Unsterbliche Wörter – Askforce-Selection #59

Wörter sterben aus, sagt man. Aber verschwinden sie wirklich? Was sicher ist: Sie treiben die Askforce zu gedanklichen Höhenflügen.

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Das denkende Hirn der Askforce. (Bild: Pia Zibulski)

Von A wie aagattige oder aarig über B wie bolochtig oder Bürzigritte und C wie chydig oder Credit Suisse – bis hin zu Z wie Zimis oder Zirpegigu: Eine ganze Reihe von Dialektwörtern ist dem Vernehmen nach im Begriff auszusterben. Rührige Wörtersammlerinnen und -sammler chüderlen dem siechen Wortschatz, verbybääbele ihn schier und errichten Wörteraltersheime, oft in Buchform. Das sind meist geschlossene Einrichtungen. Aber das hat wohl alles seine Berechtigung.

Unsere Fragestellerin, Andrea T. aus Köniz, gehört nicht zu den Sammlerinnen, will aber Genaueres zum Sterben von Wörtern wissen: «Wenn ein Wort stirbt: Tut ihm das weh? Und wer spricht es letztmals aus?»

Fragt die Askforce, Hauptstädter*innen!

Die Askforce nennt sich selber «Berns bewährte Fachinstanz für alles, die Antworten auf Fragen liefert, die viele nicht zu stellen wagen». Mit anderen Worten: Keine Frage ist zu abwegig. Das ist eine Aufforderung an alle Hauptstädter*innen: Deckt die Askforce mit euren lebenswichtigen Fragen ein – an diese Adresse: [email protected].

Über 20 Jahre lang erschien die Askforce wöchentlich im Bund und erarbeitete sich den Ruf, die schrägste Kolumne der Schweiz zu sein. Als Bund und BZ im Herbst 2021 fusionierten, verschwand die Askforce aus dem Traditionsblatt, verewigte sich in einem Buch und tauchte als Startup Anfang 2022 wieder auf.

Wir stellen uns zunächst vor, was sich Andrea T. wohl vorstellt: Wie sterbende Wörter still und ohne ein Sterbenswörtchen von sich zu geben hinausgleiten auf den schwarzglänzenden, lautlosen Ozean der toten Sprachen; wie sie dort noch letzte, traurige, schmerzvolle Blicke zurück werfen; wie sie dann stumm und erlöst wirkend in den Fluten versinken. Ja, Andrea, dieses Bild hat etwas Poetisches ...

... und ist katzfalsch. Denn wenn wir, die wir am Ufer stehen, hinausblicken und zur Abdankung ansetzen – «... das schöne Wort ‹Blääterlischyt› ist viel zu früh von uns gegangen ...» –, dann, zack, ist das vermeintlich tote Wort wieder lebendig; sogar lebendiger als zuvor, denn nun werden auch all unsere Leser*innen eine Wasserwaage künftig Blääterlischyt nennen. Wer auch immer ein Wort als Letzter oder Letzte nennen will, lässt es aufleben. 

Das Bild vom Wesen, das lebt, altert und dann stirbt, taugt für Wörter eben nicht. Zum Glück nicht! Hätten sie ein Leben in diesem Sinne, wären sie zwar sterblich. Aber dann könnten störende Wörter – zwecks Bereinigung der Sprache – auch von irgendwem exekutiert werden. Oder unglückliche Wörter könnten völlig unerwartet den Freitod wählen: Sie würden uns – mitten im noch nicht zu Ende gesprochenen Satz – plötzlich fehlen. Sie stünden uns einfach nicht mehr zur Verfügung.

Nun bliebe noch die von Andrea T. gar nicht gestellte Frage: Und wie geht eine Wortgeburt vor sich? Braucht es Wortväter und Wortmütter, die einem Wortstammhalter in die Welt verhelfen? Oder entsteht jedes Wort parthenogenetisch? Oder ist ein jedes eine Kopfgeburt ganz à la Zeus, dem die Athene aus dem schmerzenden Schädel entsprang (allerdings erst, nachdem Hephaistos ihm kräftig eins über die Rübe gezogen hatte)? Wir bleiben dran – und sagen nur: pretzschnork!

Pretzschnork? Füttern Sie das Wort Ihrer Suchmaschine, wird sie nichts finden. Sie müssen dem Begriff aber auch nicht weiter nachstudieren. Es hat sich hier bloss eine Spontanwortgeburt ereignet: Eben erst entstanden, hat das Wort noch gar keine Wortbedeutung und wird wohl nie jemandem helfen, sich präziser auszudrücken. Vielleicht müssen wir es abtue? Aber das ist eben gar nicht so einfach.

Askforce-Selection #59, 9. August 2024

Glossar

aagattige: anpacken, anfangen, in Gang bringen

aarig: merkwürdig, seltsam, sonderbar

abtue: alte, kranke oder verletzte Tiere töten

Blàätterlischyt: Wasserwaage

bolochtig: gross, schwer, wuchtig, massig

Büppihutte: Büstenhalter (derb/familiär) 

Broffel/Broffu: Zahn (D Broffle fiegge: Die Zähne putzen); abgebrochener Ast

Bürzi: aufgebundener Haarknoten

Bürzigritte: Angehörige einer freikirchlichen Gemeinschaft chydig: finster (e chydigi Nacht)

Credit Suisse auch Gredsisuiss: etwas gradlinig – gredi – gegen die Wand Gefahrenes

Chüderle: liebevoll umsorgen; schmeicheln, schäkern, schöntun

pretzschnork: Wortbedeutung unbekannt; erstmals am 15. Juli 2024 aufgetaucht

Tüürigsusglych: Wortbedeutung unklar

verbybääbele: verhätscheln, verwöhnen, verziehen

Zimis: Mittagessen oder Zwischenverpflegung (Znüni, Zvieri)

Zirpegigu: Trottel, Armleuchte, Idiot (stadtbernischer Ausdruck)

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