Altstadt Spezial

«Was können wir von der Altstadt für unsere Zukunft lernen?»

Als Unesco-Weltkulturerbe ist die Altstadt von Bern streng geschützt. Das führe gar nicht so häufig zu Konflikten, wie man meinen könnte, sagt der städtische Denkmalpfleger Jean-Daniel Gross.

Hauptstadt Tischgespräch mit Jean Daniel Gross
«Wenn die Leute sagen, das ist ‹üsi Altstadt›, dann sind wir auf einem guten Weg», sagt der städtische Denkmalpfleger Jean-Daniel Gross. (Bild: Marion Bernet)

Herr Gross, mit welchem Blick laufen Sie durch die Berner Altstadt?

Jean-Daniel Gross: Grundsätzlich bin ich immer wieder überrascht über die Schönheit dieser Stadt. Wie gut sie sich erhalten hat über all die Jahrhunderte, während denen man darin wohnt und arbeitet.

Was gefällt Ihnen besonders an Bern?

Die unverwechselbare Identität. Man weiss sofort, wo man ist. Damit meine ich nicht nur Sandstein und Lauben. Die Gebäude der Berner Altstadt sind gleichzeitig von hoher Eleganz. Im 18. Jahrhundert wurden viele Fassaden, aber auch ganze Häuser und viele öffentliche Bauten erneuert. Das wurde unglaublich geschickt gemacht und braucht den Vergleich mit andern wichtigen Städten Europas nicht zu scheuen.

Gibt es auch Unschönes hier?

Natürlich, es gibt viele Ecken, die nicht so wahnsinnig schön sind. Die Schüttestrasse ist nicht gerade die Sonnenseite der Stadt. Und wenn ich den Bubenbergplatz anschaue, wird klar, dass der nur noch dem Namen nach ein Platz ist. Im Prinzip ist das heute nur noch ein grosser Verkehrsraum.

Tut Ihnen da das Herz weh?

Ich sehe vor allem das Aufwertungspotenzial. Was man alles erreichen könnte, um diese Stadt noch schöner und lebenswerter zu machen.

Hauptstadt Tischgespräch mit Jean Daniel Gross
Zur Person

Aufgewachsen ist Jean-Daniel Gross (55) in der Stadt Bern. Er studierte Architektur in Zürich und promovierte in Denkmalpflege. Nach einigen Berufsjahren kehrte er 2007 in seine Heimatstadt zurück und wurde Leiter der städtischen Denkmalpflege.

Ist schöner denn immer lebenswerter? Denkmalpfleger gelten oft auch als Verhinderer.

Ich widerspreche da gern. Eigentlich ist das Gegenteil der Fall: Wir sind da, um Spielräume aufzuzeigen. Wie und wo man intervenieren kann, um ein Haus den Bedürfnissen des modernen Wohnens anzupassen. Gleichzeitig wollen wir natürlich den Schutzwert und die Identität erhalten. Das ist unsere Aufgabe.

Das klingt wie die Arbeit für ein Museum.

Eben nicht, wir leben ja nicht unter einer Käseglocke. Eine Innenstadt wie Bern ist ein lebendiger Organismus. Wenn Sie durch die Stadt gehen, sehen Sie an jeder Ecke eine Baustelle. Unsere Aufgabe ist es, alle Seiten dafür zu sensibilisieren, wie wertvoll diese Umgebung ist.

Sie sagen, Sie seien kein Spielverderber. Wenn es darum geht, Kompromisse einzugehen, sind auch Sie von der Denkmalpflege bereit dazu?

Ein Kompromiss ist per Definition etwas, das für beide Seiten funktionieren muss. Vielleicht ist das aber gar nicht das richtige Wort. Es braucht vor allem gegenseitiges Verständnis. So kommt man zu neuen Lösungen, die möglichst vielen Bedürfnissen gerecht werden.

Gibt es da Beispiele?

Das ist für uns daily business. Wir müssen uns ja immer zuerst selbst ein Bild machen, das Haus begehen, um zu sehen, was wertvoll ist. Im Innern kann das etwa ein Täfer oder ein Kachelofen sein. Dann müssen wir uns gemeinsam mit der Eigentümerin überlegen, wie man zum Beispiel die Bedürfnisse nach einer anderen Aufteilung des Wohnraums umsetzen kann.

