«Meine Ansichten sind nicht radikal, sondern selbstverständlich»
Agota Lavoyer ist die Expertin für sexualisierte Gewalt. Ihr Renommee verdankt die Bernerin Social Media, doch ihr Einfluss reicht weit darüber hinaus.
Agota Lavoyer macht keine Kompromisse. «Glaub ihr», lautet ein Satz, den sie als zentrale Reaktion erachtet, wenn eine Frau von Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt spricht. Die Sicht des mutmasslichen Täters? Die Umstände des Vorfalls? Zweitrangig. «Wenn eine Freundin erzählt, dass ihr Haus abgebrannt sei, frage ich nicht ihren Nachbarn, ob das stimmt. Ich glaube ihr.» In allen Bereichen würden wir unseren Mitmenschen vertrauen, nur bei sexualisierter Gewalt nicht.
Um einen Kulturwandel herbeizuführen, sieht Agota Lavoyer auch die Medien in der Pflicht: «Sprache ist Macht. Wer Macht hat, trägt Verantwortung», sagte sie an einem Vortrag in Basel Anfang dieses Jahres. Entdeckt sie eine Verharmlosung, korrigiert sie den entsprechenden Text und postet ihn auf Twitter und Instagram.
Zeitung: «Wilde Partynacht endet mit Ausschaffung»
Agota Lavoyer: «Nach Vergewaltigung und Schändung ausgeschafft»
Zeitung: «Sportlehrerin hatte Sex mit Schüler»
Agota Lavoyer: «Sportlehrerin hat Schüler jahrelang vergewaltigt und sexuell ausgebeutet»
Die Mission von Agota Lavoyer ist das Ende der sogenannten Rape Culture – einer Gesellschaft, in der Vergewaltigungen und andere Formen sexualisierter Gewalt verbreitet sind, aber verharmlost und toleriert werden.
Merkmale einer Rape Culture erkennt Agota Lavoyer auch in der Schweiz. Zum einen in der Existenz von Vergewaltigungsmythen: In der Gesellschaft sei das Bild, dass bei einer Vergewaltigung ein Psychopath hinter dem Busch hervorspringt, immer noch vebreitet. Dabei stammten bei über 80 Prozent aller Vergewaltigungen die Täter aus dem nahen Umfeld. Die Rape Culture zeige sich auch im Victim Blaming – wenn anstatt dem Täter dem Opfer die Schuld für die erlittene Gewalt zugeschoben wird, etwa wegen aufreizender Kleidung oder provokativen Verhaltens.
Nur wer Deutsch spricht, gehört dazu
Agota Lavoyer sprach kein Wort Deutsch, als sie 1985 in Wohlen bei Bern in den Kindergarten kam. Seit ihre Eltern drei Jahre zuvor mit der damals einjährigen Agota aus beruflichen Gründen von Ungarn in die Schweiz gezogen waren, hatten sie mit ihr nur Ungarisch gesprochen. Sie und ihre drei Geschwister gehörten zu den einzigen Ausländer*innenkinder im Dorf. Agota Lavoyer wurde immer wieder gehänselt – bis sie Deutsch beherrschte. Ihrer weissen Hautfarbe wegen fiel niemandem mehr auf, dass sie eine Migrationsgeschichte in sich trug. Nun gehörte sie dazu.
Die erwachsene Agota Lavoyer, inzwischen 40-jährig, Mutter von vier Kindern zwischen vier und zehn Jahren, setzt sich dafür ein, dass ihre Mitmenschen gerecht behandelt werden. Zuerst als Schulsozialarbeiterin, später als Beraterin in der Opferhilfe. Parallel dazu äusserte sie sich immer häufiger auf Social Media zu ihren beiden Kernthemen, der sexualisierten Gewalt an Frauen und an Kindern.
Ihre pointierten Posts stossen auf Anklang: Das Engagement auf Twitter und Facebook hat Medien auf sie aufmerksam gemacht. Zeitungen zitieren sie als Expertin bei Vergewaltigungen, sie tritt im Schweizer Fernsehen auf und sitzt auf Podien grosser Kulturhäuser.
«Eine Journalistin, die ich vor einem halben Jahr zum Interview traf, war ganz überrascht, dass ich so lieb bin.»
Agota Lavoyer
Immer wieder begegne ihr der Vorwurf, ihre Ansichten seien «radikal», doch Lavoyer kann sich damit nicht identifizieren. «Meine Ansichten sind nicht radikal, sondern schlicht selbstverständlich.» Dass es als radikal aufgefasst werde, einem Opfer keine Schuld zuzuschreiben, sei gerade Ausdruck einer Rape Culture.
Manche Menschen würden sie als hart und einschüchternd wahrnehmen, sagt Lavoyer. «Eine Journalistin, die ich vor einem halben Jahr zum Interview traf, war ganz überrascht, dass ich so lieb bin.»
