht zwei Grundsatz-Entscheide zu den Rechten von abgewiesenen Asylsuchenden im Kanton Bern zu fällen. Rund 40 Besucher*innen versammeln sich im Saal, darunter auch die beiden Beschwerdeführer und ihr Anwalt David Krummen.
Einer der Beschwerdeführer ist der Iraner Mojtoba Pishehvar, dessen Geschichte die «Hauptstadt» im Vorfeld der Verhandlung beschrieben hat. Die zweite Beschwerde führt ein Mann aus Eritrea. Beide sind abgewiesene Asylsuchende und leben seit Jahren als Nothilfe-Beziehende im Kanton Bern. Sie sind von der Sozialhilfe ausgeschlossen und erhalten nur das grundrechtlich garantierte Minimum, das der Staat allen hier lebenden Personen gewähren muss: Unterkunft, Nahrung, Hygiene und eine Krankenversicherung.
Das Fünfer-Gericht fällt in fast vier Stunden zwei Urteile.
Anwesenheitspflicht im Rückkehrzentrum bleibt
Zuerst behandeln die Richter*innen die Beschwerde des Eritreers. Sie lehnen sie mit einem Vier-zu-Eins Mehrheitsentscheid ab.
Der Beschwerdeführer wurde aus der Nothilfe ausgeschlossen, weil er über längere Zeit nicht im Rückkehrzentrum Gampelen übernachtet hatte, wo er offiziell untergebracht war. Er klagte dagegen, weil der Ausschluss gegen seine Grundrechte verstosse. Er müsse die zehn Franken Nothilfe pro Tag trotzdem erhalten, auch wenn er nicht im Zentrum schlafe.
Die Mehrheit der Richter*innen sieht es anders: Es sei zulässig, dass die Behörden davon ausgehen, eine Person brauche kein Geld für Essen und Hygiene mehr, wenn sie extern übernachte. Weil der Mann sich nicht an die Anwesenheitspflicht im Zentrum gehalten hatte, hätten die Behörden ihn deshalb aus der Nothilfe ausschliessen dürfen. Einzig Richter Nils Stohner wollte die Beschwerde gutheissen, wurde aber von seinen Kolleg*innen überstimmt.
Damit bleibt bei der Anwesenheitspflicht in Rückkehrzentren des Kantons Bern alles beim Alten: Bewohner*innen können aus der Nothilfe ausgeschlossen werden, wenn sie nicht täglich im Zentrum übernachten. Das schränkt ihre Freiheiten erheblich ein, denn die Zentren sind nicht nur wenig komfortabel, sondern oft auch sehr abgelegen. Der Entscheid kann noch ans Bundesgericht weitergezogen werden.
Private Unterbringung darf nicht mehr als Druckmittel gebraucht werden
Die zweite Beschwerde erweist sich allerdings als Erfolg für abgewiesene Asylsuchende im Kanton Bern.
Bei der Beschwerde von Mojtoba Pishehvar geht es um eine Praxis der kantonalen Migrationsbehörden unter Sicherheitsdirektor Philippe Müller (FDP), die in Vergangenheit bereits für Kritik gesorgt hat. Sie betrifft die private Unterbringung von Nothilfe-Beziehenden.
Seit Ende 2022 ist diese Möglichkeit für eine Privatunterbringung statt einem Rückkehrzentrum im kantonalen Recht verankert. Die Gesetzesänderung geht zurück auf eine Motion, die der Grosse Rat 2020 überwiesen hat. Personen ohne Aufenthaltsrecht können ein Gesuch stellen, um statt in einem Rückkehrzentrum bei Privatpersonen zu leben. Die Migrationsbehörden müssen das Gesuch für jeweils sechs Monate bewilligen. Für die Miete müssen die Gastgeber*innen aufkommen. Seit der Gesetzesänderung wird den Untergebrachten aber die Nothilfe von 10 Franken pro Tag weiterhin ausbezahlt.
Beschwerdeführer Mojtoba Pishehvar war privat untergebracht und lebte bei einer Familie in der Nähe von Bern. Bis die Behörden ihm mitteilten: Wenn er sich weiterhin nicht bei der iranischen Botschaft melde, um einen Pass zu beschaffen (damit er schliesslich das Land verlassen würde), würden sie die private Unterbringung nicht weiter erlauben. Weil er den Gang zur Botschaft verweigerte, musste er gegen den Willen seiner Gastfamilie ins Rückkehrzentrum Gampelen umziehen. Es gab in den letzten drei Jahren diverse gleich gelagerte Fälle im Kanton Bern.
Pishehvar rügte ebenfalls, dieser Entscheid verletze seine Grundrechte. Und er bekam Recht: Mit drei zu zwei Stimmen entschied das Gericht, dass die Berner Migrationsbehörden die private Unterbringung von abgewiesenen Asylsuchenden nicht an deren Mitwirkungspflicht bei der Passbeschaffung knüpfen dürfen.
Das Gericht stützte sich unter anderem auf die Debatten im Grossen Rat zu der Motion.
Das Fazit: Das Kantonsparlament wollte gerade die Möglichkeit einführen, dass abgewiesene Asylsuchende, die sich lange Zeit in der Schweiz befinden, bei Privatpersonen leben können. Und zwar auch dann, wenn sie sich weigerten, Papiere zu beschaffen und so ihre Ausweisung aus der Schweiz zu ermöglichen. Die Gesetzesänderung war dazu gedacht, ihre Lebensumstände zu verbessern.
Ein Flop für Müller
Mit diesem Grundsatzurteil schiebt das Verwaltungsgericht den Berner Migrationsbehörden einen Riegel. Die kantonale Sicherheitsdirektion hatte die Beschwerde in erster Instanz abgewiesen. Der Entscheid ist damit auch ein Flop für Regierungsrat Philippe Müller.
Müller hat das Recht der Behörden, die Privatunterbringung an die Erfüllung der Mitwirkungspflicht zu knüpfen, in der Vergangenheit vehement verteidigt. Den Vorwurf, die Behörden hätten ihre Praxis bei den privaten Unterbringungen verschärft, nannte er in den Medien «ein Märchen».
Grossrät*innen, welche die Motion unterstützt hatten, kritisierten Müller für die Praxis. Er missachte den Willen des Gesetzgebers, indem er die private Unterbringung faktisch erschwere, seit sie im Gesetz verankert ist.
Das Verwaltungsgericht stellt mit seinem Urteil klar: Der Wille des Gesetzgebers ist zu respektieren. Und darf nicht durch die Hintertür wieder torpediert werden.
Für abgewiesene Asylsuchende, die oft viele Jahre in der Schweiz leben und im Nothilfe-System kaum Rechte haben, könnte das Urteil bessere Lebensumstände ermöglichen. Der Kanton kann es allerdings noch ans Bundesgericht weiterziehen.
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