Die Kraft der eigenen Stimme
Das Projekt «Stimmen geflüchteter Frauen» will geflüchteten Frauen in der Schweiz eine Plattform geben und ihre Situation ändern, zum Beispiel bei der Unterbringung in Asylzentren. Zu Besuch bei Leiterin Tahmina Taghiyeva, die selbst eine Fluchtgeschichte mitbringt.
Ein Kater namens Piru ist inoffizieller Herr eines Büros im Breitenrain mit farbigen Postern und Secondhand-Sofas. Piru schleicht Tahmina Taghiyeva nach, die gerade in den Garten geht. Sie beugt sich zu ihm herab, streichelt sein gräulich-braunes Fell. «Seit ich ihn einmal gefüttert habe, folgt er mir überall hin.» Die Menschenrechtsaktivistin lacht und schaut dem Kater zu, wie er durch die Blumenwiese streift.
Diese kleine Oase mitten in Bern ist der Sitz von Brava, der ehemaligen Terre des Femmes. Die nicht profitorientierte Organisation setzt sich gegen Gewalt an Frauen und Sexismus in der Schweiz ein. Tahmina Taghiyeva leitet seit Juni 2022 das Projekt «Stimmen geflüchteter Frauen».
Wie der Name sagt, will das Projekt den geflüchteten Frauen in der Schweiz eine Stimme geben und ihre Situation ändern. Sie sollen eine Plattform erhalten, um die Politik und die Öffentlichkeit auf ihre Rechte und Bedürfnisse aufmerksam zu machen. «Ich erkenne in den Geschichten anderer auch immer meine eigene», sagt Tahmina Taghiyeva.
Die Anfänge
Das Projekt gibt es seit 2020. Zu Beginn war Tahmina Taghiyeva selbst als Teilnehmerin dabei. Die ehemalige Journalistin und Menschenrechtsaktivistin lebt seit acht Jahren im politischen Exil in Bern. 2015 war sie aus Aserbaidschan in die Schweiz gekommen, hatte trotz ihrer guten Ausbildung keine Jobchancen. Durch Stiftungen unterstützt, begann sie 2017 den Masterstudiengang Public Management and Policy an der Universität Bern. Heute ist sie zu 60 Prozent fest angestellt bei Brava und in ihrer Freizeit als Aktivistin für Menschenrechte unterwegs.
Mit der Kerngruppe, die aus fünfzehn Frauen besteht, trifft sie sich alle vier bis sechs Wochen. Dann planen die Teilnehmerinnen des Brava-Projektes zusammen Aktivitäten wie beispielsweise Podiumsdiskussionen mit Politiker*innen aus der Stadt Bern. So können die Frauen, obwohl sie kein Stimmrecht in der Schweiz besitzen, in der Politik mitreden, sie verstehen lernen und ihre eigenen Anliegen einbringen.
Unterstützt wird Taghiyeva in der Leitung von ihren beiden Kolleginnen Fatma Leblebici und Marwa Younes, die auch Fluchterfahrungen mitbringen. Für sie alle war es wichtig, einen Ort zu schaffen, an dem sich die Teilnehmerinnen wohlfühlen und ernst genommen werden. Im Kreis sprechen die Frauen über ihre aktuellen Lebenssituationen in der Schweiz und die Spuren, die die Flucht bei ihnen hinterlassen hat.
Zum Beispiel Selvije Braha, die jetzt neben Tahmina Taghiyeva auf dem Sofa aus grünem Brokat im hintersten Zimmer des Büros Platz nimmt. Sie ist seit letztem Sommer Teil der Kerngruppe. Ihr grüner Trainingsanzug leuchtet und ihre Stimme hat einen warmen Klang, als sie spricht.
«An diesem Ort hört man mir zu. Das passiert sonst nicht oft», erzählt die zehnfache Mutter. Sie fühlt sich im Alltag immer wieder diskriminiert. Im Asylzentrum, im Spital, bei der Ärztin. «Laut ihnen gehöre ich nicht hierher. Deshalb landet meine Krankenakte immer zuunterst im Stapel und im Asylzentrum hören mir die Mitarbeitenden nicht richtig zu, wenn ich auf meine Probleme aufmerksam machen will.»
