Die schlaflose Klimaverhandlerin
Gabriela Blatter pendelt zwischen internationalen Klimakonferenzen und dem Berner Stadtrat. Pausen und Grenzen kennt sie kaum.
Kein Kalenderspruch kann einem Menschen gerecht werden. Doch auf der Postkarte, die Gabriela Blatter von ihren Stadtrats-Kolleg*innen erhalten hat, steht die Essenz von Blatters Alltag in gelben Buchstaben auf rosa Grund geschrieben: «Schlaf ist sowieso überbewertet».
Gabriela Blatter hat ein Bild der Postkarte im September 2021 auf ihrem Instagram-Profil geteilt. An einem Abend, an dem die GLP-Politikerin in einer Sitzung des Berner Stadtrats sitzt, gleichzeitig an einem Online-Meeting für die Arbeit teilnimmt und Winterkleider für ihren damals zweijährigen Sohn bestellt. So steht es unter dem Bild. «Multitasking», kommentiert Blatter, 37-jährig, die Szene beim Treffen mit der «Hauptstadt», «es geht nicht anders.» In ihrer Stimme schwingt keine Bitterkeit, sondern ein herzliches Lachen.
Hier spricht ein Mensch, der sich selbst nicht allzu wichtig nimmt. Hier spricht aber auch ein Mensch, der gerne bis zum Umfallen arbeitet, inhaltlich Kante zeigt und Verantwortung als Meinungsführerin übernimmt. Ob an globalen Klimakonferenzen oder in der Stadtberner Lokalpolitik.
2008 hat Gabriela Blatter ihr Chemiestudium an der ETH Zürich mit Bestnoten abgeschlossen. Eine hochdekorierte Forscherinnenkarriere schien vor ihr ausgerollt. Doch den Preis für das Eintrittsticket – die Dissertation – war Blatter nicht bereit zu zahlen. «Ich wollte nicht vier Jahre lang allein mit meinen Glasflaschen und Pülverchen im Labor sitzen. Dazu bin ich viel zu kommunikativ.»
In ihrem Umfeld löste dieser Entscheid viel Empörung aus. Zumal neun von zehn Chemieabgänger*innen der ETH eine Dissertation schreiben. «Die Professoren prophezeiten Horrorszenarien. Sie sagten mir, ich werfe meine Zukunft weg.» Ihre Prognose: Gabriela Blatter werde arbeitslos sein. Doch Blatter blieb bei ihrem Entschluss und verliess die Hochschule ohne Doktorinnentitel.
In diese Zeit fällt ihr Einstieg in die Parteipolitik. Sachpolitisch war sie bereits engagiert: Während ihres Studiums als Präsidentin des Verbands der Studierenden der ETH und vorher an der Kantonsschule Zug im Schüler*innenparlament.
2004 wurde im Kanton Zürich die Grünliberale Partei gegründet. Die erste Partei in der Schweiz, die Ökologie und Ökonomie verbinde, steht auf der GLP-Website. Und die erste Partei, hinter deren inhaltlichen Profil Gabriela Blatter stehen kann. Blatter verfolgt die Entwicklung der Partei. Wie sie erste Sitze gewinnt in Gemeindeparlamenten, im Zürcher Kantonsparlament und schliesslich 2007 in National- und Ständerat einzieht.
Kurz darauf besuchte Blatter in Zürich ein Treffen auf Ebene Stadtkreis. Gesucht waren Freiwillige, um Flyer in Briefkästen zu verteilen. «Ich kann nicht nein sagen», erklärt Blatter. So sei sie reingerutscht. Später war sie federführend bei der Gründung der Jungen GLP in Zürich und wurde in den kantonalen Vorstand gewählt.
An ihrer Seite war damals Corina Gredig, heute Zürcher GLP-Nationalrätin. Oft hätten sie zusammen Unterschriften gesammelt, erinnert sich Blatter. Bis heute sei die Verbindung eng. So erstaunt es nicht, dass Gredig auf Anfrage der «Hauptstadt» nur lobende Worte für ihre Kollegin findet: «Gaby ist eine superintelligente, energiegeladene Frau, die anpackt und durchzieht. Luege, lose und vor allem mache. Und sie ist dabei immer fröhlich. Gaby redet mit allen. Unvoreingenommen. Überspitzt gesagt: Gaby kann man auch ins Haus der Freiheit von Toni Brunner mitnehmen.»
