Ohne Not? Bern grenzt Bedürftige stärker aus
Weil die Obdachlosigkeit zunimmt, zwingt der Kanton die Stadt dazu, den Zugang zu Notbetten für Sans-Papiers einzuschränken. Sparen können beide damit kaum. Verstossen sie auch noch gegen die Verfassung?
An einem Dezemberabend in der Adventszeit eilen Menschen über den Bahnhofsplatz, tätigen Einkäufe und erfreuen sich all der Lichter, die die Dunkelheit erhellen. Es ist deutlich wärmer als in früheren Jahren. Und doch sind die Temperaturen auf Berns Strassen gesunken.
Im vergangenen Herbst sorgte schweizweit für Aufsehen, dass der Kanton Bern in Person des zuständigen Regierungsrats Pierre Alain Schnegg (SVP) von der Stadt verlangte, den Zugang zu Notschlafstellen für Sans-Papiers einzuschränken.
Damals hiess es, der Platzmangel in den Notschlafstellen bestehe wegen Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus. Der Kanton wolle deshalb schlicht «wachsende Kosten bremsen». Weil der Kanton der Stadt Bern im Rahmen des Ausgleichs für Zentrumslasten jährlich viel Geld für Notschlafstellen bezahlt, kann er bestimmen, wie es verwendet wird. Das führte auch zu einer hitzigen Debatte im Stadtrat, über die die «Hauptstadt» damals berichtete.
In den ab 2026 gültigen Leistungsvereinbarungen mit Hilfsorganisationen wie der Heilsarmee steht neu: «Die Aufnahme von Personen ohne legalen Aufenthalt in der Schweiz ist auf begründete Einzelfälle (beispielsweise in lebensbedrohlichen Situationen) und auf sehr kurze Aufenthalte von in der Regel einer Nacht zu beschränken.»
Nun zeigen Recherchen der «Hauptstadt»: Das Vorgehen des Kantons Bern ist rechtlich mindestens umstritten und das Sparargument verfängt nicht. Zudem gerät auch die Stadt in die Kritik, weil sie die Bestimmungen des Kantons weitergibt.
In Bern kosten Sans-Papiers kaum
Die Begründung des Kantons Bern für die weitere Einschränkung des Zugangs zu Notschlafstellen kann Jörg Dittmann, auf Obdachlosigkeit spezialisierter Professor an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Muttenz, schwer nachvollziehen. «Die Argumentation des Kantons überzeugt mich nicht.» Die Kosten, welche obdachlose Sans-Papiers in Bern verursachten, seien sowohl absolut als auch im Vergleich eher tief. «Wir sprechen über die Einschränkung einer Nothilfe, die jeder Person in existenziellen Notlagen nach der Bundesverfassung zusteht», sagt er.
Zusammen mit Kolleg*innen der Fachhochschule hat Dittmann die Obdachlosigkeit in den acht grössten Schweizer Städten untersucht. Und herausgefunden: Im Vergleich zu anderen Städten sind in Bern vergleichsweise wenige Menschen ohne gültige Papiere obdachlos. In Bern machen sie rund einen Fünftel aus. In Lausanne oder Genf hingegen sind mindestens drei Viertel aller Obdachlosen Sans-Papiers.
Weshalb diese grossen Unterschiede bestehen, haben die Forschenden nicht weiter untersucht. So unterschiedlich die Gründe dafür seien, dass Menschen keine gültige Aufenthaltsbewilligung besitzen, so unterschiedlich seien die Erklärungen für die unterschiedlich grosse Zahl an Sans-Papiers zwischen den Städten, so Jörg Dittmann.
Dittmann vermutet aber, dass in Bern ein Grund dafür im bereits erschwerten Zugang zu Notschlafstellen besteht.
«Es ist reine Abschreckungs- und Verdrängungspolitik»
Die neuen Auflagen von Kanton und Stadt dürften die Situation für Sans-Papiers in Bern weiter erschweren. Karin Jenni und Jill Kauer, Co-Geschäftsleiterinnen der Berner Beratungsstelle für Sans-Papiers sagen: «Wir befürchten, dass es für diese Menschen nun schneller heisst, sie befänden sich nicht in einer Notlage.»
Dabei handle es sich immer um eine Notlage, wenn jemand ohne legalen Aufenthaltsstatus kein Dach über dem Kopf mehr habe. Diese Personen würden bereits heute eher draussen übernachten. Denn wenn sie auf der Strasse landen, befinden sie sich längst in einem Teufelskreis: Wer keine Papiere hat, kriegt legal keinen Job. Und wer keinen Job hat, bekommt kaum eine Wohnung. Die Beratungsstelle darf keinen Wohnraum vermitteln. Jenni und Kauer leiten jene ohne Bett für die Nacht an die Notschlafstellen weiter.
