Sie nannten ihn «Sausage»

Vor ihren Bildschirmen sind sie Tausende Kilometer zusammen gefahren – nun treffen sich Velofahrer*innen aus ganz Europa für eine reale Ausfahrt in Bern. Auch, um eines Verstorbenen zu gedenken.

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Berner Agglo statt Watopia – die Zwift-Gruppe bei einer ihrer Berner Ausfahrten. (Bild: Niklas Eschenmoser )

Mathias Wälti hätte an diesem Sonntagmorgen, an dem der Wind eisig um die Ecke pfeift, auch einfach auf seinen Velotrainer steigen können. So wie er das schon tausendfach getan hat: Licht anknipsen im Schöpfli, Computer anschalten, auf das Velo steigen und eine digitale Ausfahrt auf der Plattform Zwift auswählen, Kilometer abspulen. Eine bewährte Routine.

Doch das ist kein normaler Sonntagmorgen. Wälti hat 25 in Funktionswäsche gezwängte Menschen bei sich im Wohnzimmer stehen. Sie bedienen sich an einem Frühstücksbuffet, das er aufgebaut hat. Um halb sechs ist er dafür aufgestanden und hat Züpfe, Käse, Trockenfleisch, Honig und Haferflocken hergerichtet. Alles, was das Velofahrer*innen-Herz begehrt, bevor es auf eine lange Ausfahrt geht. 

Wälti will mit der Gruppe an diesem Tag den Aufstieg zur Grossen Scheidegg wagen – eine der spektakulärsten Velo-Strecken im Kanton Bern. Seine Mitfahrer*innen kommen aus Grossbritannien, Deutschland, Frankreich, Italien, Dänemark, Norwegen und der Schweiz.

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Wälti und seine Mitfahrer*innen haben die Icons, welche sie aus der digitalen Welt kennen, kurzerhand über Ballons in die echte Welt transferiert. (Bild: Niklas Eschenmoser )

Was sie alle vereint: Daheim fahren sie normalerweise nicht über richtige Pässe. Sondern sie setzen sich in der Küche, im Keller oder eben im Schöpfli auf ihr Rennrad, das auf einen sogenannten Smart-Trainer montiert ist. Sie fahren zwar Velo, doch ohne sich vom Fleck zu bewegen. Sie starren dabei nicht an die Wand vor ihnen. Sondern auf einen Bildschirm, der sie virtuell steile Alpenpässe hochkeuchen und wild wieder herunterrasen lässt. Der Computer gesteuerte Smart-Trainer kann dabei auch die Schwierigkeit der Strecke simulieren. Der Clou dabei: Je nachdem, wie schnell und stark man pedaliert, bewegt sich auch der eigene Avatar durch die digitale Welt, in der sich Mitfahrer*innen aus der ganzen Welt tummeln. 

Der Name der Plattform: Zwift. Das 2014 in Kalifornien gegründete Unternehmen verfügt über eine Million aktive Nutzer*innen weltweit – die Corona-Pandemie mit ihren Ausgangsbeschränkungen sorgte für einen Boom. Seither ist der Begriff «zwiften» international etabliert..

Beim Schweizer «Gathering», wie die Zwifter*innen ihr Beisammensein nennen, fahren die Teilnehmer*innen an drei Tagen im Seeland, am Thunersee und dem Oberland auf echten Velos über echte Strecken. Ausserdem dient der Anlass dazu, einem verstorbenen Kollegen zu gedenken. Doch dazu später mehr. 

Die Welt spricht «Zwift»

Mathias Wälti zwiftet schon seit 2017. Damals habe er mehr daheim sein wollen und trotzdem ein sportliches Hobby betreiben, sagt er. Ein Nutzer*innenprofil, das häufig auf der Plattform anzutreffen ist.

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Von wo kommt der Wind? Auch dafür gibt es ein digitales Helferlein. (Bild: Niklas Eschenmoser )

Der Informatiker Wälti beschreibt seine Lieblingsbeschäftigung so: «Zwift ist eigentlich ein Videospiel. Nur schiessen wir nicht aufeinander, sondern fahren miteinander Velo. Es gibt auch Level, die man erreichen kann oder neue Gadgets wie Fahrräder, die mein digitaler Avatar benutzen kann.» Wältis Avatar, also sein Alter Ego auf dem Bildschirm, trägt eine rote Afro-Frisur und eine gelbe Sonnenbrille. Es entspricht damit so gar nicht dem Aussehen des 56-Jährigen.

Wälti und seine digitale Velogruppe sind gut organisiert. Sie treffen sich teilweise täglich für digitale Trainings, und es kann vorkommen, dass sie gemeinsam mehr als 100 Kilometer zurücklegen – zusammengeschlossen sind sie im Team Valhalla. Es hat sich ursprünglich in Skandinavien formiert. Heute ist der Club, der weltweit 5000 Mitglieder zählt, in zwei Sektionen unterteilt: Das sind einerseits die Vikings, bei denen man nur mitfahren darf, wenn man eine skandinavische Sprache spricht. Und anderseits: die Valhallas.