Yoga und Chemie in Indien
Doch Gabriela Blatter will nicht in der Schweiz bleiben, sondern ins Ausland. Wie sie es schon als Jugendliche der Berufsberaterin erzählt hat. Diese riet der omnibegabten und -interessierten Blatter aber zu einem Studium der Naturwissenschaften.
So reiste Blatter erst nach ihrem Masterabschluss für ein NGO-Praktikum nach Indien. Dort bildete sie, die zuvor selbst das Lehrerinnendiplom erlangt hatte, angehende Lehrer*innen in praktischem Chemieunterricht aus. Daneben begleitete sie ein Projekt zu nachhaltiger Landwirtschaft und schrieb einen Bericht, wie dieses verbessert werden könnte.
In Indien wohnte sie bei einem Arzt und seiner Familie. «Er schwor auf Yoga und nahm mich jeden Morgen um fünf Uhr mit in einen Ashram», erinnert sich Blatter. Als sie zurückkamen, hatte die Schwiegertochter des Arztes jeweils Chai gekocht. «Eine schöne Erinnerung.» Und eine prägende, wie sich zeigen wird.
Während ihres Aufenthalts in Indien führt Blatter einen Blog für Freund*innen und Familie. Zwei Wochen vor der Rückkehr in die Schweiz schreibt sie, dass sie nun einen Job suche. Prompt trifft eine SMS einer ETH-Mitarbeiterin ein. Die internationale Strategie, an der Blatter schon als Studentin mitgeschrieben hat, brauche eine Projektleiterin. So arbeitet Blatter vier Jahre an ihrem Ausbildungsort, «obwohl ich doch in der weiten Welt Erfahrungen sammeln wollte.»
2012 erhält sie ein Mercator-Stipendium und reist nach Manila, der Hauptstadt der Philippinen. Dort arbeitet sie für die Asiatische Entwicklungsbank im Bereich Wasser und Klimaschutz in Städten. Und erhält eine Grundbildung in Verhandlungsführung. Lernt zum Beispiel die Regel, dass alle Teilnehmer*innen einer Verhandlung einen zumindest kleinen Gewinn vom Tisch mitnehmen müssen: Making the pie bigger. Oder: Die Sachebene von der persönlichen trennen. «In der Sache muss man hart bleiben, persönlich aber nicht.»
Blatter möchte in Manila bleiben, ihr Partner jedoch nicht dort hinziehen. Also sucht sie Jobs in der Schweiz. Bereits eine der ersten Bewerbungen ist ein Erfolg. «Ich bin die erste Person, die durch das Bundesamt für Umwelt virtuell eingestellt wurde», so Blatter. Weil sie während des Auswahlverfahrens noch in Manila weilte, schlug sie dem Bafu Videotelefonate vor, die sie schon kannte aus ihrer Arbeit an der ETH.
Wenig Schlaf, dafür viel Kaffee und Datteln
Zehn Jahre ist das her, und Blatter staunt manchmal selbst, dass sie so lange am gleichen Ort verweilt. Sie, der es so schnell langweilig wird. Doch ihr Job sei spannend. Sie ist zuständig für die internationale Umweltfinanzierung. Darunter fallen Finanzierungsmechanismen von Umweltkonventionen, denen die Schweiz beigetreten ist. Blatter begleitet die Weiterentwicklung dieser Konventionen, wie etwa dem Pariser Klimaabkommen. Mit der Beförderung nimmt die Verantwortung zu. Ausserdem ist sie pro Jahr rund vier Monate auf Dienstreise im Ausland.
Im November war sie an der Uno-Klimakonferenz (COP27) im ägyptischen Scharm El-Scheich. Zwei Wochen Verhandlungen, zwei Wochen Schlafmangel. In der intensivsten Phase dauern die Sitzungen bis spät in die Nacht, ja gar bis in die Morgenstunden. Um sieben Uhr klingelt bereits wieder der Wecker. In sogenannten Pausen und während des Essens finden Absprachen statt. «Wir arbeiten jeweils fast durch an diesen Konferenzen.» Wach halten sie Kaffee, Zigaretten und Datteln.