Tatsächlich: Die im digitalen Raum so geradlinige Agota Lavoyer bemüht sich im persönlichen Gespräch um Differenzierungen. Beim Treffen mit der «Hauptstadt» räumt sie zum Beispiel ein, dass es natürlich auch zu Falschanschuldigungen kommen kann, diese aber nicht häufiger sind, als bei anderen Delikten, und dass Opfer und Täter sich auch bei sexuellen Übergriffen manchmal nicht kennen.
Angestellt oder selbständig?
Bei der Arbeit führte die öffentliche Aufmerksamkeit für Agota Lavoyer immer wieder zu Diskussionen, zuerst bei der Berner Fachstelle Opferhilfe bei sexualisierter Gewalt (Lantana), später bei der Beratungsstelle Opferhilfe Solothurn. Was genau intern in Solothurn passiert ist, möchte Lavoyer nicht sagen. Nur das: «Ich war eine Verwaltungsangestellte und stand gleichzeitig in der Öffentlichkeit, ich habe unterschätzt, was das heisst.» Ihre Vorgesetzten hätten ihr vorschreiben können, wie sie sich öffentlich äussern darf. «Einen Maulkorb habe ich aber nie erhalten.»
Sie realisiert, dass sie nicht wie bisher auf Social Media weitermachen kann, wenn sie keine weiteren «Lämpen» im Beruf will. Ein Abwägungsprozess setzt ein: Eine sichere Anstellung als Leiterin der Opferhilfestelle auf der einen Seite gegen eine mögliche selbständige Erwerbsarbeit als Referentin und Expertin auf der anderen.
Für die Stelle als Leiterin der Opferhilfe Solothurn sprach, dass Lavoyer sie mit aufgebaut hatte und ihr die Arbeit mit gewaltbetroffenen Menschen sehr entsprach. Sie beriet Erwachsene und Kinder, die Gewalt erlebt hatten, klärte sie über die Konsequenzen einer strafrechtlichen Anzeige auf und begleitete sie zu Einvernahmen. «Die Opferhilfe ist für mich nach wie vor der spannendste Bereich der Sozialen Arbeit», so Lavoyer. «Ich berate sehr gerne und finde die Arbeit mit traumatisierten Menschen herausfordernd und bereichernd.»
Für die freie Tätigkeit sprach, dass sie sich wieder voll auf ihre Kerngebiete – sexualisierte Gewalt gegen Frauen und Kinder – würde konzentrieren können und die Freiheit hätte, zu tun und zu lassen, was und wie sie will.
Wer im Internet eine Expertin zu sexualisierter Gewalt sucht, findet sie. Konkurrenz ist zwar da, aber weniger bekannt.
Der Einfluss auf den Social Media-Plattformen, die Zahlen der Retweets, Likes und Kommentare steigen fast mit jedem Post. «Auf diesen Plattformen erreiche ich Leute, die sich zuvor noch nie mit sexualisierter Gewalt auseinandergesetzt haben. Das bedeutet mir sehr viel.» Der Kampf für Gerechtigkeit reicht über den digitalen Raum der Social Media hinaus, wie die zahlreichen Medienauftritte belegen.
«Wenn es jetzt nicht funktioniert mit der Selbständigkeit, dann wird es nie funktionieren.» Sobald sie das realisiert habe, sei ihre Entscheidung festgestanden. Per Ende 2021 kündet sie ihre Stelle in Solothurn. Agota Lavoyer profitiert von ihrem Namen. Wer im Internet eine Expertin zu sexualisierter Gewalt sucht, findet sie. Konkurrenz ist zwar da, aber weniger bekannt.
Via Indien und London nach Bern
Soziale Ungerechtigkeiten beschäftigen Agota Lavoyer seit ihrer Kindheit. In der Primarschule war sie es, die trotz ihrer Schüchternheit eingriff, wenn andere Kinder gemobbt oder ausgeschlossen wurden. Am Gymnasium las sie Texte zur Todesstrafe und zettelte in ihrem Freund*innenkreis Diskussionen darüber an. Dazu tauchte sie in die Bücher von Nietzsche und Dostojewski ein, aus Interesse daran, «wie die Menschen miteinander umgehen».
Weil sie «etwas Soziales» arbeiten wollte, begann sie ein Studium der Sozialen Arbeit an der Universität Freiburg. Mehrmals reiste sie in dieser Zeit nach Indien und entdeckte dort die Heilkunst des Ayurveda. Diese Alternative zur Schulmedizin faszinierte sie derart, dass sie ihr Studium schmiss, um in Indien Ayurveda zu studieren.
«Ich war auf der Suche», sagt Agota Lavoyer heute über ihre frühen Zwanzigerjahre.
Zu mehr als einer Besichtigung der Schule kam es nicht. «Ein abgelegenes Dorf, in dem ich die einzige Frau aus dem Westen gewesen wäre, konnte ich mir nicht vorstellen» Sie zog nach London, doch auch dort fand sie ihren Platz nicht: Nach zwei Wochen brach sie die Ayurveda-Ausbildung ab.