Meistens befänden sich diese Menschen – nicht selten sind darunter Familien mit Kindern – zwischenzeitlich in Not. Etwa, weil ein Freund, bei dem sie wohnten, die Wohngemeinschaft auflöste. Oder weil einer Bekannten, die ihnen ihre Wohnung untervermietete, gekündigt wurde. «Dann muss man ihnen übergangsmässig ein Fenster öffnen, damit sie sich neu orientieren können», so Jenni und Kauer.
Auch Melina Wälti und Nora Hunziker von der Kirchlichen Gassenarbeit Bern kennen die Notlagen von Sans-Papiers ohne Obdach und Wohnung. Sie und ihr Team sind – auch abends und nachts – in der Stadt Bern unterwegs, treffen von Wohn- und Obdachlosigkeit Betroffene und bieten Unterstützung an. Immer wieder verweisen sie Menschen in Notschlafstellen. Im Gegensatz zum städtischen Pinto-Team, das vergleichbare Arbeit leistet, sind sie keiner Behörde unterstellt. Zudem sind sie an keine Leistungsvereinbarung gebunden.
Wälti und Hunziker sind nicht überrascht, dass Stadt und Kanton Sans-Papiers das Leben in Bern weiter erschweren wollen. «Wir sehen schon länger, dass es in den Notschlafstellen mit Leistungsverträgen schwieriger ist, ein Bett für die Nacht zu erhalten – unabhängig davon, ob man einen Ausweis vorweisen muss.» So kostet eine Übernachtung in Notschlafstellen der Heilsarmee heute 15 Franken. Im «Sleeper», der einzigen Stadtberner Notschlafstelle, die keine Gelder von Stadt und Kanton erhält, nur einen Fünfliber.
Dass in den Verträgen nun zwischen Notlage und lebensbedrohlicher Situation unterschieden wird, irritiert Wälti und Hunziker. Sie glauben deshalb, dass die Sans-Papiers als Versuchskaninchen für weitere Kürzungen dienen. «Es ist reine Abschreckungs- und Verdrängungspolitik», sagt Nora Hunziker und findet: «Dass aufgrund der Herkunft die Not unterschiedlich beurteilt werden soll, ist diskriminierend. Wer im Winter draussen übernachten muss, ist immer an Leib und Leben bedroht.»
Die Stadt verstosse keineswegs gegen die Bundesverfassung, sagt Claudia Hänzi, Leiterin des Stadtberner Sozialamts. Die Hilfe in einer Notlage werde ja in der Regel für eine Nacht gewährt. «Wird nun eine Person, welche kein Bleiberecht hat und verpflichtet ist, die Schweiz unmittelbar zu verlassen, nicht über mehrere Tage oder immer wieder beherbergt, dann stellt dies im juristischen Sinne keine Diskriminierung dar. Dies, weil die Anknüpfung an den Aufenthaltsstatus dieser Person sachlich gerechtfertigt ist. Eine Person mit Aufenthaltsberechtigung und eine solche ohne haben nicht dieselben Ansprüche gegenüber staatlichen Leistungen.»
Die Stadt sei sich aber bewusst, so Hänzi, dass es grundsätzlich zu wenig Platz habe in den Notschlafstellen. Sie versuche, legitime Lösungen zu finden, damit auch Personen ohne Bleiberecht, die sich in einer Notlage befinden, die notwendige Hilfe erhalten.
Auch der Kanton Bern argumentiert auf Anfrage gleich. Die zuständige Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion (GSI) wiederholt zudem, dass es es ihr um die Kosten gehe. Angaben dazu, wie hoch die Ersparnisse angesichts der bereits tiefen Zahlen obdachloser Sans-Papiers in Bern seien, will die GSI allerdings nicht machen. «Für die Nennung von Zahlen zu eventuell möglichen Einsparungen ist es noch zu früh.» Auch ob der Kanton obdachlose Sans-Papiers bloss in andere Städte verdränge, könne man nicht sagen. Man wisse bloss von den Zugangskriterien zu Notschlafstellen in zwei anderen Kantonen. Und diese seien tendenziell höher.
Sind der Stadt die Hände gebunden?
Doch so unproblematisch wie Stadt und Kanton ihre neue Bestimmung darstellen, ist sie keineswegs. Denn auch die Demokratischen Jurist*innen Bern kritisieren Stadt und Kanton Bern deutlich.
«Klar ist, dass eine Beschränkung des Zugangs zu Notschlafstellen für Personen ohne Aufenthaltsrecht, die sich in einer Notlage befinden, unzulässig wäre, denn Artikel 12 der Bundesverfassung ist bereits ein Minimalstandard. Praktisch jede zusätzliche Einschränkung stellt einen Eingriff in den Kernbereich dieses Artikels dar.» Die Bestimmung der Stadt, wonach die Aufnahme von Personen ohne legalen Aufenthalt in der Schweiz auf «begründete Einzelfälle» beschränkt werden soll, könne demnach gegen die Bundesverfassung verstossen.
