Sie schweigen nicht mehr
Anne-Lea Portmann und Dominique Hodel haben häusliche Gewalt erlebt. Lange konnten sie mit fast niemandem darüber sprechen. Bis Portmann das Projekt «Sisters DV» gründete, in dem Betroffene sich gegenseitig unterstützen.
Als Anne-Lea Portmann sich von ihrem gewaltvollen Ex-Partner gelöst hatte, zog sie zunächst von Bern nach Wien. Dort gewann sie Abstand, machte ein Masterstudium. Als sie sich stark genug fühlte, kam sie zurück. Sie wollte aufarbeiten, was geschehen war.
«Ich fragte mein damaliges Umfeld, mir dabei zu helfen», erzählt die heute 30-Jährige. Diese Personen hätten die Beziehung mit ihrem Ex-Freund miterlebt, teilweise als Mitbewohner: «Zerschlagene Fenster, kaputte Türen.» Doch niemand war bereit, mit ihr in einen Austausch zu treten. «Sie wollten nichts mit der Sache zu tun haben», sagt Portmann.
Häusliche Gewalt ist kein Randphänomen, sondern weit verbreitet. Fast 40 Prozent aller polizeilich registrierten Straftaten in der Schweiz geschehen im häuslichen Bereich. Mehrheitlich betroffen sind Frauen, mehrheitlich ausgeübt wird sie von Männern.
Im Kanton Bern nehmen registrierte Fälle seit mehreren Jahren zu. Im Jahr 2024 rückte die Kantonspolizei Bern im Schnitt viermal pro Tag wegen häuslicher Gewalt aus. Und im laufenden Jahr wurden in der Schweiz bereits 15 Frauen von Männern ermordet.
Anne-Lea Portmann fühlte sich allein mit der Last ihrer Vergangenheit. In diese Zeit fiel der Prozess zwischen der US-amerikanischen Schauspielerin Amber Heard und ihrem Ex-Mann Johnny Depp. Heard hatte Depp der häuslichen Gewalt bezichtigt, worauf er sie wegen Verleumdung verklagte. Es folgte ein vor der Weltöffentlichkeit ausgetragener Gerichtsprozess – und ein globaler Shitstorm gegen Amber Heard.
«Diese Hexenjagd ist mir sehr eingefahren», erzählt Portmann. Bei ihr machte sich das Gefühl breit: «Wenn du als Frau von Gewalt erzählst, wirst du verspottet». Sie dachte sich: «Wie vielen Frauen muss es gleich ergehen wie mir?»
Parallelen erkennen
Portmann entschloss sich, einen Ort zu schaffen, an dem sich Betroffene austauschen können. Sie informierte sich bei Fachstellen über Peer-Support, also die Unterstützung von Betroffenen durch Betroffene. Sie druckte Plakate und Flyer und verteilte sie in der Stadt, kreierte einen Instagram-Account.
Dann mietete sie ein Yoga-Studio und lud zu einem ersten Treffen ein. Gratis, anonym, unverbindlich. Portmann wusste nicht, ob jemand kommen würde.
Dominique Hodel ging mehrmals an der Eingangstür zum Yoga-Studio vorbei, lief in der Gasse auf und ab, bevor sie sich einen Ruck gab und eintrat.
Die heute 35-Jährige hatte sieben Jahre in einer Beziehung mit einem gewaltvollen Mann gelebt, von Anfang bis Ende 20. «Ich sprach während der ganzen Zeit mit niemandem darüber», erzählt Hodel. Als sie mit schweren Verletzungen ins Spital kam, sagte sie den Ärzten, es sei ein Suizidversuch gewesen. Auch nach Ende der Beziehung lebte sie zunächst zurückgezogen.
Neben Hodel und Portmann erschienen sieben Frauen im Yoga-Studio. Alle hatten häusliche Gewalt erlebt. Für manche, auch für Dominique Hodel, war es das erste Mal, dass sie mit jemandem über ihre Gewalterfahrungen sprachen. Anne-Lea Portmann und Dominique Hodel sagen beide, dieses erste Treffen sei bis heute das intensivste gewesen: «Mir hei nume grännet», erinnern sich die beiden in einem Café in der Berner Altstadt.
Was schon bei diesem ersten Treffen auffällig war: Die Geschichten der Betroffenen und die angewendeten Taktiken der Täter ähnelten sich stark. «Fast, als würde der Missbrauch nach einem Leitfaden stattfinden», erzählt Portmann. Diese Parallelen erkennen zu können, sei eine der Hauptstärken von Peer-Support.
Das Projekt wächst
Das war vor drei Jahren. Die Treffen fanden fortan alle zwei Wochen statt. Es kamen konstant um die acht Frauen, manche über längere Zeit, manche nur einmal. Aus Portmanns Idee wurde der Verein «Sisters Domestic Violence», kurz «Sisters DV». Dominique Hodel ist heute Präsidentin des Vereins, Portmann Projektleiterin.