Die Ersatz-Familie

Bei ihrem Bern-Gathering starten die 25 Valhallas und Vikings nicht auf dem Velo in den Tag, sondern mit dem Reisecar. Den hat Mathias Wälti zusammen mit der Schweizer Crew, die den Anlass mitorganisiert, in Gümligen aufgeboten. Der Bus chauffiert die Fahrer*innen bis nach Brienz, von wo der Anstieg zur Grossen Scheidegg nicht mehr so weit ist. So viel Komfort muss sein. 

Jan und Majbritt Moesgaard verladen ihre Velos in den Anhänger, der hinter den Bus gespannt ist. Das dänische Paar ist zum ersten Mal in der Schweiz – eine Anfahrt von rund 1000 Kilometern haben die beiden mit dem Auto auf sich genommen. Die Reise nach Mitteleuropa haben sie noch mit einem Ausflug zur Alpe d‘Huez in Frankreich kombiniert. Ein legendärer Velo-Anstieg. «An Zwift reizt uns, dass wir Menschen aus der ganzen Welt treffen können», sagen sie. Ein Freundschaftsnetz entsteht. 

Die Fahrer*innen steigen nicht nur gemeinsam aufs Velo, sondern tauschen sich zusätzlich über Chatplattformen miteinander aus. Beim Treffen in Bern haben viele deshalb schon Gesprächsthemen, die über das Velofahren hinausgehen, und an die sie auch im analogen Leben anknüpfen. Oder in den Worten des Reiseleiters Wälti: «Wenn ich morgens um 6 Uhr ein Training starte, dann treffe ich meine Freunde. Das setzt eine wahnsinnige Motivation frei.» 

Sozialer Druck und Ansporn?

An Motivation mangelt es auch Emmanuel Cros nicht. Der Franzose aus Valence hat im Reisecar Platz genommen. Cros hat letztes Jahr 8’ 000 Kilometer auf Zwift zurückgelegt – grösstenteils, bevor er zu seiner Arbeit als Fahrlehrer geht, wie er erzählt. Insgesamt kamen bei ihm 15’000 Velokilometer zusammen, die übrige Distanz legte er auf der Strasse zurück. Pierre-Alain, der in Uri lebt und in der IT-Branche arbeitet, trainiert häufig zwischen 6 und 8 Uhr morgens mit dem Team. «Stressbewältigung und Ablenkung», sei das, sagt der Franzose. 12 bis 18 Stunden verbringe er pro Woche trainierend auf der Plattform – in Bern sieht er viele seine Mitfahrer*innen zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht. Trotz Text und Ton im Chat mache das alles «realer», findet der Valhalla-Fahrer: «Alles kommt zusammen – zwei Welten verschmelzen.»

Anja Platt aus St. Gallen hat das Treffen mitorganisiert – auch sie springt häufig zwischen diesen Welten hin und her. Sie sei sogar schon von einem Zwift-Gleichgesinnten zu einer Hochzeit eingeladen worden. «Wo immer ich hinreise, ist da oft jemand von Zwift – zum Beispiel in Thailand oder Australien.»

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Treffen sich in dieser Formation zum ersten Mal im echten Leben. (Bild: Niklas Eschenmoser )

Erik Wolla zählt mit 64 Jahren zu den Veteranen der Gruppe und lebt eine Autostunde von Oslo entfernt. Er ist nicht nur in die Schweiz gereist, um neue Landschaften auf dem Velo zu erkunden. Wolla will auch Jason Gregg gedenken. Das Valhalla-Team-Mitglied, den alle nur «Sausage» (englisch für Wurst) nannten, starb vor einem Jahr an Herzversagen – ausgerechnet während einer Zwift-Fahrt auf seinem Hometrainer. «Wir haben hier in Bern zu seinen Ehren grilliert und eine Schweigeminute für ihn abgehalten», sagt Wolla.

In Gedanken an «Sausage»

Mathias Wälti erinnert sich gut an den tragischen Vorfall: «Im Schlussteil des Rennens hat sich sein Avatar nicht mehr bewegt. Später haben wir erfahren, dass er einen Herzstillstand erlitten hat und vom Velo gefallen ist.» Weil Greggs Familie nicht zu Hause war, benachrichtigten Valhalla-Teammitglieder die Ambulanz und fuhren selber los. Letztendlich kam jede Hilfe zu spät. Die Valhalla-Fahrer*innen haben nach dem Tod ihres Weggefährten Vorsichtsmassnahmen eingeführt : «Wir haben jetzt eine Liste mit Notfallkontakten und Notrufnummern der verschiedenen Länder neben unseren Computern liegen», sagt Wälti. 

Ankunft in Brienz. Die Velo-Karawane macht ihre Gefährte parat und startet Richtung Rosenlaui-Schlucht. Wälti wird über die Ausfahrt mit den Zwift-Kolleg*innen später sagen: «Das war reine Werbung für die Schweiz». Angezuckerte Berge, strahlende Sonne und weitgehend autofreie Strassen. Eine Kombination, wie sie selbst die ausgefeilteste Velo-Simulation nicht bieten kann.

Am Abend zurück in Bern planen Wälti und die Gruppe schon das nächste «Gathering». 2025 soll es nach Bergen in Norwegen gehen. Ins Mutterland der Vikings.

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Diskussion

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Martin Wüthrich
23. Oktober 2024 um 05:19

war super spannend und interessant zu lesen.

danke