Stress am Gericht
Die Fallzahl am Berner Regionalgericht stieg im letzten Jahr um 25 Prozent. Ein Auslöser für die Zunahme ist Corona – doch nicht nur. Gerichtspräsident Jürg Christen sucht nach Gründen, aber klar ist: Nun werden zusätzliche Richter*innen angestellt.
Im Amtshaus an der Hodlerstrasse ist es ruhig an diesem Nachmittag. Viele Gerichtssäle sind unbenutzt. Aber die Ruhe täuscht. Am Regionalgericht Bern-Mittelland ist derzeit viel los. Im Jahr 2021 wurden hier 1345 Verfahren eingegeben, entweder Anklagen der Staatsanwaltschaft oder Einsprachen gegen Strafbefehle. «Gegenüber 2020 ist dies ein Anstieg von 25 Prozent, gegenüber 2019 gar von 28 Prozent», sagt Gerichtspräsident Jürg Christen. Er ist derzeit Abteilungsleiter des Regionalgerichts.
Schon in den vergangen Jahren sei die Zahl der Gerichtsfälle angestiegen, auch in anderen Regionen des Kantons. «Aber im letzten Jahr war die Steigerung bei uns markant.» Und zwar sowohl am Einzel- wie am Kollegialgericht. Zu den Gründen kann Christen nicht viel sagen. «Wenn wir das wüssten?» Er hebt die Achseln. Kriminologisch könne er es nicht begründen.
Einsprachen gegen Bussen an Demonstrationen
Und was ist mit Corona? Mit den Pandemie-Massnahmen gab es zwar neue Strafbestimmungen. «Die coronabedingten Fälle sind aber nicht der grosse Teil des Anstiegs», sagt Christen. Es gab diesbezüglich Einsprachen, etwa gegen Bussen an Demonstrationen oder wegen der Maskenpflicht. Das würde den Anstieg am Kollegialgericht, an dem schwerere Fälle verhandelt werden, aber nicht erklären. Zumal es eine zeitliche Verschiebung gebe: «Straffälle im Zusammenhang mit Corona aus dem vergangenen Herbst kommen erst jetzt ans Gericht», so Christen.
Was sind also die Gründe für den Anstieg? Ein bestimmtes Muster gebe es nicht, sagt Christen. Der Anstieg beschränkt sich denn auch nicht auf spezifische Delikte. Stattdessen geht es um Verstösse gegen sämtliche Bestimmungen. «Uns beschäftigten auch letztes Jahr die gleichen Themen wie zuvor: Strassenverkehrsgesetz, Betäubungsmitteldelikte, Vermögensdelikte, Gewaltdelikte oder Sexualdelikte», sagt Christen. «Für die überdurchschnittlich vielen Fälle haben wir derzeit keine Erklärung.»
Auch die zuweisende Staatsanwaltschaft stellt fest, dass die Anklagen von 2017 bis 2021 laufend zugenommen haben. «Das hat unter anderem mit den obligatorischen Landesverweisen wegen der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative zu tun», sagt der leitende Staatsanwalt der Region Bern-Mittelland, Hermann Wenger. Im letzten Jahr stellte die Staatsanwaltschaft im Speziellen eine Zunahme von Fällen von sogenannten Drogenläufern fest, die für den Drogenhandel rekrutiert würden und dafür nur kurz in der Schweiz weilten.
Einen beträchtlichen Teil der Eingänge beim Regionalgericht dürften laut Wenger die dem Gericht überwiesenen Strafbefehle ausmachen, gegen welche Einsprache erhoben wurde. «Diese sind im vergangenen Jahr um rund ein Drittel gestiegen.» Das hat vor allem mit den vielen Demos gegen die Corona-Massnahmen zu tun: «Es war eine Zunahme von unbewilligten Demonstrationen zu verzeichnen mit teilweise Dutzenden von polizeilich verzeigten Personen, welche die Strafbefehle nicht akzeptierten und eine richterliche Beurteilung verlangten.»
Wenger rechnet für das aktuelle Jahr mit einem Rückgang bei den Anklagen, da die Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland 2021 etwas weniger Untersuchungen eröffnet habe.
