Tschernobyl – plötzlich wieder ganz nah
Die Russin Annushka Leykum erlebte die Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Durch den Krieg in der Ukraine werden ihre Erinnerungen in die Gegenwart geholt. Davon hat sie auch den Macher*innen des Theaterstücks «tschernobyl/my love» erzählt, das heute in Bern Premiere hat.
Annushka Leykum erinnert sich in letzter Zeit häufig an ihre Kindheit. Mit acht Jahren war sie bei ihrer Grossmutter in Klintzy zu Besuch, im westlichsten Zipfel des heutigen Russlands, als sich am 26. April 1986 im etwa 200 Kilometer entfernten Tschernobyl die Reaktorkatastrophe ereignete.
«Meine Grossmutter wohnte auf dem Land», erinnert sich die heute 44-jährige Wäschereileiterin, «es war ein sonniger, ausserordentlich warmer Tag, als sich plötzlich aus Westen diese unglaublich dunklen, grossen Wolken näherten.» Die kleine Annushka liebte Regen, blieb auf der Strasse, als die ersten Tropfen fielen. «Sie waren riesig und hinterliessen Staubflecken auf meinem hellen Kleid.» Erschrocken rannte sie nach Hause. Erst Tage später sollte sie erfahren, dass es kein gewöhnlicher, sondern radioaktiv verseuchter Regen gewesen war, der auf sie niederfiel. Da litt sie bereits unter starkem Haarausfall. Sie hatte Kopfschmerzen, musste erbrechen.
Die Reaktorkatastrophe hat Leykum, die seit 20 Jahren in Bern lebt und immer noch am liebsten draussen ist, nicht ein Leben lang verfolgt. Dazu besitzt sie ein zu frohes Naturell. Und doch war sie immer wieder mit den Folgen von dem, was damals in Tschernobyl geschah, konfrontiert.
Viele Frauen mit Schilddrüsen-Beschwerden
Als sie als Teenager in die Region zurückkehrte, um die Schule fertig zu machen, half sie im Spital als Putzfrau aus. Dabei sah sie Babys zur Welt kommen, die wegen der Reaktorkatastrophe schwere Missbildungen hatten. Als sie später in Kiew die Aufnahmeprüfungen fürs Studium absolvierte, wohnte sie bei einer Frau, die ihren Mann in Tschernobyl verloren hatte, wo er als Feuerwehrmann gearbeitet hatte. Mit der vom Staat ausbezahlten Entschädigung hatte sie sich überhaupt erst besagte Wohnung kaufen können. «Sie sagte immer, ihr Mann habe für diese Wohnung mit seinem Leben bezahlt», erzählt Annushka Leykum.
Und auch wenn sie jetzt für geflüchtete Ukrainer*innen übersetzt, ist ihr aufgefallen, dass aussergewöhnlich viele Frauen um die 50 Jahre aus Kiew und Region Erkrankungen der Schilddrüse haben. Das ist eine typische Folge der Reaktorkatastrophe. Viele müssen deswegen ein Leben lang eine Hormontherapie machen.
Von ihren Erfahrungen hat Annushka Leykum auch den Macher*innen des Stücks «tschernobyl/my love» um Schauspielerin Kornelia Lüdorff erzählt. Das Einfraustück feiert heute im Tojo Theater Premiere. Es beruht auf den dokumentarischen Porträts der Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch – und widmet sich dabei dem Schicksal der Feuerwehrmanns-Witwe Ljudmila Ignatenko. Sie hat, ähnlich wie die Bekannte von Annushka Leykum in Kiew, ihre Liebe und den Vater ihres Kindes an die Reaktorkatastrophe verloren. Es ist ein erschütternder Bericht, der nicht nur vom Tod handelt, sondern auch von der Liebe. Davon, wie ein einzelner Tag das Leben prägen kann.
«In diesem Stück geht es um den Verlust», sagt Regisseurin Annina Dullin. «Und das ist eigentlich schon genug Aktualität.» Als die Theatergruppe sich für die Geschichte entschieden hätte, hätte sie noch nichts vom russischen Angriffskrieg auf die Ukraine geahnt. «Wir wollten einfach gegen das Vergessen ankämpfen.» Und das beste Mittel dazu sei es, zu reden und nicht zu schweigen.
