Die saubere Berner Drogen-Normalität

Vor 30 Jahren schlossen die Berner Behörden die offene Drogenszene im Kocherpark. Heute ist der Konsum harter Drogen unsichtbar integriert in den städtischen Alltag. Zu welchem Preis?

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Der Kocherpark heute: Oase der Entspannung im City West. (Bild: Manuel Lopez)

Bern war Anfang der 90er-Jahre in den Schlagzeilen, und zwar so richtig. Der US-Sender CNN zeigte mit drastischen Bildern, wie sich Fixer*innen auf der Bundesterrasse oder der Kleinen Schanze Heroin spritzten. Oder wie sie ohnmächtig herumlagen, sich prostituierten. Alles unter den Augen der nationalen Politik.

Die überforderten lokalen Behörden verdrängten die Szene nach ein paar Monaten aus dem ganz grossen Schaufenster hinüber in den Kocherpark, wo mehrere Hundert drogenabhängige Menschen rund ein Jahr lang in übelsten Verhältnissen verkehrten, wie man sie aus dem Film «Platzspitzbaby» aus der damaligen Zürcher Drogenszene kennt (einen Rückblick auf diese Zeit findest du hier).

Sanierung für eine halbe Million

Am 31.3.1992 untersagte die Berner Stadtregierung, damals noch mit bürgerlicher Mehrheit, «öffentlich sichtbares Fixen und Handeln» und sperrte den Kocherpark ab. Sie liess ihn für rund eine halbe Million Franken sanieren und neu anlegen. 

Aus heutiger Sicht wirkt das wie der Start zu einer 30-jährigen Kampagne zwecks Aufwertung des öffentlichen Raums in der Stadt. Heute ist der Kocherpark, bei schönem Wetter, eine ruhige urbane Oase zwischen den brummenden Baustellen des Inselareals und des Bahnhofs. Menschen liegen über Mittag hemmungslos auf dem sorgsam gepflegten Rasen, wie man das früher nur von richtigen Grossstädten wie Berlin oder Paris kannte.

Und die Drogenszene?

 

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Die Hinterlassenschaften der offenen Drogenszene auf der Kleinen Schanze. (Bild: Staatsarchiv/Jürg Spori)
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Die Kleine Schanze heute: Unbeschwerter Relax an der Mittagssonne. (Bild: Manuel Lopez)

Der schmucklose Eingang an der dicht befahrenen Zieglerstrasse, nur ein paar Hundert Meter vom Kocherpark entfernt, führt in ein ebensolches Treppenhaus. Dann hoch in den ersten Stock, wo Empfang, ambulante Medikamentenabgabe und Behandlungszimmer sauber getrennt sind. Ein interdisziplinäres Team aus Ärzt*innen, Psychotherapeut*innen  und Sozialarbeiter*innen bietet Sprechstunden oder Gesprächstherapien an. Die Besucher*innen werden Patient*innen genannt, wie in einer Arztpraxis. 

Damit man bei der ambulanten Suchtbehandlung der Stiftung Contact einen Termin erhält, muss man bestimmte Voraussetzungen erfüllen. In erster Linie eine Opioidabhängigkeit, oder landläufig: eine Heroinsucht. Die meisten Patient*innen werden nicht zugewiesen, sondern melden sich selber an, sagt Max Bitterli, Leiter der Contact-Suchtbehandlung in Bern und Langenthal. Beim Erstgespräch vor Behandlungsstart würden sie sogar zum Urintest gebeten: «Wir wollen einen hieb- und stichfesten Nachweis, dass eine körperliche Abhängigkeit vorliegt.» So werde das Risiko minimiert, dass die eigentlich zur Behandlung abgegebenen Substanzen in Tat und Wahrheit weiter verdealt werden.

In der Gesellschaft integriert

Aktuell befinden sich laut Bitterli 390 abhängige Personen aus allen Gesellschaftsschichten bei Contact in der Suchtbehandlung, jede Therapie vom Kantonsärztlichen Dienst einzeln bewilligt. Die ältesten Patient*innen sind im Pensionsalter und begannen ihre Drogenlaufbahn in der Kocherpark-Epoche. «Die Zusammensetzung unserer Klientel», sagt Bitterli, «kann man mit derjenigen vergleichen, die Anfang der neunziger Jahre unter prekärsten Bedingungen in der offenen Szene verkehrte.» Mit dem Unterschied, dass die Betroffenen damals unter menschenunwürdigen Umständen dahinvegetierten. Heute führen sie ein weitgehend normales Leben.

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Der Eingang zum Kocherpark Anfang der 90er-Jahre. (Bild: Staatsarchiv/Jürg Spori)

Rund 20 Prozent der Patient*innen seien gut in die Gesellschaft integriert, sagt Bitterli. Sie arbeiten, studieren oder gehen sonst einer regelmässigen Beschäftigung nach, von aussen ist nicht sichtbar, dass eine anhaltende starke Abhängigkeit vorliegt. Andere sind randständig, haben Mühe, im Arbeitsmarkt Fuss zu fassen, eine Wohnung zu finden oder sich überhaupt eine Tagesstruktur zu geben. Auch für sie gibt es spezifische Betreuungsangebote. 

Individuelle Dosierung

Kernpunkt der Suchtbehandlung ist jedoch die Abgabe von Ersatzmedikamenten für Heroin. In abgeschlossenen Schränken der Suchtbehandlungsstelle stapeln sich die Medikamentenschachteln. Die Substitutionsmedikamente werden sogar in einem eigenen geschlossenen Tresor aufbewahrt. Aus dem Schubladengestell ragt eine Plastikflasche mit eigentümlichem Spender, durch den die Mitarbeitenden der Medikamentenabgabe eine rötliche Flüssigkeit in mundgerechte Dosen abfüllen: Methadon.

