Mani Matters künstlerische Nachkommen
Hazel Brugger, Matto Kämpf, Lukas Bärfuss: Sie alle starteten ihre Karrieren auf Poetry Slam-Bühnen. Diese Woche findet in Bern die Schweizermeisterschaft statt. Ein Augenschein in der Berner Slam-Szene.
Seit drei Jahren amtiert Marco Gurtner als Schweizermeister im Poetry Slam. Die letzten zwei, ohne sich dafür der Konkurrenz stellen zu müssen. Doch lange kann der Thuner seinen Gratis-Titel nicht mehr tragen: Am nächsten Samstag wird im Berner Stadttheater seine Nachfolgerin oder sein Nachfolger gekürt. Ohne Pandemie hätte Gurtner den Titel bereits ein Jahr nach seiner Errungenschaft weitergegeben.
Seit 2010 findet – mit Ausnahme der letzten zwei Jahre – jedes Jahr die Schweizermeisterschaft im Poetry Slam statt, gekämpft wird in drei Kategorien: Einzel, Team, U20. Bei der ersten und bisher letzten Austragung in Bern 2013 gewann den Einzel-Titel eine gewisse Hazel Brugger, damals 19-jährig, Philosophiestudentin. Im Finale setzte sie sich unter anderen durch gegen Lara Stoll, Kilian Ziegler, Christoph Simon und Remo Zumstein. Allesamt sind sie heute grosse Namen in der Comedy-Szene und setzen Buch- und Musikprojekte um. In der Kategorie U20 hiess der Sieger 2013: Marco Gurtner.
Marguerite Meyer, heute 37-jährig, hat damals die Schweizermeisterschaft in Bern mitorganisiert. Sie konnte aus einem reichen Erfahrungsschatz schöpfen, hatte sie doch 2008 den Capital Slam mitgegründet, den regelmässigen Slam in der Rössli Bar der Berner Reitschule. Bis heute ist sie dort zusammen mit Lisa Christ als Co-Moderatorin und Co-Organisatorin tätig.
Bei einem Poetry Slam lesen Dichter*innen ihre selbst verfassten Texte auf einer Bühne vor. Die Auftrittszeit ist limitiert, meist auf sechs Minuten, Kostüme und Musikinstrumente sind verboten. Das Publikum kürt den Sieger oder die Siegerin. Ein Wettstreit also, da passt, dass das Wort «Slam» eine Anspielung auf einen Schlag im Baseball sein soll.
Entstanden ist die Kunstform des Poetry Slam Anfang der 80er-Jahre in Chicago. Von dort verbreitete sie sich über New York nach Finnland, Schweden und Grossbritannien. In Deutschland fand der erste Slam 1994 statt. Nach Angaben der Plattform poetryslam.ch sei der Durchbruch des Slams in der Schweiz 1999 erfolgt, mit der Gründung des Kleinverlags «Der gesunde Menschenversand». Bekannt wurde dieser 2009 mit der Herausgabe von«Dr Goalie bin ig» von Pedro Lenz.
Bern habe in der Schweizer Spoken-Word-Szene schon immer eine wichtige Rolle gespielt, sagt Marguerite Meyer: «Schon Mani Matter war Anfang der 60er-Jahre sowas wie ein Spoken-Word-Künstler.» 1998 dann fand der erste Slam in Bern statt, im Liebefeld. Aufgetreten sind unter anderem Lukas Bärfuss, Matto Kämpf und Jürg Halter.
Meyer bestritt ihren ersten Slam 2006 in Lenzburg: «Es war furchtbar, ich bin drei Mal aus dem Text gefallen, so peinlich.» Sie fühlte sich aber wohl in der «Slamily», wie die Slammer*innen ihre Gemeinschaft nennen, angelehnt an den englischen Begriff «familiy» für Familie. «Die Szene war damals sehr klein, Neue gehörten rasch dazu», erinnert sich Meyer. Die Veranstaltungen fanden in engen Kulturkellern statt. Oft war Meyer die einzige Frau im Line-Up.
Heute ist das anders. Beim Capital Slam gilt seit fast zehn Jahren eine Geschlechterquote, rund die Hälfte der Slammer*innen muss ein anderes Geschlecht als das männliche haben. «Am Anfang war es schwierig, genügend Frauen zu finden», so Meyer. Doch die Veranstalter*innen gaben sich gegenseitig Tipps mit Namen von Slammerinnen. «Und nach einem Jahr meldeten sich nicht nur Männer von selbst bei uns.»