Die Aktualität hat nun vor allem über die Atmosphäre Eingang gefunden ins Stück. So wird das Sternbild vom Tag der Reaktorkatastrophe gezeigt – und jenes vom Tag des Kriegsbeginns.
Angst vor einer Wiederholung der Geschichte
Als am Anfang des Kriegs auch Tschernobyl besetzt wurde, kamen all die Erinnerungen in Annushka Leykum hoch. «Mehr Sorgen als Tschernobyl bereitet mir allerdings das Kraftwerk Saporischschja», sagt sie. Saporischschja ist das leistungsstärkste Kernkraftwerk Europas und liegt am Fluss Dnipro. Die Frontlinie befindet sich nicht weit davon im Süden. Dort rücken die russischen Truppen auch jetzt noch vor. «Was ist, wenn dort etwas passiert?», fragt sich Leykum immer wieder.
Als Kind musste sie ein paar Jahre lang Selen-Tabletten nehmen. Ihre damalige beste Freundin, die auf der Strasse mit ihr gespielt hatte, leidet noch heute unter den Folgen des atomaren GAUs. Sie hat Probleme mit der Schilddrüse. «Meine Grossmutter steckte mich damals gleich danach in die Banja», sagt Leykum, dabei habe sie die russische Sauna normalerweise nur am Samstag geheizt. Das Schrubben in der Banja habe wohl geholfen, die Radioaktivität abzuwaschen, vermutet Annushka Leykum. Nach drei Tagen kam ein Telegramm ihres Vaters, der als Militärangehöriger in Ungarn stationiert war: Sie sollten alle Kleider verbrennen und sich gut waschen. «Er hat nicht geschrieben, warum, aber als Militärangehöriger wusste er mehr.»
Heute kann Annushka Leykum frei über ihr Tschernobyl-Erlebnis erzählen, auch wenn in ihrer Familie nicht viel darüber gesprochen wurde. Die Reaktorkatastrophe wurde irgendwann einfach zu etwas, was in der Vergangenheit passiert war.
Die meisten ihrer Verwandten sind in Klintzy geblieben, auch wenn sie mit staatlicher Hilfe hätten umsiedeln können. Ab und zu besucht Leykum sie. So war sie im letzten Herbst gemeinsam mit ihrer Tochter an der Hochzeit ihrer Cousine.
«Meine Verwandten glauben, dass sich der Körper an die Radioaktivität gewöhnt.»
Annushka Leykum
«Sie haben 1986 Geräte zur Messung der Radioaktivität verteilt», sagt sie. Mit der Zeit hätten die meisten Leute sie aber nicht mehr benutzt. Ernteten wieder die Obstbäume ab, gingen im Wald Pilze suchen, tranken das Leitungswasser. «Meine Verwandten glauben, dass sich der Körper an die Radioaktivität gewöhnt.» Wenn Leykum sie besucht, kauft sie Trinkwasser und Lebensmittel ein. Dabei schaut sie bei Früchten und Gemüse darauf, dass sie nicht aus der Region stammen.
Annushka Leykum, die als Russin mit ukrainischen Wurzeln in Ungarn aufgewachsen ist und später in der Ukraine studiert und gearbeitet hat, bevor sie nach einem Abstecher nach Russland nach Bern kam, hat in mehreren Kulturen gelebt. Sie spricht Deutsch, Russisch und Ukrainisch, wurde aber wegen ihres Akzents in der Ukraine immer als Russin angesehen. In Russland hingegen dachte man, sie sei Ausländerin und stamme aus dem Baltikum. Und auch in der Schweiz frage man sie, woher sie komme. «Ich bin aber froh, dass ich nicht in der Ukraine oder in Russland lebe.»
Die Hoffnung auf baldigen Frieden
Denn ihre russisch-ukrainische Herkunft birgt ein Dilemma. Annushka Leykum hat in der Ukraine enge Freund*innen, die leiden und an der Front kämpfen. Gleichzeitig leben ihre Verwandten in Russland, an der Grenze zur Ukraine, wo immer mehr Militär eintrifft.
Annushka Leykum hofft, dass es bald wieder Frieden gibt. «Es ist tragisch, wenn Menschen fliehen, leiden, sterben müssen.»