Und wenn jemand in einem Altstadthaus lieber grössere Räume hätte?

Wir müssen mit der Vorstellung brechen, dass es immer überall Konfliktpotential gibt. Besonders in der Altstadt haben Bauherrschaften und Denkmalpflege oftmals gar keine grossen Differenzen. Das kommt daher, dass es hier viele private Eigentümerschaften gibt. Die wollen nicht nur wie ein Investor anlegen, sondern haben ein Verantwortungsgefühl.

Das kann ich jetzt fast nicht glauben.

Ja, das klingt sehr romantisch. Aber es ist oft so, nicht nur in der Altstadt. Natürlich gibt es auch Konflikte, das will ich nicht verschweigen. Das betrifft aber vor allem die obere Altstadt. Dort gibt es viele Objekte, die Investoren gehören und von internationalen Ladenketten genutzt werden. Die haben fixe Vorstellungen davon, wie viele Quadratmeter die Ladenfläche betragen soll und wie viele Gestelle in welcher Anordnung stehen müssen.

Damit jeder Laden in jeder Stadt der Welt gleich aussieht.

Ja genau, das geht bis zum Logo an der Fassade. Dort müssen wir schon entgegenhalten. Aber ich glaube, das machen wir im Sinn der Bevölkerung, die ihre Altstadt und das Stadtbild gut gepflegt haben will.

Hauptstadt Fahne hängen, 
Sitzung im Politforum Bern
© Danielle Liniger
Altstadt Spezial

Vom 8. bis 12. Mai 2023 gastierte die Redaktion der «Hauptstadt» im Demokratie-Turm des Polit-Forums Bern. Wir waren quasi lebender und arbeitender Teil der Wanderausstellung «Auf der Suche nach der Wahrheit». Vom Käfigturm aus erkundeten wir die Innenstadt und stellten dazu unseren «Hauptstadt»-Tisch in die Gassen und ins Warenhaus Loeb und führten daran Interviews. Den «Hauptstadt»-Tisch liess die Redaktion anfertigen, damit er künftig als mobiles Büro immer wieder zum Einsatz kommen kann.

Hat die Denkmalpflege Einblick, wie viele Zweitwohnungen es in der Innenstadt gibt?

Wir sehen nur Bauvorhaben, die eine Baubewilligung benötigen. Über die Nutzung können wir jedoch nicht bestimmen. In einem Baugesuch ist es schwer zu sehen, ob jemand ein Airbnb plant oder ob es sich um eine normale Mietwohnung handelt. Und selbst wenn, müssen wir jedes Projekt aus rein baulicher Sicht beurteilen. Aber wir können im Gespräch mit Politiker*innen auf dieses Problem aufmerksam machen und Sensibilisierungsarbeit leisten. Aus denkmalpflegerischer Sicht ist klar: Die Wohnbevölkerung in der Altstadt stellt einen ganz wesentlichen Faktor für ihren langfristigen Erhalt dar.

Sie appellieren also an die Menschen, die noch in der Altstadt leben.

Wir sollten das Leben in der Altstadt mindestens erhalten, noch besser fördern. Denn nur, wenn Menschen dort leben, übernehmen sie Verantwortung und merken, wenn etwas nicht gut läuft. Das ist das Geheimnis. Und auch die Basis, damit sich mehr Berner*innen mit ihrer Altstadt identifizieren. Wenn die Leute sagen, das ist «üsi Altstadt», dann sind wir auf einem guten Weg. Ich weiss nicht, ob das in Venedig noch der Fall ist.

Sie selbst wohnen in der Altstadt.

Ich interessiere mich seit meiner Kindheit für Architektur, habe in Zürich studiert und gearbeitet und kam dann zurück nach Bern, um die Leitung der städtischen Denkmalpflege zu übernehmen. Ich habe seither in der Altstadt gelebt, in zwei verschiedenen Häusern und in drei verschiedenen Wohnungen, immer als Mieter.

Was verbirgt sich in diesen Wohnungen, das die Passant*innen von aussen nicht sehen?

