«Die eritreische Community gehört auch zur Schweiz»
Der Berner Jurist Metkel Yosief plädiert für eine differenzierte Sicht auf die gewalttätigen Konflikte in der eritreischen Diaspora. Er kritisiert das stereotype Afrikabild in der Schweiz.
Die eritreische Community in der Schweiz umfasst rund 50’000 Menschen. Ende Juni waren rund 30’000 Eritreer*innen als anerkannte Flüchtlinge registriert. An sogenannten «Eritrea-Festivals» kam es in den vergangenen Wochen wiederholt zu Ausschreitungen.
Der Konflikt wird meist als einer zwischen regimetreuen und regimekritischen Anhänger*innen dargestellt. Doch diese Sichtweise sei zu vereinfachend, findet Metkel Yosief. Und versucht, die komplexen Probleme der eritreischen Community verständlich darzustellen.
Herr Yosief, Sie sind Eritreer…
Metkel Yosief:...da fängt es schon an (lacht). Ich verstehe natürlich, warum man das denkt. Aber ich bin in Bern geboren und auch Schweizer. Meine Eltern flüchteten vor über 30 Jahren in die Schweiz. Was heisst es, Eritreer*in zu sein? Diese Frage beschäftigt in der Diaspora fast alle. Das grosse Thema ist, mit wem oder was man sich identifiziert.
Das Schlüsselereignis ist wohl die Unabhängigkeit von Äthiopien 1993?
Absolut. Die Unabhängigkeit und der Unabhängigkeitskrieg machen einen wichtigen Teil der eritreischen Identität aus. Und zwar für viele Eritreer*innen, unabhängig davon, wie sie zur Regierung stehen. Allerdings spricht die Regierung den Eritreer*innen das Recht ab, Eritreer*innen zu sein, wenn sie kritisch sind. Das ist ein wesentliches Problem, das vieles so kompliziert macht.
Erklären Sie.
Der Unabhängigkeit ging ein 30 Jahre dauernder, blutiger Krieg voraus, von dem kaum eine Familie verschont blieb. Kurzfristig gab es danach zwar Hoffnung und Enthusiasmus. Die nach dem Krieg ausgearbeitete Verfassung zum Beispiel verhiess Gutes für Eritrea. Doch der damals noch weitherum als Befreiungsheld geltende Isayas Afewerki liess schon als Übergangspräsident, als der er eigentlich gedacht war, rasch autoritäre Tendenzen erkennen.
Inwiefern?
Schon in seinen Anfängen als Staatsoberhaupt wurde eine Demo von unzufriedenen Kriegsversehrten mit Gewalt gestoppt. Das schockierte viele. Trotzdem genoss Afewerki Vertrauen. Er setzte auf die harte Linie.
Wie genau?
Nach dem Grenzkrieg mit Äthiopien 1998 wurden – im Schatten des Terroranschlags in New York 2001 – hochrangige Persönlichkeiten aus der Politik sowie Journalist*innen ohne gerichtliches Verfahren inhaftiert. Der Aufenthalt und Zustand dieser Personen wurde nie offiziell bekannt. Bis heute gilt in Eritrea eine uneingeschränkte Militärdienstpflicht. Es gibt weder die Möglichkeit, sich frei zu bewegen oder zu versammeln, noch, einen Beruf zu wählen. Mal abgesehen vom chronischen Mangel an Wasser, Getreide, Gas und Strom.
Metkel Yosief (31) hat zwei Master-Studiengänge abgeschlossen, in Rechtswissenschaft sowie in Polit-, Rechts- und Wirtschaftsphilosophie. Aktuell doktoriert er am Kompetenzzentrum für Public Management der Universität Bern.
Er hat unter anderem für das eritreische Aussenministerium gearbeitet und für die Schweizer Botschaft im Senegal. Tätig war er zudem als Dolmetscher für das Staatssekretariat für Migration sowie als Jurist an der Ombudsstelle und der Datenaufsichtsstelle der Stadt Bern. (jsz)
Diesen Sommer kam es in der Schweiz, aber auch in anderen europäischen Städten erneut zu gewaltsamen Konflikten an sogenannten Kulturanlässen. Eritreer*innen, die vor der Unabhängigkeit geflüchtet sind und hinter dem Regime Afewerki stehen, und solche, die seither vor ihm geflüchtet sind, prügelten sich. Warum?
Diese Aufteilung der Eritreer*innen in zwei Lager ist zu undifferenziert, und das stört mich. Dass vor der Unabhängigkeit geflüchtete Eritreer*innen pauschal als Regimetreue gesehen werden, und diejenigen, die später kamen, als Regimegegner*innen, ist viel zu oberflächlich. So kann man die Probleme in der eritreischen Diaspora nicht verstehen. Es ist ja nicht so, dass sich an den Eritrea-Anlässen die Generation Ü-50 mit 20- bis 30-Jährigen prügelt.
Wie ist es denn?
Ich kann nicht die Ansichten aller wiederspiegeln, aber es ist vielschichtiger als es dargestellt wird. Es gibt auch Eritreer*innen, die vor der Unabhängigkeit geflüchtet sind und den Befreiungskampf unterstützten, aber heute die autoritäre Regierung ablehnen. Andererseits gibt es Eritreer*innen, die erst in den letzten Jahren emigriert sind, aber nicht gegen das Regime sind.
Wie das?
Zum Beispiel, weil sie oder ihre Familien von tiefrangigen Verwaltungsangestellten oder Militärs verhaftet, drangsaliert, gefoltert worden sind, aber trotzdem noch die Märtyrer*innen und Freiheitskämpfer*innen des Unabhängigkeitskrieges glorifizieren. Oder weil sie der Propaganda des eritreischen Regimes glauben, denn auch sie sind davon betroffen
«Man redet ja viel über Integration. Aus meiner Sicht heisst Integration auch, sich als Aufnahmeland um einen differenzierten Blick zu bemühen.»