Bei Unverträglichkeit wird auf tablettenförmige Produkte umgestiegen, Subutex zum Beispiel. «Wir stellen Präparat und Dosis bei allen Patient*innen individuell ein», sagt Bitterli, und zwar die möglichst richtige Dosierung, damit kein Verlangen nach einem Nebenkonsum anderer Substanzen entsteht.

Krankenkasse zahlt

Ziel der Suchtbehandlung ist nicht in erster Linie die Abstinenz, sondern ein beschwerdefreies Leben mit Tagesstruktur, aber ohne Beschaffungskriminalität. «Sucht ist eine chronische Krankheit», sagt Max Bitterli. Deshalb übernimmt die Krankenkassen-Grundversicherung die Kosten für die medikamentöse Behandlung.

Die meisten bleiben über sehr lange Zeit Patient*innen und holen an der Zieglerstrasse zwischen täglich und einmal pro Woche ihre verschriebene Ration ab – je nachdem, wie sie mit der Versuchung, grössere Stoffmengen schneller zu konsumieren, umgehen können. Wird Missbrauch entdeckt, steht umgehend ein Gesprächstermin an. Dass jemand aus der Suchtbehandlung geworfen wird, sei allerdings höchst selten.

Verschriebenes Heroin

Die Contact-Suchtbehandlung ist bloss ein Element im fein geflochtenen Netz der Unterstützung für Drogenabhängige, das in den letzten Jahrzehnten entstanden ist. Für die Konsumation von Drogen steht die Anlaufstelle an der Hodlerstrasse zur Verfügung, die von 700 registrierten Benutzer*innen frequentiert wird. Nur ein paar Schritte von der Praxis an der Zieglerstrasse entfernt befindet sich an der Belpstrasse die heroingestützte Behandlungsstelle Koda, die nicht von Contact, sondern von einem eigenen Verein betrieben wird.

Süchtige, die in dieses Programm aufgenommen werden, erhalten von medizinischem Fachpersonal Heroin gespritzt. Im Unterschied zur Behandlung mit Medikamenten, die das körperliche Verlangen lindern, erleben die Opioid-Süchtigen mit echtem Heroin den Flash. Koda bietet rund 200 Behandlungsplätze, finanziert ebenfalls über die Grundversicherung der Krankenkasse.

«Es wäre blauäugig, die Tatsache zu ignorieren, dass es im Kanton Bern nach wie vor viele Menschen gibt, die dauerhaft intravenös Heroin konsumieren.»

Rahel Gall, Geschäftsleiterin Stiftung Contact

Rechnet man kurz zusammen, wird klar, dass im Vergleich zu den Zeiten des Kocherparks die Zahl der Heroin-Abhängigen – wenn überhaupt –  nur geringfügig abgenommen hat. Das bestätigt Rahel Gall, Geschäftsleiterin der Stiftung Contact: «Es wäre blauäugig, die Tatsache zu ignorieren, dass es im Kanton Bern nach wie vor viele Menschen gibt, die dauerhaft intravenös Heroin konsumieren.» In den letzten Jahrzehnten habe man aber gelernt, dass weder Repressionen noch Hilfsangebote alleine die Lösung seien. Sondern eine fein abgestimmte Kombination aus Repression, Prävention, Therapie und Schadensminderung.

Konkret: Wenn die Polizei Ansammlungen von Drogensüchtigen, die es bis heute immer wieder gibt, auflöst, kann sie sicher sein, dass den Vertriebenen Auffangangebote zur Verfügung stehen. Auf der anderen Seite haben die Anbieter*innen von Therapien oder Hilfestellungen die Gewähr, dass es bei repressivem Druck zu keiner Verelendung wie in den 90er-Jahren kommt, sondern betroffene Personen die schadensmindernden Angebote der Suchthilfe aufsuchen.

Konsum unter Kontrolle

Dieses Gleichgewicht, sagt Rahel Gall, sei jedoch kein Selbstläufer. Kleinste Veränderungen könnten die Balance stören – sei es, dass die Polizei ein wenig die Schraube anziehe oder sich das Angebot auf dem illegalen Drogenmarkt verändere.

Was in der Öffentlichkeit beim Thema Drogen oft aus dem Blickwinkel gerate, sei allerdings, wie viele Leute kontrolliert mit Suchtmitteln umgehen könnten. Die Konsumnachfrage hat sich von der «Verliererdroge» Heroin in Richtung aufputschender Substanzen wie etwa Ecstasy verlagert. «Mit diesen Drogen sind natürlich Risiken verbunden, die man unter keinen Umständen kleinreden darf», sagt Gall. Trotzdem könnten sie viele Menschen in vernünftigem Mass konsumieren, ohne eine Sucht zu entwickeln.

Deshalb plädiert sie dafür, als Fortsetzung der Drogenpolitik der letzten 30 Jahre «die kontraproduktiven Widersprüchlichkeiten anzugehen», die ihr nach wie vor innewohnten. Etwa die Illegalität von Substanzen wie Cannabis, dessen Suchtpotenzial nachgewiesenermassen nicht grösser sei als dasjenige von Alkohol. «Als Gesellschaft schreiben wir der Eigenverantwortung einen hohen Stellenwert zu, bei Risikosportarten zum Beispiel, wo wir Gefahren akzeptieren und autonom mit ihnen umgehen», sagt Rahel Gall. Warum wir ausgerechnet bei Drogen die Eigenverantwortung nicht höher gewichten, leuchtet ihr nicht ein.

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