Blatter beeindruckt in ihrer Rolle als Verhandlerin für die Schweiz. Bundesrätin Simonetta Sommaruga attestiert ihr in einem Instagram-Post «Verhandlungsgeschick» und «Durchsetzungsstärke». Und auch ihr Chef, Umweltbotschafter Franz Perrez, lobt Blatter: «Gabriela ist nicht nur fachlich beeindruckend kompetent und effizient, sie ist gleichzeitig auch menschlich offen, positiv, ehrlich und verbindlich. Das macht sie zu einer respektierten und geschätzten Verhandlerin», schreibt er auf Anfrage der «Hauptstadt».
Die Erinnerungen an die COP27 dimmen das Leuchten in Blatters Augen und die Begeisterung in der Stimme. «Da arbeitest du so viel, bist weg von daheim, von der Familie. Und dann überzeugt das Resultat der Konferenz nicht. Ich bin sehr ernüchtert.» An dieser Stelle im Gespräch äussert Blatter das erste Mal Zweifel an Aufwand und Ertrag ihrer Tätigkeit.
Die Ergebnisse der COP27 werden von vielen Wissenschaftler*innen als enttäuschend gewertet: An der Konferenz wurde ein Fonds eingerichtet, der Entwicklungsländer für die Folgen des Klimawandels entschädigen soll. Jedoch bleibt offen, welche Länder Beiträge leisten sollen und wie die Gelder verteilt werden. Das Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, konnte nur knapp gehalten werden. Zudem fehlt ein konkreter Plan zu dessen Erreichung.
Die Stimme der Schweiz habe viel Einfluss bei solchen Konferenzen, sagt Blatter. «Aber was ich als Individuum verändern kann, ist schwierig einzuschätzen.» Vorerst macht sie weiter. «Die Verhandlungen würden mir fehlen, wenn ich sie nicht mehr hätte. Mein Chef sagt, das Verhandeln mache süchtig. Das kann ich bestätigen.»
Dazu kommt, dass Blatter hinter dem System stehen kann, auch wenn es träge ist und nur in kleinen Schritten auf Fortschritt zusteuert. Weil es fordert, dass viele Staaten zusammenkommen und sich auf einen Kompromiss einigen. «Klar ist das manchmal deprimierend. Doch ich habe noch kein besseres System gefunden.»
Das Dilemma: Grosse Player wie die USA, China und Saudi-Arabien setzen niemals Regeln um, die ohne ihre Zustimmung zustande gekommen sind. Gleichzeitig passiert kein Fortschritt, wenn genau diese Länder nicht handeln. «Leider bremsen die grossen Player bei den Verhandlungen. Aber wenn sie nicht am Tisch sitzen, können wir das Klimaproblem erst recht nicht lösen.»
Hoffnung bereitet ihr die nachrückende Generation von Staatsvertreter*innen: «Die jüngeren Leute sind völlig anders drauf. Ihnen ist viel stärker bewusst, welche Auswirkungen der Klimawandel hat.» Das Problem: «Wenn sie nachrücken, könnte es bereits zu spät sein.»
Für Yoga fehlt die Zeit
Wenn Gabriela Blatter an eine Konferenz reist, hat sie stets ihre Yogamatte im Gepäck. Seit ihrem Aufenthalt in Indien hat Yoga sie nicht mehr losgelassen. «An meinen ersten Konferenzen konnte ich kaum schlafen. Im Bett liegend verhandelte ich in meinem Kopf weiter.» Yogaübungen hätten ihr geholfen, ihren Geist zur Ruhe zu bringen.
Nachdem sie für ihren Job beim Bafu nach Bern gezogen war, besuchte sie pro Woche vier bis fünf Yogastunden. 2019 schloss sie ihre Ausbildung zur Yogalehrerin ab und unterrichtete eine Weile in einem Studio in Bern.