Wie tönt die Propaganda?
Seit der gewalttätig gestoppten Demonstration von Kriegsversehrten begehren Eritreer*innen auf der ganzen Welt immer mehr gegen die Führungselite auf. Und zwar mehrheitlich friedlich. Die Regierung tut diesen Widerstand ab als von den USA und europäischen Staaten gesteuerte Sabotage gegen das befreite Eritrea.
Mit welchem Tenor?
Es heisst: Wer das Regime kritisiert, ist kein echter Eritreer, keine echte Eritreerin. Das ist der Ton, der einem an den Kulturanlässen auch in der Schweiz entgegenschlägt, vor allem, wenn Mitglieder aus der eritreischen Führungselite als Redner auftreten. Da werden richtige Hassreden gehalten. Das ist sehr bitter und verletzt viele zutiefst in ihrer Identität, gerade wenn man im Ausland lebt und sich sehr wohl als Eritreer*in fühlt.
Aber kann diese Konstellation die Gewaltausbrüche der letzten Wochen an solchen Kulturanlässen erklären?
Was ich aufzeigen will: Die mediale Darstellung, dass sich an den Kulturfestivals Regimegegner*innen und -befürworter die Köpfe einschlagen, verletzt die Würde der Eritreer*innen. Sie werden als gewalttätige Geflüchtete mit Integrationsproblemen dargestellt. Diese Qualifizierung hat auch mit einem eindimensionalen Bild von Afrikaner*innen zu tun. Man gesteht ihnen keine Differenziertheit zu. Dabei haben die Wutausbrüche eine lange Geschichte. Ich engagiere mich dafür, diese hier verständlich zu machen.
Wie schaukelt sich die Wut auf?
Das passiert schon sehr lange. Eritrea war eine Kolonie, danach kam die britische Mandatszeit, darauf die Unterdrückung durch das Kaiserreich Äthiopiens und später durch das äthiopische Militärregime. Eritrea ist seit über 100 Jahren von Gewalt, Unterdrückung und Willkür geprägt, wobei nun seit 30 Jahren die Unterdrücker selber Eritreer*innen sind. Es ist wichtig zu verstehen, dass die Menschen in einem Klima von Furcht und ständiger Unterdrückung leben.
Mit welchen Folgen?
Das treibt sie unter anderem in die Flucht. Der Weg durch die Sahara und über das Mittelmeer ist lebensgefährlich und zusätzlich traumatisierend. Wer es dann noch in die Schweiz geschafft hat, realisiert, wie schwierig es ist, hier Fuss zu fassen – und hört dazu noch, als Regimekritiker*in kein*e richtige*r Eritreer*in zu sein. Stellen Sie sich vor: Nach allem, was viele durchgemacht haben, werden sie in der Schweiz sogar als Feinde Eritreas bezeichnet! Absolut demütigend. Die physische Gewalt aus dem Heimatland ist zwar nicht mehr da, aber dafür ein immenser psychischer Druck.
Suchen eritreische Geflüchtete in der Schweiz Unterstützung?
Seit langem machen Gefüchtete darauf aufmerksam, wie stark die eritreische Führung auf die Diaspora in der Schweiz Einfluss nimmt. Sie sind – mit wenigen Ausnahmen – praktisch ungehört geblieben. Es gibt Geflüchtete, die argumentieren, dass sie sich nun mit der durch die Gewalt erlangten Aufmerksamkeit endlich Gehör verschaffen. Das ist leider der falsche Weg.
Wie soll die Schweiz reagieren? Ist es damit getan, härter durchgreifen, problematische Kulturfestivals zu verbieten und regimetreuen Eritreer*innen, die zu Hause nichts zu befürchten haben, den Asylstatus zu entziehen, wie das jetzt vorgeschlagen wird?
Ich glaube nicht, dass es einfache Lösungen gibt. Einige sind wie ich Schweizer*innen, diese Personen könnten daher ohnehin nicht ausgeschafft werden. Aber auch Nichtstaatsangehörige und Regimetreue nicht, weil es kein Rückübernahmeabkommen zwischen der Schweiz und Eritrea gibt, das wegen des möglichen Folterrisikos ohnehin kaum durchsetzbar wäre. Es kann also nicht die Lösung sein, mit inhaltsleeren Aussagen zu drohen.
Was wäre denn ein möglicher Weg?
Die Geflüchteten haben ein Recht, ernst genommen zu werden. Man redet ja viel über Integration. Aus meiner Sicht heisst Integration auch, sich als Aufnahmeland um einen differenzierten Blick zu bemühen.
Was heisst das konkret?
Man unterschätzt, wie geflüchtete Menschen unter dem leiden, was sie erlebt haben. Sie sollen sich integrieren, aber es wird ihnen nicht leicht gemacht. Es bleibt das ohnmächtige Gefühl, im Stich gelassen zu werden. Wie würden Sie sich in dieser Situation fühlen?
Ich kann es mir ehrlicherweise nicht vorstellen.
Für eine nachhaltige Lösung muss die eritreische Diaspora zusammenfinden. Das ist aber nicht nur eine interne Angelegenheit von ihr. Denn: Die eritreische Community gehört auch zur Schweiz. Wir müssen uns daher als Schweiz ebenfalls mit diesen Problemen auseinandersetzen.
Wie denn?
Die Schweiz hat grosse Erfahrung in der Beilegung von Konflikten, mit runden Tischen zum Beispiel und darin, Menschen früh in Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Das ist etwas, was mehr nützen würde als scheinbar hart durchzugreifen und Probleme abzuschieben.