Eine Notlage bestehe bereits dann, wenn eine Person nicht über die Mittel verfügt, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind. Sie sei also nicht nur dann gegeben, wenn sich eine Person in einer «lebensbedrohlichen Situation» befindet. Es sei zudem juristisch unklar, wie eine «lebensbedrohliche Situation» auszulegen wäre und inwiefern diese sich von einer Notlage unterscheide.
Wollte sich die Stadt Bern der Auflage des Kantons entledigen, müsste sie selber bezahlen. Denn die Auflagen gelten hauptsächlich für die Gelder, die der Kanton der Stadt zahlt. Vom Stadtberner Sozialamt heisst es dazu: «Werden die Auflagen nicht eingehalten, hat der Kanton die Möglichkeit, die Eingabe der Kosten in den Lastenausgleich zu verweigern. Damit müsste die Stadt die getätigten Ausgaben für die Angebote im Bereich Wohnen/Obdach selbst zahlen bzw. müsste diese allenfalls auf die Trägerschaften der Angebote abwälzen, die dann auf einem existenzbedrohenden Defizit sitzen blieben.»
Wo Stadt und Kanton egal sind
Juristische Details sind an einem kalten Dezemberabend in der Notschlafstelle «Sleeper» beim Henkerbrünnli ganz weit weg. Ueli Schürch sitzt im Keller des «Dead End» auf dem knallroten Ledersofa neben Billardtisch und Töggelikasten und sagt: «Was Stadt und Kanton denken, ist mir herzlich egal, wenn einer spätabends mit einem Zettel mit unserer Adresse drauf vor dem Haus steht. Wenn es ans Läbige geht, musst du deinem Gewissen folgen. Und nicht der Regierung.» Schürch ist einer von vielen, die sich in der Notschlafstelle «Sleeper» beim Henkerbrünnli für Obdachlose einsetzen. Zwischen 15 und 30 Personen kommen an die wöchentliche Sitzung und krampfen in Schichten im Betrieb.
Als einzige Berner Notschlafststelle hat der «Sleeper» keine Leistungsvereinbarung mit der Stadt. «Wir schauen auf uns selber, mit sehr viel Selbstausbeutung. Ehrenamtliche Arbeit wäre das Gymer-Wort dafür.» Die Notschlafstelle funktioniert seit bald 30 Jahren. Das Konzept ist einfach: Wer im «Sleeper» übernachten will, gibt seinen Namen an und bezahlt fünf Franken. Wer nicht gut riecht, muss duschen. Dafür gibt es hier Wärme und Ruhe von den Strapazen der Strasse. Die Gassenküche öffnet um 18 Uhr. Um 10 Uhr morgens muss man das Haus wieder verlassen.
Die Betten sind auf drei Zimmer verteilt: Acht Betten für Ausländer, je sechs Betten für Schweizer und Frauen. Wer ein bisschen Privatsphäre will, kann einen Vorhang ums Bett ziehen. Ganz alleine ist man nur auf der Toilette und in der Dusche.
Schürch merkt bisher nicht, dass mehr Menschen im «Sleeper» übernachten wollen. Aber im Winter sei es ohnehin immer voll hier. «Wir haben noch einen Stapel Matratzen, die können wir auslegen. Bei diesen Temperaturen ist es draussen schon ruppig. Da ist es besser, wir lassen die Menschen hier drin liegen.»
Aber klopfen nun vielleicht nicht doch mehr Sans-Papiers an ihre Tür, da sie an anderen Orten weniger willkommen sind?
Schürch überrascht die Frage. «Das kann ich unmöglich sagen, uns interessiert ja nicht mehr als der Name. Und wenn schon: Wer es bis hierhin geschafft hat, soll ganz sicher nicht bei uns auf der Strasse erfrieren.»
Ohne Dich geht es nicht
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Das unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Das geht nur dank den Hauptstädter*innen. Sie wissen, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht und ermöglichen so leser*innenfinanzierten und unabhängigen Berner Journalismus. Dafür sind wir sehr dankbar. Mittlerweile sind 2’700 Menschen dabei. Damit wir auch in Zukunft noch professionellen Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 3’000 – und mit deiner Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die «Hauptstadt» und für die Zukunft des Berner Journalismus. Mit nur 10 Franken pro Monat bist du dabei!
Ohne Dich geht es nicht
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Das unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Das geht nur dank den Hauptstädter*innen. Sie wissen, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht und ermöglichen so leser*innenfinanzierten und unabhängigen Berner Journalismus. Dafür sind wir sehr dankbar. Mittlerweile sind 2’700 Menschen dabei. Damit wir auch in Zukunft noch professionellen Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 3’000 – und mit deiner Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die «Hauptstadt» und für die Zukunft des Berner Journalismus. Mit nur 10 Franken pro Monat bist du dabei!