Ungelesene Wörter – Askforce-Selection #76

Wörter schreibt man, damit sie gelesen werden. Auch in der «Hauptstadt». Was aber passiert mit ihnen, wenn niemand sie liest? Der Askforce antwortet mit Wörtern, die man lesen sollte.

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Das wörtersuchende Hirn der Askforce. (Bild: Pia Zibulski)

Als Erstes lösche sie am Morgen oft unzählige E-Mails – ungeöffnet. Dabei spüre sie ein leichtes Unwohlsein. «Was passiert mit all den ungelesenen Wörtern?», fragt Seraina M. aus Zürich. Bei gesprochenen Wörtern sei es ja einfacher: «Gesagt ist gesagt; Gesagtes kann man nicht ungesagt machen.»

Sehr schwierig, Frau M., sehr schwierig. Wir könnten jetzt versuchen, lustig zu sein, und auf Redensarten verweisen, die in waldreichen Gegenden gebräuchlich sein könnten: «Gesägt, gefällt.» Oder: «Nicht alles, was sich sägen lässt, muss gesägt werden.» Und wir könnten schliesslich mit einer neuen Ethikleitlinie für die Forstindustrie aufwarten: «Sägen, was ist.»

Fragt die Askforce, Hauptstädter*innen!

Die Askforce nennt sich selber «Berns bewährte Fachinstanz für alles, die Antworten auf Fragen liefert, die viele nicht zu stellen wagen». Mit anderen Worten: Keine Frage ist zu abwegig. Das ist eine Aufforderung an alle Hauptstädter*innen: Deckt die Askforce mit euren lebenswichtigen Fragen ein – an diese Adresse: [email protected].

Über 20 Jahre lang erschien die Askforce wöchentlich im Bund und erarbeitete sich den Ruf, die schrägste Kolumne der Schweiz zu sein. Als Bund und BZ im Herbst 2021 fusionierten, verschwand die Askforce aus dem Traditionsblatt, verewigte sich in einem Buch und tauchte als Startup Anfang 2022 wieder auf.

Die Angelegenheit ist aber alles andere als lustig: Denn mit Ihrer Frage befinden wir uns schlagartig mittendrin im Kreis der Fragen, die einen von allen Seiten und auf existenzielle Weise anfallen können. Ihr leichtes Unwohlsein, Frau M., verspüren Sie ja nicht wegen der Menschen, die enttäuscht sein könnten, weil Sie ihnen nicht antworten. Was Sie tief in Ihrem Innern kalt anfasst, sind die ungelesenen Wörter an und für sich. Wir haben Sie in dem Punkt schon verstanden.

Doch welche Bewandtnis hat es damit? Unsere Antwort mag Sie erstaunen: Diese Wörter sind nichts Besonderes. Sie standen zwar kurzzeitig nahe bei Ihnen, reihten sich dann aber klaglos wieder ein in die Menge all jener Objekte und Lebewesen, die zwar existieren, von denen Sie jedoch nichts wissen.

Und davon gibt es sehr, sehr viele. Nur schon von den allermeisten Menschen, die in Bern leben, wissen sie nichts. Und allein in Deutschland gibt es über 50 Städte, die grösser sind als Bern. Städte, von denen Sie und wir – bis auf ein paar Ausnahmen – nicht viel mehr kennen als den Namen. Und in einigen wenigen Fällen womöglich nicht einmal den. Oder haben Sie schon von Neuss gehört? Oder von Herne und Hamm?

Hinter diesen Gedanken schlummern weitere Fragen, die ein noch grösseres Unwohlsein hervorrufen können: Was ist etwas, wenn kein Mensch es betrachtet? Was wäre unsere Welt ohne Menschen? Was ist anders geworden mit unserer Erde, als wir gekommen sind und angefangen haben, sie zu sehen und nachzudenken? Ist es letztlich diese Frage, die Sie uns stellten, Frau M.: Was hätte all das für einen Sinn, wenn niemand da wäre, der diese Frage stellen kann?

Aber was soll das alles? Vermutlich lesen Sie unsere Antwort ja gar nicht.

Askforce-Selection #76, 4. Juli 2025

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