Berndeutsch ist «sympa»
Kay Neuenschwander, 28-jährig, ist ein umtriebiger Organisator von Slams in der Region Bern. Da sind die regelmässigen Formate wie der 4321-Slam im KulturBistro, der Jass Slam in der Mahogany Hall, der SüssSauerSlam im Café Effinger und ein Slam in Fribourg. Dazu kommen lose Formate wie ein Nachhaltigkeits-Slam und solche im Rahmen des Pop-Up von Peter Flamingo. Ausserdem lehrt er mit dem Projekt «Slam@School» Schüler*innen im ganzen Kanton Bern, wie sie Slam-Texte schreiben können. «Fast aus jedem Jahrgang schaffte jemand den Sprung in die Szene», so Neuenschwander. Und unter dem Künstlernamen «Kay Wieoimmer» tritt er selbst an Slams auf.
Wenn jemand Bescheid weiss über die Berner Slam-Szene, dann Neuenschwander. Doch so glücklich mit dem Begriff der «Berner Szene» ist er nicht: «In der deutschsprachigen Schweiz sind wir alle so vernetzt, dass das Konzept der lokalen Szene wenig Sinn ergibt.» Berner*innen würden auch in Zürich, Basel und St. Gallen auftreten und umgekehrt.
Eine Besonderheit von Berner Slams gebe es trotzdem: Die Mundart. «Überall, wo ich hinkomme, bin ich sympa, weil ich Berndeutsch spreche», so Neuenschwander. «Texte können rotzig, frech und arrogant sein, klingen aber durch das Berndeutsch immer noch nett.» Auffallend viele Berner*innen würden berndeutsche Texte vortragen, Menschen mit anderen Dialekten eher hochdeutsche. Doch längst nicht alle Slammer*innen aus Bern würden Berndeutsch sprechen, betont Neuenschwander. Besonders durch die vielen Student*innen, die wegen der Uni in die Stadt ziehen, gebe es eine grosse Durchmischung.
Kay Neuenschwander tritt seit 2011 an Slams auf. Er beobachtet, dass sich über die Jahre der Geschmack des Publikums verändert hat. Zu seinen Anfangszeiten seien lustige Texte gut angekommen, «heute wollen die Leute kritischere Texte hören.» Ihm kommt das entgegen, da er mit seinen Texten immer schon gesellschaftskritische Botschaften weitergegeben habe.
Doch wegen des Gewinnens allein trete fast niemand an Slams auf, ist Neuenschwander überzeugt. «Der Hauptpreis ist ein Whisky. Und man verbringt sehr viel Zeit auf Reisen im Zug.» Die Auftrittsgagen seien sehr klein. Vor allem, weil die Eintrittspreise tief sind, selten mehr als zehn Franken, oder Kollekte – denn Slams sollen allen Interessierten zugänglich sein. «Das Publikum besteht meist aus Student*innen», beobachtet Neuenschwander.
Er selbst verdient inzwischen seinen Lebensunterhalt mit seiner vielfältigen Slam-Arbeit. Und steht somit beispielhaft für eine weitere Veränderung in der Slam-Szene: «Es hat eine Professionalisierung gegeben», sagt Marguerite Meyer, die hauptberuflich als Journalistin arbeitet. «Ich muss heute niemandem mehr erklären, was Poetry Slam ist.»
Das liegt auch daran, dass erfolgreiche Slamer*innen wie zum Beispiel die eingangs erwähnten Hazel Brugger, Lara Stoll und Christoph Simon mit Solo-Programmen in die Comedy-Szene wechselten. Alle drei gewannen sowohl den Einzel-Titel an der Schweizermeisterschaft als auch den Salzburger Stier, einer der bedeutendsten Preisen in der deutschsprachigen Kleinkunstszene.
Doch es gibt sie, die Slammer*innen, die dem Slam auch nach vielen Jahren treu geblieben sind – wie Etrit Hasler aus St. Gallen, der 2000 eingestiegen ist und an der diesjährigen Schweizermeisterschaft teilnimmt. «Dinosaurier» würden sie ihn manchmal nennen in der Szene, sagt Marguerite Meyer. Sie selbst sei auch schon als «Big Mama» bezeichnet worden. Anders als Hasler performt sie eigene Texte aber nur noch äusserst selten. An der Schweizermeisterschaft moderiert sie eine Vorrunde. Und Kay Neuenschwander ist – wie könnte es anders sein – Teil des Organisationsteams.
Am Donnerstag und Freitag finden im Progr, im Bierhübeli und im Casino die vier Einzel-Vorrunden, das U22-Finale und das Team-Finale statt; am Samstag im Stadttheater das Einzel-Finale. Das Detailprogramm lässt sich auf der Website der Veranstalter*innen finden.