Die Zuckerwatte rauskotzen
Die Lyrikerin Lea Schlenker benennt in ihrem neuen Gedichtband die Krisen der Gegenwart. Unerbittlich realistisch und intensiv. Wer Hoffnung sucht, liegt hier falsch.
In Mexiko wächst ein kugelförmiger Kaktus ohne Stacheln, Peyote ist sein Name. In Scheiben geschnitten und getrocknet oder eingekocht zu einem Sud gibt er die Substanz preis, mit der sich Menschen seit zirka 6'000 Jahren in veränderte Bewusstseinszustände schicken.
Meskalin löst Glück und Ängste aus – oder das Ich auf. Dem neuen Gedichtband der Berner Lyrikerin Lea Schlenker leiht es seinen Namen: «Meskalin Sunsets».
Wie bei einer psychedelischen Reise sind auch bei der Gedichtlektüre «Set und Setting» entscheidend. Je nach geistigem Zustand und Umgebung variiert die Erfahrung.
Bereits im ersten Gedicht fallen die Eisheiligen aus, im zweiten treten die Hitze, das Virus und Bienen auf und im dritten gesellen sich Trotzki und Audrey Hepburn dazu. Sie setzen den Ton für die 66 weiteren Gedichte: Ein Tanz zwischen Zerfall und Hochglanz.
Schlagzeilen
Schonungslos blickt das Ich auf die Krisen der Gegenwart. Auf Hitzesommer, kochende Meere und sterbende Fische, Pandemie, Hochwasser und geflüchtete Menschen. Es versucht gar nicht erst, die Ereignisse in eine poetische Sprache zu verpacken, sondern benennt sie, wie sie in einer Tageszeitung auftauchen. Oder in einem politischen Appell, wenn es das «Nein zum Rahmenabkommen» und das «Nein zur humanitären Flüchtlingspolitik» beklagt oder bedauert, dass die Erbschaftssteuer «ein feuchter Traum» bleibt.
Die Passagen, in denen die Gedichte das Gegenwartsgeschehen atmen, kleben sprachlich sehr nahe am Nachrichtenstrom. Wer zu einem Gedichtband greift, um sich von Schlagzeilen eine Pause zu gönnen, legt das Buch wohl schnell zur Seite. Zu oft hat man schon von «der Festung Europa» gelesen oder dass «Europa brennt». In solchen Zeilen schimmert durch, dass in Lea Schlenker nicht nur die Lyrikerin und Mit-Organisatorin der feministischen Lesebühne «Kollektiv Kitzeln» steckt, sondern auch das Vorstandsmitglied der Operation Libero.
Das Ich in den Gedichten leidet an der Weltlage. Es hat Angst vor schnellen Autos in der Dunkelheit und davor, dass es die Welt nicht retten kann. Es liest Unfallstatistiken als Bettlektüre und möchte eine Kerbe in die Holztür schnitzen, für jeden Tag, an dem es nicht geweint hat. Die Medikamente wirken noch nicht so richtig. Und statt Wohligkeit findet es in Beziehungen zu anderen Menschen zusätzlichen Ballast: «Der Krieg in der Ukraine macht mich fertig / und du liest nicht einmal mehr die Nachrichten».
Als «Bad Trip» liesse sich diese ängstliche Stimmung verbuchen. Doch zwischendurch blitzen Funken der Leichtigkeit auf. Erinnerungen an Flussspaziergänge entlang eines Zuckerwattenparadieses oder Momente in einem Zuhause, wo es Bücher gibt und ein Kuchenstück im Kühlschrank. Die Halbwertszeit der Leichtigkeit aber ist kurz: «Zuckerwatte Lippenstift und Honigglasur / und eine Runde Kotzen auf der Achterbahn» – die Abgründe öffnen sich oft schon auf der nächsten Zeile.
Zahlreich sind die Auftritte von prominenten Künstler*innen in den Gedichten, eine personifizierte Leseliste. Auch sie sind oft unglückliche Figuren. Sylvia Plath etwa, die sich mit 30 Jahren im Backofen erstickte – aber auf Fotos immer makellos hergerichtet in die Kamera lächelt. Dazu gesellen sich viele Tiere, die entweder selbst leiden (Ente mit Gesichtstumoren) oder andere leiden lassen (Mückenstiche).
Die Wut brüllt nicht
In einem Interview mit SRF-Kultur erzählt Lea Schlenker, dass sie ihre Wut in Gedichte stecke und so verarbeite. Pessimistisch sei sie nicht: Dann würde sie keine Gedichte schreiben, sondern resignieren.
Die Wut in Schlenkers Gedichten ist keine, die brüllt. Der Blutdruck der Gedichte steigt kaum in bedrohliche Höhen, sondern hält sich konstant auf einem tiefen Niveau. Hätten sie ein Gesicht, es wäre bleich. Mit Ausnahme des präzise aufgetragenen fuchsiafarbenen Lippenstifts. Vielleicht verdeckt von einer zerplatzen Kaugummiblase.
Lea Schlenker schafft eine Welt, die vertraut erscheint, mit kleinen Verschiebungen aber immer wieder ins Unwirkliche kippt. So weit entfernt von der Gegenwart, dass sich die Gedichte insgesamt doch abheben von Zeitungstexten. Und gleichzeitig nahe genug sind, dass ein Unwohlsein die Lektüre begleitet, verwandt mit der Vorstellung, dass der von Insektenstichen durchbohrte Körper schwitzt, aber der Schweiss nicht mehr verdampfen kann in der mit Feuchtigkeit gesättigten Luft.
In dieser Intensität liegt die Stärke des Gedichtbandes. Mit jeder umgeblätterten Seite wächst trotz Herbstwetter der Wunsch, ein Teil des Titels möge sich doch realisieren: Sunset, Sonnenuntergang. Eine Pause der grellen Dauerbescheinung. Doch die in Neonfarben gleissenden Benzin-Schlieren auf dem Cover verkünden keine frohe Botschaft. So bleibt die Flucht in die Drogen: «Wir ziehen ein Kokain von den Dächern und schauen zu / wie die Welt untergeht».
Lea Schlenker: Meskalin Sunsets, Aphaia Verlag, November 2023.
Am 1. Dezember findet in der Kinemathek Lichtspiel in Bern die Vernissage statt. Mit Wein und kurzen Filmsequenzen, die thematisch den Gedichtband umrahmen.