Was können wir noch?
Der Berner Autor und Kabarettist Christoph Simon zur Ohnmacht angesichts des Kriegs.
Wir gehen auf die Strasse, spenden Geld, sammeln Kleider, tragen uns in der Liste ein für die Aufnahme von Flüchtlingen. Wir haben Kirchenglocken geläutet und im Wankdorf-Stadion vor dem Spiel eine Schweigeminute abgehalten. Wir haben mit den Kindern Atombombe-Erklär-Videos auf Youtube geschaut. Wir haben alle Bekannten und Kolleginnen und Übersetzerinnen im Osten aufgespürt und kontaktiert und gefragt, wie's geht. Sie schreiben nicht zurück, wir machen uns Sorgen um sie, und um uns, und sind traurig und wütend.
Was können wir denn noch? Auf eine schnelle Lösung hoffen? Wladimir einen offenen Brief schreiben? Ein Solidaritätsbier trinken? In Sex flüchten? Einen blöden Spruch machen: «Wäre doch James Bond noch am Leben.»
Das einzig Praktische am Älterwerden: Man hat schlimme Ereignisse schon oft erleben müssen.
Christoph Simon
Wie den Kopf nicht hängen lassen? Wie den Mut nicht verlieren? Das einzig Praktische am Älterwerden: Man hat schlimme Ereignisse schon oft erleben müssen. Bürgerkrieg in Sri Lanka, den Golfkrieg, den Jugoslawienkrieg, Ruanda, Kosovo, den Irak-Krieg und Syrien und immer wieder Zeltlager und Waisenkinder und gescheiterte Friedenspläne und kein sauberes Trinkwasser und neue exotische Namen am Turnseckli in der Turnhalle und immer wieder Menschen, die darauf hoffen, in ihr Heimatland zurückzukehren und mit jedem Tag, der verstreicht, rückt der Tag ihrer Rückkehr in grössere Ferne. Ereignisse, die enorme Auswirkungen haben auf Volkswirtschaft und Stimmungshaushalt. Ereignisse, für die man Erklärungen sucht, um sich weniger hilflos zu fühlen, und alles mit dem sehnlichen Wunsch, die Zukunft irgendwie ein bisschen sicherer und vorhersehbarer zu machen.
Geht nun die Welt unter oder nicht? Für viele ja. Für andere wahrscheinlich noch nicht. Je weiter osteuropäisch du lebst, desto grösser deine Chance, nicht gut aus dieser Sache oder überhaupt nicht aus dieser Sache herauszukommen. Aber beim eigenen Leben hört Wahrscheinlichkeitsrechnung auf. Wir wünschen uns eine Zukunft für uns und für unsere Liebsten, und erschrecken jedes Mal, wenn ein schlimmes, unwahrscheinliches, folgenschweres Ereignis eintrifft.
Dabei sollten wir jeden Tag erschrecken, an dem mal nichts passiert. Ein Tag, an dem einfach die Sonne aufgeht und der Chef ein bisschen nervt – aber er sorgt dafür, dass wir wenigstens nicht einsam sind. Und wieso nicht wieder mal einen Schweizer Problemfilm schauen und eine Pizza bestellen wie damals im Lockdown. Und später geht die gute Sonne unter und sterben müssen wir auch noch irgendwann.
Das Schicksal kann jederzeit zuschlagen, und tut es auch. Dann ist finito, und Frieden gibt es nicht im Draussen, (jetzt philosophisch gesprochen, politisch gesehen gibt es bestimmt verschiedene Friedensgrade). Frieden gibt es nicht im Draussen - nur in dir drin ist Frieden möglich. Und vielleicht nicht mal da.
Man muss schon sehr, sehr nahe bei sich sein, um den Kopf nicht hängen zu lassen, um den Mut nicht zu verlieren.
Christoph Simon
Je schöner du dir alles ausgemalt hast, deine Erfolge, dein Glück, dein Liebesleben – nun, da kann gar nichts anderes dabei herauskommen als eine grosse Enttäuschung. Ist mir schon klar, wieso nicht der düstere Stoizismus Weltreligion geworden ist, sondern das Christentum mit seinem Versprechen von Frieden und Seligkeit im ewigen Leben.
Man muss schon sehr, sehr nahe bei sich sein, um den Kopf nicht hängen zu lassen, um den Mut nicht zu verlieren. Man muss es am Arsch vorbei gehen lassen und die guten Erlebnisse sammeln.
Gute Erlebnisse sind gute Erlebnisse. Wie gut spielt keine Rolle. Ein Cappuccino mit Schüümli-Härz, eine neue Scheibe von Patent Ochsner, weniger Zahnweh, die Kinder sind gesund, der Klient hat schon 50 Prozent der Rechnung bezahlt, die Kollegin aus Kiew ist in Polen angekommen, heute ist der Mitbewohner dran mit dem Abwasch.
Wer sich Freude im Leben wünscht, sollte die guten Erlebnisse sammeln und sie gleichmässig über die Zeit verteilen. Viele kleine gute Erlebnisse am Tag sind hormonell befriedigender als ein einziges grossartiges Erlebnis im Jahr.
Aber klar. «Viele kleine gute Erlebnisse sammeln. Fahr ab mit diesem Kitsch!»
Ja, Wladimir, ich weiss, wenn man jemanden dazu bringen will, etwas zu tun, muss man ihm davon abraten.
Also mach, was du willst, Wladimir, vergiss Freude und Frieden und drücke den Knopf und beende deine Militäroperation mit einer schnellen, seccen Lösung.
Nur - und das weisst du selbst - schnelle Lösungen haben einen Nachteil: Sie funktionieren nicht.
Christoph Simon (49) wurde 2018 mit dem Kleinkunst-Preis Salzburger Stier ausgezeichnet. Er tritt auf Bühnen auf und schreibt Bücher. Zuletzt erschien von ihm «Der Suboptimist» (2021). Den Text, den die «Hauptstadt» hier publiziert, veröffentlichte er zuerst auf Social Media.