Hodel arbeitet als Teamleiterin im Detailhandel, Portmann arbeitet in der internationalen Zusammenarbeit. Einen sehr grossen Teil ihrer Freizeit investieren sie in das Projekt «Sisters DV».
Zu den Gesprächsrunden im Yoga-Studio kamen Online-Meetings für betroffene Mütter hinzu, die keine externe Kinderbetreuung haben. In einer Chatgruppe tauschen sich Frauen, die Gewalt erleben, regelmässig aus, unterstützen sich emotional oder teilen Informationen zu Anlaufstellen oder rechtlichen Fragen. Und der Verein organisiert auch gesellige Anlässe: Gemeinsam essen oder spazieren.
Rund 60 Frauen haben in den vergangenen drei Jahren bei «Sisters DV» teilgenommen. Auf Instagram erstellt die Organisation informative Posts, Hinweise und Erfahrungsberichte im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt. Die meisten Interessierten melden sich über die sozialen Medien.
Letztes Jahr gewann «Sisters DV» einen Preis der Organisation Caritas. Dadurch konnte der Verein eine Ausbildung für die Gesprächsleiterinnen finanzieren. Er erhält mittlerweile auch finanzielle Unterstützung von der Burgergemeinde Bern und einer Stiftung. Die Arbeit ist aber immer noch ehrenamtlich.
Gerade expandiert das bisher nur in Bern tätige Projekt nach Düdingen und Zürich, wo lokale Frauen neue Gesprächsgruppen gründen. Im Kanton Bern weisen mittlerweile verschiedene Anlaufstellen wie die Opferhilfe Betroffene auf das Projekt hin. Und demnächst schliesst sich der Verein mit dem neu gegründeten Büro gegen Gewalt zusammen.
Gewalt beginnt nicht mit Schlägen
«Der Austausch unter Betroffenen ist eine unheimlich wertvolle Ergänzung zu offiziellen Anlaufstellen», sagt Anne-Lea Portmann. Viele Betroffene von häuslicher Gewalt fühlten sich von ihrem Umfeld, aber auch von Behörden, unverstanden. Man werde oft gefragt, warum man sich so etwas gefallen lasse, warum man nicht «einfach geht». In den Treffen von «Sisters DV» sind solche Fragen und Ratschläge explizit unerwünscht.
Das Unverständnis hänge mit dem verbreiteten Irrtum zusammen, dass häusliche Gewalt – oder intime Partnergewalt, wie Portmann es lieber nennt – erst mit Faustschlägen beginne. «Es handelt sich um ein Macht- und Kontrollmuster», sagt Portmann, die mittlerweile auch ihre Masterarbeit zu diesem Thema verfasst hat.
Menschen, die ihren Partner*innen Gewalt antun, handelten oft nach ähnlichen Mustern. «Sie kreieren ein Abhängigkeitsverhältnis, brechen das Selbstvertrauen, isolieren ihre Partnerinnen sozial», sagt Portmann. Auch das sogenannte Gaslighting sei eine weit verbreitete Form von Gewalt – psychische Manipulation, die bei Betroffenen zu Realitätsverlust führen kann. Erst nach sehr viel psychischer Gewalt folge normalerweise die physische. Und manchmal auch gar nicht.
«Nach all dieser Manipulation, diesen Erniedrigungen und Demütigungen kann das Selbstvertrauen völlig gebrochen sein», sagt Dominique Hodel aus eigener Erfahrung. «Irgendwann wehrst du dich nicht mehr. Und vor allem denkst du, du seist selbst schuld.» Fast alle Betroffenen seien verunsichert darüber, ob sie die Schuld an den Geschehnissen tragen oder selbst Täterinnen seien.
In die Politik
Dominique Hodel ist mittlerweile in die Politik gegangen, um Gewalt an Frauen zu bekämpfen. Seit diesem Jahr sitzt sie für die SP im Berner Stadtrat – und will sich vor allem in diesem Thema engagieren.
Handlungsbedarf sehen Portmann und Hodel zum Beispiel bei der Praxis des geteilten Sorgerechts. «Bei vielen Fällen von intimer Partnergewalt sind Kinder involviert, und für Mütter ist es noch schwieriger, sich zu trennen», sagt Portmann. Bei den Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden würden Gewaltstrukturen zu wenig beachtet, wenn es um das Sorgerecht für Kinder gehe. Portmann hat diese Praxis in ihrer Masterarbeit untersucht. Dominique Hodel arbeitet an ersten politischen Vorstössen, um das Thema auf städtischer Ebene anzugehen.
Am feministischen Streik vom Samstag, 14. Juni werden Anne-Lea Portmann und Dominique Hodel nach der Demo auf dem Bundesplatz eine Rede halten. Eineinhalb Minuten dürfen sie je sprechen. Und wollen dabei an den Bundesrat appellieren, Betroffene besser zu schützen. «All den Frauen, die jetzt noch schweigen, würde es helfen, wenn sie wüssten, dass die Politik hinter ihnen steht», sagt Dominique Hodel.