Bald aber verändern die Geburt ihres Sohnes und die Pandemie den Rhythmus ihres Alltags. Für Yoga ist plötzlich kein Platz mehr. «Es fehlt mir. Ich fühle mich immer so gut nach einer Stunde. Ab und zu schreiben mir meine Lehrerinnen, dass sie mich vermissen.» Doch es liege im Moment nicht drin, Yogaklassen in einem Studio, die rund 75 Minuten dauern, zu besuchen: «In meinem Alltag finde ich nicht regelmässig zwei Stunden für mich allein.»
Zwischen Beruf und Politik
Neben dem Job beim Bafu und ihrer Familie ist Gabriela Blatter in die Politik eingespannt. Keine drei Wochen habe sie in Bern gelebt, da wurde sie bereits von der städtischen GLP zum Kaffee eingeladen. Nein sagen fällt ihr immer noch schwer, und so ist sie rasch Mitglied im Vorstand, von 2017 bis 2022 Parteipräsidentin. Seit 2018 sitzt sie im Berner Stadtrat. Mehrere Male kandidierte sie für Gross- und Nationalrat, «als Listenfüllerin im Mittelfeld», wie sie sagt.
Die Partei bot ihr jeweils Plätze weiter oben auf der Liste an, doch Blatter lehnte ab. Als Mitglied im Gross- oder Nationalrat müsste sie ihren Job beim Bafu kündigen. Das Pensum wäre zu gross, die Teilnahme an den Sessionen nicht vereinbar mit den Dienstreisen. Und Angestellte der Bundesverwaltung dürfen nicht im eidgenössischen Parlament sitzen – sie würden sich selbst beaufsichtigen.
Überhaupt, die Dienstreisen. Wegen ihnen sammelt Blatter im Stadtrat Absenzen en masse. Doch aufgeben will sie ihren Sitz nicht. Da ist zum einen die Partei, die sie nicht ziehen lassen will. «Sie schätzen mein Fachwissen im Klimabereich. Und als Angestellte in der Verwaltung kenne ich die politischen Prozesse auf der Gegenseite des Parlaments.»
Und auch ihr selbst bereitet das Amt Freude. «Ich finde es spannend zu sehen, wie internationale Verträge wie das Pariser Klimaübereinkommen auf lokaler Ebene umgesetzt werden.» Auf internationaler Ebene wiederum helfe ihr die Erfahrung aus der Lokalpolitik. Bei Verhandlungen über abstrakte Bestimmungen in den Abkommen mahnt Blatter, die Perspektive der tatsächlichen Umsetzung nicht zu vergessen.
«Gaby ist keine laute und polemische Stadträtin. Sie tritt vor allem bei Klimathemen engagiert und mit viel Fachkompetenz auf und argumentiert immer sehr sachlich. Ich nehme sie als eine sehr angenehme Kollegin wahr.» Das sagt Stadträtin Ursina Anderegg vom Grünen Bündnis (GB) auf Anfrage.
Eine Zusammenarbeit zwischen Anderegg und Blatter kam während der Vernehmlassung zum städtischen Klimareglement zustande. Sie und ihre Parteien waren sich einig, dass das Reglement verschärft werden soll, zum Beispiel im Bereich der Absenkpfade und der Finanzflüsse. Aber: «Sobald es um die konkrete Umsetzung geht und es was kostet, ist dann bald mal Schluss mit ihrem Engagement – leider nicht überraschend als Mitglied der neoliberalen GLP.»
Gabriela Blatter legt grossen Wert darauf, ihre Rolle als GLP-Politikerin von jener als Bafu-Mitarbeiterin zu trennen. «Im Job handle ich gemäss der Haltung des Bundesrates. Was ich persönlich denke, ist nicht relevant.»
Nach dem Treffen mit der «Hauptstadt» in der Kantine des Bafu beim Monbijou bricht Gabriela Blatter auf ins Bundeshaus. Zum ersten Mal sitzt sie auf dem «Bänkli», während Umweltministerin Simonetta Sommaruga im Ständerat spricht. Bei Fragen zum Geschäft – ein Kredit für die Einzahlung in einen Umweltfonds – würde Blatter Sommaruga per SMS unterstützen. Später, um 23 Uhr, steht für Blatter eine weitere Online-Sitzung an. Viel Schlaf liegt auch in dieser Nacht nicht drin.