Eine prägende Arbeitserfahrung
Zurück in der Schweiz arbeitete sie bei BrainStore, einer Ideenfabrik in Biel, traf auf Leute ausserhalb ihrer «Hippie Bubble». Ein Weckruf: «Ich merkte, dass viele, die Toleranz predigten, selbst intolerant waren, wenn jemand was anderes machte als das, was sie für richtig fanden.» Als Beispiel nennt sie den Fleischkonsum.
Agota Lavoyer nahm ihr angestammtes Studium wieder auf. Nebenbei arbeitete sie bei einer feministischen Friedensorganisation. Von Bern aus koordinierte sie Projekte in der ganzen Welt. «Ich verteilte das Geld, doch die spannende Arbeit machten andere. Da merkte ich, dass ich viel lieber direkt mit jenen Menschen arbeiten will, die Hilfe brauchen.»
Die Beratung von Betroffenen von sexualisierter Gewalt und von Fachpersonen fehle ihr, seit sie nicht mehr bei der Opferhilfe arbeite, sagt Agota Lavoyer. Angesprochen auf ihre letzte Beratung muss sie keine Sekunde überlegen: «Das war am letzten Arbeitstag, am 29. Dezember, ein Telefongespräch.»
Gelegenheiten, mit Hilfesuchenden in Kontakt zu treten, hat sie aber immer noch zur Genüge. Ihre Postfächer auf Social Media sind voll mit Anfragen von Betroffenen. «Ihnen nicht zu antworten, fühlt sich furchtbar unanständig an.» Eine Handhabe habe sie bisher noch nicht gefunden. So schreibt sie einigen zurück – ironischerweise dann, wenn sie eine Pause von ihrer eigentlichen Arbeit braucht.
Hassnachrichten dagegen liegen «relativ wenig» in ihren digitalen Postfächern, «ich staune.» Erst zweimal hat sie bisher Anzeige erstattet. Ihre These: «Meine Rolle als Fachperson schützt mich. Stünde ich als Betroffene in der Öffentlichkeit, würde ich viel mehr Hass abkriegen.» Grösser sei die Zahl «blöder Anmachen.» Deren Absender blockiert sie.
Findet sie Zeit für ein Aarebad?
Lange nutzte Lavoyer Facebook einzig als Privatperson, postete Ferienfotos und andere Banalitäten. Bis das Schweizer Fernsehen 2016 eine Dok-Sendung über Jolanda Spiess-Hegglin ausstrahlte: «Die Sendung löste eine Diskussion in der Öffentlichkeit aus. Meine Empörung über die Menschen, die Spiess-Hegglin für eine Lügnerin hielten, habe ich auf Facebook kundgetan und sie ist auf Interesse gestossen.»
Die Likes und Kommentare der Leser*innen motivierten Lavoyer, weitere Texte öffentlich zu teilen. Aber nur Menschen, die sie persönlich kannte, nahm sie als Facebook-Freund*innen an. «Selbst eine Freundschaftsanfrage von Jolanda Spiess-Hegglin habe ich damals abgelehnt.» Doch schon kurze Zeit später stellte sie ihr Profil auf öffentlich. Heute schätzt sie die dadurch entstandenen Kontakte und Netzwerke sehr.
2019 riet ihr eine Freundin, das Engagement auf Twitter auszuweiten, «weil es dort mehr fägt». Lavoyer befolgte den Rat. Mit der Kampagne zur Revision des Sexualstrafrechts von Amnesty Schweiz, bei der Lavoyer in ihrer Rolle als Opferberaterin als Expertin mitwirkte, stieg ihre Reichweite rasant. Seither ist ihr Profil ein Selbstläufer, da ihre Posts in den entsprechenden Bubbles fleissig geteilt werden.
Nach knapp drei Monaten Selbständigkeit zeigt sich, dass sich die digitale Reichweite in bezahlte Arbeitsaufträge ummünzen lässt. Bis Juni ist Agota Lavoyer ausgebucht – und das, ohne aktiv Anfragen an potenzielle Kund*innen verschickt zu haben. Sie hält Referate und Schulungen in Betrieben und an Hochschulen, schreibt eine Kolumne und begleitet Projekte als Expertin. Darunter eines der Kantonspolizei Bern, die ab dem neuen Schuljahr Präventionsworkshops gegen sexualisierte Gewalt in Schulen anbieten will. Und im Sommer erscheint ihr erstes Kinderfachbuch, das Eltern und Lehrpersonen helfen soll, mit Kindern über sexualisierte Gewalt zu sprechen.
Zwischen Arbeit, Haushalt und Kinderbetreuung, die sie sich an ihrem Wohnort Mittelhäusern zur Hälfte mit ihrem Mann teilt, bleibt kaum Zeit, über die Agota Lavoyer frei verfügen kann. An ihren letzten Aareschwumm kann sie sich nicht erinnern. Von ihrem neuen Büro aus ist der Weg ins Marzili aber nicht weit. Vielleicht liegt in diesem Sommer eine Abkühlung drin.
--
Über welche Berner Persönlichkeit möchtest du ein Porträt in der «Hauptstadt» lesen? Schreib uns: [email protected].