Was mich immer wieder erstaunt, ist, wie viel historische Bausubstanz noch erhalten ist, auch im Inneren. Auswärtige sagen manchmal, die meisten Häuser in Bern seien ausgekernt. Aber das stimmt nicht, vor allem in der unteren Altstadt haben die meisten Gebäude noch ihre historischen Interieurs.

Und in der oberen Altstadt?

Auch dort. Natürlich nicht in den Ladenlokalen, aber in den oberen Etagen. Aber klar, die obere Altstadt hat seit dem Bahnhofsbau 1860 eine andere Entwicklung durchgemacht. Damals hat sie sich zur City entwickelt, es gab erste Warenhäuser wie zum Beispiel das Warenhaus Kaiser. Auch das ist ein ganz toller Bau, auch wenn er später ausgekernt wurde.

Die Migros an der Marktgasse ist eines der krassesten Beispiele für eine Auskernung.

Das geschah, kurz bevor die Altstadt 1983 das Label «Weltkulturerbe» erhielt, und hat die Auszeichnung zeitweise in Frage gestellt. Die Strategie war dann: Alles sehr offensiv zeigen, auch die schlechten Dinge. So hat die Unesco gemerkt, was wir von der Denkmalpflege auch im Alltag feststellen: Es ist eben noch viel mehr da, als viele denken.

Hauptstadt Tischgespräch mit Jean Daniel Gross
«Was mich immer wieder erstaunt, ist, wie viel historische Bausubstanz noch erhalten ist, auch im Inneren», sagt Jean-Daniel Gross. (Bild: Marion Bernet)

Wie hilft das Label, die historische Altstadt zu erhalten?

Es ist ein Qualitätssiegel. Es ist aber keine Gesetzesgrundlage, die sagt, was erlaubt ist und was nicht. Die konkrete baurechtliche Grundlage für den Umgang mit der Altstadt bilden das kantonale Baugesetz und die Bauordnung der Stadt Bern. Die Unesco hat uns aber den Auftrag gegeben, einen Managementplan für das Welterbe zu erarbeiten – so, wie das jede Welterbestätte muss.

Was ändert sich mit diesem Managementplan?

Für normale Bauherrschaften fast nichts. Denn er betrifft die übergeordnete Ebene. Zunächst müssen wir definieren, welches die primären Eigenschaften sind, die die Berner Altstadt unverwechselbar machen. Dazu gehören beispielsweise die Stadtstruktur, die historische Dachlandschaft – die deswegen von Solarpanels ausgenommen ist – das Laubensystem und vieles mehr. Auf dieser Basis werden die Grundlagen geschaffen, auf denen unsere Altstadt weiterentwickelt werden kann. Hier wird vor allem der öffentliche Raum im Fokus stehen. Denken wir an die Schütte oder den Bubenbergplatz… Dank dem Managementplan werden wir nicht jedes Mal bei Null anfangen müssen, wenn eine Gasse oder ein Platz saniert und neu gestaltet werden soll.

Wo stehen Sie?

Wir haben letztes Jahr ein interdisziplinäres Fachteam bestimmt. Die Arbeiten haben Anfang dieses Jahres begonnen. Der Plan wird Ende 2025 den Weg nach Paris antreten, wo er genehmigt werden muss.

Von aussen denkt man: Oh, ein Unesco-Weltkulturerbe, das gibt sicher strenge Auflagen beim Bauen. Hat die Unesco in Wahrheit gar nicht so viel Einfluss?

Das Label hat sicher einen psychologischen Einfluss. Weil Bevölkerung und Politik wahrnehmen, dass wir da wirklich etwas Spezielles haben, etwas, das für die ganze Menschheit von Wert ist.

Hauptstadt Tischgespräch mit Jean Daniel Gross
«Die Berner Altstadt ist ein Paradebeispiel für verdichtetes Bauen», betont Jean-Daniel Gross. (Bild: Marion Bernet)

Wie durchmischt ist eigentlich die Altstadt? Kann man sich dort als normale*r Berner*in eine Wohnung leisten?

