Die Nothilfe gibt zu reden

Der Kanton Bern muss überdenken, welche Rechte er abgewiesenen Asylsuchenden zugesteht. Am Mittwoch debattiert der Grosse Rat darüber, wie weit der Kanton gehen soll.

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Illustration (Bild: Silja Elsener)

Die Herbstsession des Grossen Rates ist seit Montag im Gang. Am Mittwoch prominent auf der Agenda: Wie soll der Kanton Bern mit abgewiesenen Asylsuchenden umgehen?

«Was der Kanton bisher umgesetzt hat, ist zu wenig», sagt SP-Grossrätin Edith Siegenthaler. Sie ist als Vize-Präsidentin der kantonalen Sicherheitskommission mit dem Thema vertraut. 

Für Siegenthaler ist klar: Besonders Kinder und Jugendliche, die im Kanton Bern von der Nothilfe leben, brauchen mehr staatliche Leistungen für ein menschenwürdiges Leben. Die Unterkünfte speziell für Familien und Frauen, die der Kanton kürzlich eröffnet hat, reichen ihrer Meinung nach nicht aus. «Kinder gehören nicht in ein Rückkehrzentrum», sagt sie.

Die Vorgeschichte

Im Februar 2022 wurde der Kanton Bern kritisiert. Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) veröffentlichte einen Bericht, der vom Kanton selber in Auftrag gegeben worden war. Inhalt: Die Überprüfung der kantonalen Rückkehrzentren. Dort werden abgewiesene Asylsuchende untergebracht, die rechtskräftig aus der Schweiz weggewiesen wurden, oft jedoch nicht ausgeschafft werden können. Sie sind von der Sozialhilfe ausgeschlossen und erhalten lediglich Nothilfe.

Die NKVF besuchte 2021 die Zentren in Aarwangen, Gampelen und Biel und untersuchte die Lebensbedingungen der Bewohnenden auf ihre Grund- und Menschenrechtskonformität. 

Das Resultat der Untersuchung: Besorgniserregend. Einen Fokus legte die Kommission auf die Lebensumstände von Kindern und deren Familien. Und kam zum Schluss, dass diese nicht mit der UNO-Kinderrechtskonvention vereinbar sind. 

Mittlerweile hat der Kanton Bern zwei neue Rückkehrzentren speziell für alleinstehende Frauen und Familien in Betrieb genommen: eines in Enggistein bei Worb (die «Hauptstadt» berichtete), das andere in einem ehemaligen Spital in Bellelay. Das Rückkehrzentrum in Biel-Bözingen wurde per Ende Juli geschlossen. Der Kanton betont, spezielle Familienzentren bereits vor dem Bericht der NKVF geplant zu haben. 

Aufgrund der Empfehlungen, die die NKVF in ihrem Bericht formulierte, hat der Regierungsrat ausserdem kürzlich eine Erhöhung des Nothilfebetrags von 8 auf 10 Franken pro Tag beschlossen. Diese tritt ab November in Kraft. Und neu wird die Nothilfe auch Personen ausbezahlt, die bei Gastfamilien leben. 

Weitere Massnahmen, die die NKVF empfohlen hatte – etwa eine generelle Unterbringung von ausreisepflichtigen Familien in Wohnungen – lehnt die kantonale Sicherheitsdirektion aber ab.

Auch in der Politik zeigte der Bericht seine Wirkung: Neun Vorstösse gingen seit Februar im Grossen Rat zum Thema ein. Am Mittwoch wird an der Herbstsession über fünf Motionen debattiert. Werden sie den Kanton Bern zu weiteren Massnahmen verpflichten?

Links bis rechts fordern Besserstellung 

Ein Zusammenschluss von SP, Grüne, Die Mitte und EVP fordert eine Erhöhung der Nothilfe von 8 auf 12 Franken.  

Drei weitere Motionen beziehen sich auf Empfehlungen, die die NKVF in ihrem Bericht formuliert hat: 

Die SP will eine generelle Unterbringung von Familien mit Kindern in Wohnungen statt in Rückkehrzentren, sowie einen Leitfaden für die Einhaltung der Menschenrechte für Menschen in der Nothilfe. 

Und eine Gruppe aus SP, Grünen, glp, EVP, Die Mitte und der Alternativen Linken fordert «menschenwürdige Bedingungen» für abgewiesene Asylsuchende. Darunter sollen etwa eine Erhöhung des Nothilfebeitrages fallen, mehr Sachleistungen an Menschen in Rückkehrzentren, verschiedene frauen- und kinderspezifische Massnahmen oder ein flächendeckender WLAN-Zugang in Rückkehrzentren. 

Schliesslich verlangen EVP, SVP, Die Mitte und glp einen sogenannten Personalbrief für abgewiesene Asylsuchende ohne Rückkehrmöglichkeit. Dieser soll den Kanton vor unnötigen Kosten schützen: Indem abgewiesenen Asylsuchende ohne Rückkehrmöglichkeit ein Personalbrief ausgestellt wird, den sie bei Kontrollen vorweisen können, soll vermieden werden, dass sie wegen ihres illegalen Aufenthaltes angehalten und in Gerichtsverfahren verurteilt werden. Interessant an diesem Vorstoss ist, dass selbst von bürgerlicher Seite von «Personen in einer ausweglosen Situation» gesprochen wird, die «keine Rückkehrmöglichkeit» haben – wird doch gerade die Möglichkeit zur Rückkehr in den Herkunftsstaat oft als Argument gegen eine Besserstellung von Personen in der Nothilfe angebracht. 

Schwerer Stand

Der Regierungsrat beantragt die Ablehnung sämtlicher Motionen. Doch wie stehen die Chancen im Grossen Rat?

«Eine Mehrheit zu erreichen, wird für die Vorstösse schwierig – obwohl wir das natürlich versuchen werden», sagt Edith Siegenthaler. Auch wenn die Motionen nicht ausschliesslich von linken Parteien unterstützt werden, sei eine Mehrheit im Grossen Rat schwer zu erreichen.

Doch die SP will an ihren Forderungen festhalten – die vom Kanton bereits getroffenen Massnahmen seien unzureichend. 

Gerade mit der Teuerung seien auch 10 Franken Nothilfe pro Tag noch zu wenig. 

«Und ganz besonders muss die Situation von Kindern und Jugendlichen verbessert werden.» Dass der Kanton neue Zentren für Familien und alleinstehende Frauen eröffnet habe, verbessere vor allem die Sicherheit, etwa dank getrennten sanitären Anlagen. «Aber es sind immer noch Zentren. Und die bieten keine gute Umgebung für die Entwicklung von Kindern», sagt sie. Etwa wegen der engen Platzverhältnisse, die kaum Privatsphäre ermöglichen, oder dem oft wechselnden Umfeld. 

Dabei gelte das Argument, dass die abgewiesenen Personen freiwillig hier seien und zurückkehren könnten, für Kinder definitiv nicht: «Sie haben keine Wahl.» Deshalb sei entgegen der Haltung der Sicherheitsdirektion nur die Unterbringung von Familien in Wohnungen eine geeignete Lösung, wie dies etwa der Kanton Basel-Stadt bereits praktiziert. 

«Ich bin überzeugt, dass vielen Menschen im Kanton Bern nach wie vor nicht bewusst ist, wie dieser mit Menschen mit einem negativen Asylentscheid umgeht», sagt Edith Siegenthaler. «Darauf aufmerksam zu machen ist nötig – auch im Grossen Rat.»

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