Problematik Asylzentren
Selvije Braha lebt seit vier Jahren in der Schweiz. Aufgrund häuslicher Gewalt ist sie mit ihren zehn Kindern aus ihrem Heimatland Serbien geflohen. In der Schweiz hat sie Schutz gesucht und ist in ein Asylzentrum in Bern gekommen. Dort leben viele Frauen, die in ihrem Leben verschiedene Arten von Gewalt, meistens durch Männer, erlebt haben – psychisch, körperlich, sexuell.
Im Zentrum, in dem Selvije Braha lebt, sind die Duschen der Frauen und Männer direkt nebeneinander situiert. Es gibt keine getrennten Stöcke. Keinen Safe Space für Frauen in diesem grossen Haus. Silvije hat oft Angst, in der Nacht hinaus zu gehen. Angst vor betrunkenen Männern, die sie im Dunkeln anfassen.
«Die Strukturen in den Asylzentren produzieren Gewalt und retraumatisieren Menschen», sagt Tahmina Taghiyeva. Sie streichelt Selvije Braha vertraut über den Arm. Es ist einer der Schwerpunkte, worauf sich «Stimmen geflüchteter Frauen» fokussiert: Die Situation in den Asylzentren. Tahmina macht Selvije Mut. Sie soll laut sein. Ihre Stimme hören lassen.
Aktionswoche gegen Rassismus
Die Idee von Taghiyeva ist, dass die Teilnehmerinnen mit der Zeit beginnen, die Treffen selbst zu leiten und immer mehr selbst die Initiative zu ergreifen. So spricht Selvije Braha etwa am 25. März im Restaurant Dock 8 über das Thema Gewalt an Frauen und führt danach eine Podiumsdiskussion. Diese findet im Rahmen der Aktionswoche der Stadt Bern gegen Rassismus statt, die momentan schon zum 13. Mal durchgeführt wird.
«Es ist wichtig, dass viele Menschen zusammenkommen, die dasselbe Thema betrifft», sagt Taghiyeva. Ihr ist es ein Anliegen, dass Projekte wie ihres mehr Aufmerksamkeit erlangen. ‹Stimmen geflüchteter Frauen› ist kein Projekt mit Geflüchteten, sondern eines von Geflüchteten», sagt sie.
Oftmals würden andere für sie in der Öffentlichkeit sprechen. Oftmals fühle sie sich als Objekt. Als eine grosse, wabernde Masse. Keine Menschen dahinter, nur «sie». Die Geflüchteten.
Die Stimme von Taghiyeva ist bei diesen Worten lauter geworden. Es klingt wie etwas, das tief in den Gliedern sitzt. Hinter Tahmina Taghiyeva knallt ein Brett von der Wand. Darauf ein alter Zeitungsausschnitt aus der «Berner Zeitung», 2019, «Das neue Parlament». Taghiyeva wirft einen Blick darauf, lacht leise und sagt «so viele Männer». Dann stellt sie das Brett zurück an die Wand.
Blick nach vorne
Letztes Jahr war die Gruppe «Stimmen geflüchteter Frauen» in Berlin. Zu Besuch bei «Women in Exile», einer Organisation von geflüchteten Frauen, die sich für andere mit Geschichten wie ihren einsetzen. Sie existiert in fast jeder grösseren Stadt Deutschlands. Taghiyeva und der Rest der Gruppe waren inspiriert von der Stärke der Frauen und der Reichweite, die sie durch das Einsetzen ihrer Stimmen erreicht haben. «Es ist unser Ziel, einmal die gleiche Wichtigkeit in der Schweiz zu erlangen, wie ‹Women in Exile› es in Deutschland geschafft hat», sagt die Menschenrechtsaktivistin bestimmt.
Ob sie sonst noch ein Ziel haben? «Ich hoffe, wir bleiben stark. Ich hoffe, wir können laut sein», sagt sie und schaut dabei Silvije Braha neben ihr an. «Möchtest du heute noch etwas länger hier bleiben?», fragt Tahmina. Diese nickt. Silvije Braha ist froh, wenn sie so viel Zeit wie möglich ausserhalb des Asylzentrums verbringen kann.
Aus einer Ecke blinzelt Piru die beiden an. Während der Kater den ganzen Tag vor sich hin döst, machen Tahmina Taghiyeva, ihre Kolleginnen und Teilnehmerinnen des Projekts sich daran, dass die Stimmen der geflüchteten Frauen in der Schweiz Gehör finden und nachhallen.