Das ist ja das Tolle an der Berner Altstadt! Wir müssen uns vorstellen, dass es früher ringsherum noch keine Quartiere gab. Das ganze städtische Leben spielte sich zwischen Christoffelturm und Nydegg ab. Die Stadt wurde sowohl für einfache Leute mit einem Handwerksbetrieb gebaut als auch für solche mit repräsentativen Ansprüchen. Deshalb besteht bis heute ein sehr heterogenes Angebot an Wohnraum, auch preislich. So einheitlich die Altstadt als Gesamtes daherkommt, so divers ist der Wohnraum: Es gibt Häuser mit zwei bis neun Fensterachsen, Häuser mit Hinterhäusern, und solche, die von einer Gasse zur anderen reichen.

Mit anderen Worten: In der Altstadt gibt es alles?

Ja, sie ist sehr durchmischt. Es gibt Studierende in kleinen, zum Teil unrenovierten Wohnungen, die zentral und ein bisschen lärmig leben. Und es gibt sehr repräsentative Wohnungen für Leute, die es sich leisten können und wollen. Das Wohnen in der Altstadt hat ja nicht nur Vorteile: Es gibt keine Tiefgaragen, man kann nicht mit dem Lift direkt in die Wohnung, meistens gibt es auch keinen Panoramablick und auch wenig privaten Aussenraum. Aber dafür gibt es die alte, authentische Bausubstanz mit vielen unverwechselbaren Details, die zentrale Lage und vielleicht einen Kachelofen oder ein Cheminée.

Könnte man die Altstadt noch verdichten?

Die Altstadt ist um mehrere Faktoren verdichteter als jedes andere Quartier in der Stadt Bern. Sie ist ein Paradebeispiel für verdichtetes Bauen. Und sie ist damit auch sehr ökologisch. Vielleicht sind die Fenster weniger dicht, aber die Bausubstanz ist nachhaltig. Dank der kompakten Bauweise ist die Gebäudehülle im Verhältnis zum Volumen klein. Dazu ist alles aus nachhaltigen Materialien gebaut. Der Stein stammt aus dem nahen Steinbruch, das Holz aus dem nahen Wald und alles wurde mit Muskelkraft von Mensch und Tier gebaut. Das ist nicht nur eindrücklich, sondern im wahrsten Sinne des Wortes ökologisch.

Sie reden sich richtiggehend ins Feuer.

Ich finde die Frage falsch gestellt, weil die Altstadt ein Vorbild ist, was ökologisches und verdichtetes Bauen angeht. Eigentlich müssen wir uns fragen: Was können wir von der Altstadt für unsere Zukunft lernen?

Man könnte mehr Wohnungen einrichten, dort, wo jetzt Büros oder Gewerbeflächen sind.

Ja, das wäre eine sinnvolle Form der Verdichtung. Gerade in der oberen Altstadt könnte das Wohnangebot so vergrössert werden. Ich weiss nicht, ob es schon in den nächsten Jahren die grosse Trendwende geben wird, aber längerfristig gesehen halte ich viel von dieser Idee.

Was muss sich dafür ändern?

Die Lärmbestimmungen. An lauten Orten zu wohnen, kann krank machen. Aber vielleicht dürfen wir berücksichtigen, dass das Wohnen in der Altstadt ja keiner Notwendigkeit, sondern einem Wunsch entspricht. Wer hier wohnt, wohnt hier freiwillig. Es gibt aber auch makroökonomische Umstände: Wahrscheinlich wird irgendwann weniger Büro- und Gewerbefläche nachgefragt. Dann würde Raum frei für Wohnungen. Das ist im Moment noch nicht so offensichtlich, aber wir spüren bereits den Trend.

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Diskussion

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Patrik Bohnenblust Bread à porter AG
23. Mai 2023 um 06:02

Ein schönes Interview mit Herr Daniel Gross. In diesem Fall ist ja alles wunderbar und in bester Ordnung.

Es wird ja eben auch nicht auf Fragen und Probleme von Handwerksbetrieben geachtet wie diese weiterbestehen können. Denn diese diese leiden teilweise unter der " Museumsstadt". Mir wurde bei der Denkmalpflege sogar das persönliche Gespräch verweigert.

Sorry leider ein sehr einseitiges Gespräch ohne kritische Punkte und Probleme. Schade.

Liebe Grüsse Patrik Bohnenblust