Anwälte kritisieren öfter die Untersuchung
Die Fallzahlen sind laut Gerichtspräsident Christen aber nicht die einzige Entwicklung, welche die Arbeitslast am Gericht beeinflusse. «Die Materie wird komplizierter, und die Verfahren dauern länger», sagt Christen. Der Umfang der Dossiers nehme zu. Am Einzelgericht genügte früher oft ein Mäppchen für die Akten, nun ist es ein Bundesordner. Die Dauer pro Gerichtsfall – von der Überweisung ans Gericht bis zum Urteil – sei seit 2016 kontinuierlich gestiegen. Das sei eine ungute Entwicklung. «Wenn man beschuldigt wird, hat man Anrecht auf eine speditive Beurteilung», so Christen. Es gebe aber am Gericht eine formelle und eine materielle Verkomplizierung.
Christen, der seit 15 Jahren am Regionalgericht tätig ist, beobachtet, dass formelle Fragen viel häufiger aufgebracht werden: «Die Verteidigung thematisiert vermehrt, es sei in der Untersuchung nicht gut gearbeitet worden.» Sie moniere zum Beispiel, dass Beweise und Einvernahmen nicht verwertet werden dürften oder dass die Anklage nicht gut formuliert sei. «Es ist mittlerweile die Regel, dass man über diese Fragen diskutiert.»
Materiell umfangreicher wurde zum Beispiel die Strafzumessung. Da brauche es aufgrund von Entscheiden des Bundesgerichts heute viel präzisere Berechnungen. «Das ist zu begrüssen, damit die Leute ihre Strafen gut nachvollziehen können», sagt Christen. Richtig lang würden meist die Verfahren hinsichtlich eines Landesverweises. «Da geht es oft um die Existenz und braucht daher tiefe und umfassende Abwägungen der Gründe.»
Zugenommen hat auch die Anzahl Anwält*innen vor Gericht. «Früher sind mehr Leute alleine vor der Richterin oder dem Richter gestanden.» Heute werde mit härteren Bandagen gekämpft. «Die Angeklagten sind auch in kleineren Fällen immer häufiger anwaltschaftlich vertreten», sagt Christen. Das könne mit dem Aufkommen der Rechtsschutzversicherungen zusammenhängen, meint er. Auch das Prozessverhalten habe sich gewandelt: «Man kämpft mehr und versucht alles, macht jeden Einwand geltend.»
Ein pensionierter Richter hängt ein Jahr an
Diese Prozessfreudigkeit sei heute gösser, das sei aber nicht per se negativ, sagt Christen. «Natürlich kann man sich fragen: Braucht es jede Beschimpfungsklage? Jede Ehrverletzungsklage? Muss man immer gerade vor Gericht?» Aber es sei klar: «Wenn man betroffen ist und das Gefühl hat, es sei einem Unrecht geschehen, soll man vor Gericht gehen dürfen, auch wegen 40 Franken Busse.» Es gebe keine Sachen, die nicht hierher gehörten, sagt Gerichtspräsident Christen.
Die vielen zusätzlichen Fälle haben natürlich Auswirkungen auf den Pendenzenberg, auch wenn Christen betont, dass das Regionalgericht mehr Fälle pro Mitarbeiter*in erledigt habe als die Ressourcenvereinbarung vorgebe. «Aber man kann nicht einfach schneller arbeiten, die Qualität der Rechtsprechung muss gleich bleiben.»
Darum erhielt das Regionalgericht Bern Mittelland vom Obergericht für das aktuelle Jahr fünf zusätzliche Stellen zugeteilt. Davon sind 180 Stellenprozente für Richter*innen reserviert. Ein eigentlich pensionierter Gerichtspräsident hängt noch ein Jahr an. Damit hat das Regionalgericht nun 900 Stellenprozente auf der Ebene der Richter*innen.
Zum Ende des Gesprächs mit Jürg Christen kommt Leben ins Amtshaus. Eine Mitarbeiterin platzt ins Büro und legt zwei dicke Bundesordner hin. Christen hat zu tun: In einigen Tagen steht am Kollegialgericht ein mehrtägiger Prozess an.
--
Was hältst du von den steigenden Fallzahlen am Gericht? Schreib uns auf [email protected].