Der Lehrplan kennt nur zwei Geschlechter
Wie werden Berner Jugendliche im 2022 aufgeklärt? Ein Besuch bei einer Oberstufenklasse zeigt: Anders als früher, zum Glück.
Auf dem Boden des Schulzimmers liegen Kondome, eine Packung Verhütungspillen und ein Hormonring. Eine junge Frau lässt eine Kupferspirale am langen Faden baumeln, weiss nicht so recht, wie sie den Gegenstand anfassen soll. Sie und ihre 14 Mitschüler*innen einer Thuner Oberstufenklasse haben gerade Besuch von Luca Grieco und Livia Zosso. Die Berner Medizinstudent*innen sind Teil des Vereins «Achtung Liebe», der «zeitgemässe, spielerische und altersgerechte Aufklärung» für Jugendliche ab der sechsten Klasse anbietet.
Lehrer*innen sind nicht dabei während des Unterrichts von «Achtung Liebe» und erfahren nicht, wer aus der Klasse was gefragt hat. Die Student*innen von «Achtung Liebe» sind meist jünger als die Lehrer*innen und somit näher dran am Lebensgefühl der Jugendlichen. Dieser Rahmen soll den Schüler*innen einen freieren Zugang zur Sexualaufklärung geben.
Seit in der Schweiz 1904 im Kanton Waadt erstmals Gymnasiasten – nur Jungen! – über die Gefahren des Geschlechtsverkehrs informiert wurden, hat sich der schulische Aufklärungsunterricht stark gewandelt: Lange ging es darum, die «Triebe» zu kontrollieren. Erst mit der Erfindung der Verhütungspille 1961 verbreitete sich langsam die Idee von Sexualität als positiver Energiequelle. Ab den 1980er-Jahren wurde der Unterricht in den meisten Schweizer Schulen obligatorisch, da er auch als Prävention gegen Krankheiten wie Aids diente.
Die Themen wurden im Naturkundeunterricht abgehandelt, die Inhalte auf ihre biologischen Dimensionen beschränkt. Das griff zu kurz. Denn: Aufgeklärte Kinder sind besser gegen sexuelle Ausbeutung geschützt, wie auch Agota Lavoyer, Expertin für sexualisierte Gewalt, erklärt. Dazu kommt, dass Kinder seit dem Aufkommen von Social Media bereits vor der Pubertät mit sexualisierten Inhalten in Kontakt kommen. Und die Frage nach Geschlechteridentitäten ist heute kein Nischenthema mehr.
Hält der schulische Aufklärungsunterricht im Jahr 2022 mit diesem Zeitgeist mit?
Festgeschrieben sind die Inhalte des Aufklärungsunterrichts im Lehrplan 21 (LP 21), der in 21 deutsch- und mehrsprachigen Kantonen gilt; seit 2018 auch im Kanton Bern. Marie-Lou Nussbaum von der Pädagogischen Hochschule Bern (PH) ist Dozentin für Schulische Sexualerziehung und lehrt angehenden Primarlehrer*innen, wie sie den im LP21 vorgesehenen Aufklärungsunterricht gestalten können.
Viel Zeit steht ihr dafür nicht zur Verfügung: Gerade mal 90 Minuten des dreijährigen Bachelor-Studiums sind für die «Grundlagen der Schulischen Sexualpädagogik» reserviert. Immerhin können Student*innen mit besonderem Interesse ein Wahlmodul besuchen, das ein ganzes Semester dauert. «Klar finde ich, dass mehr Stunden nötig wären. Aber das denkt jede Dozentin über ihr Fach», sagt Nussbaum.
Anders als beim Vorgängermodell existiert im LP 21 kein eigenes Kapitel zum Aufklärungsunterricht – die Inhalte sind in verschiedenen Fächern verstreut. «Vom Stoff her hat sich aber nicht viel verändert.»
Negativ sei das nicht, da bereits der vorangehende Lehrplan sehr gut gewesen sei in Bezug auf die Sexualerziehung. «Einzig im Bereich Geschlecht und Geschlechtervielfalt ist der LP 21 leider nicht zeitgemäss. Er kennt nur zwei Geschlechter», sagt Nussbaum. «Das liegt aber in der Natur der Sache: Ein Lehrplan hinkt immer seiner Zeit hinterher.» Auf diesen Rückstand weist Nussbaum ihre Student*innen hin. Lehrpläne müssten sowieso ausgelegt werden, und bei einer zeitgemässen Auslegung habe auch Geschlechtervielfalt im Aufklärungsunterricht ihren Platz. Also die Tatsache, dass es Menschen gibt, deren Geschlechtsmerkmale nicht eindeutig sind oder die sich mit dem ihnen zugeschriebenen Geschlecht nicht identifizieren können.
Der LP 21 sieht auf allen Stufen Themen vor, die Sexualerziehung betreffen. Vom Kindergarten bis zur zweiten Klasse behandelt er unter anderem die grundlegenden Unterschiede im Körperbau zwischen Mädchen und Buben sowie Aspekte der Prävention sexueller Ausbeutung. Zwischen der dritten und sechsten Klasse werden die Inhalte differenzierter. Es geht um die Pubertätsentwicklung, den Bau und die Funktion der Geschlechtsorgane und unterschiedliche Lebensweisen. Ab der 7. Klasse kommen Themen wie Geschlechtskrankheiten und Medienkonsum und Sexualität dazu.
Bei der konkreten Umsetzung der Inhalte haben die Lehrer*innen einen grossen Spielraum. So ist es etwa zulässig, dass eine Lehrperson das Thema Prävention abhandelt, indem sie einzig ein Infoblatt verteilt. «Daran zeigt sich dann die pädagogische Kompetenz einer Lehrperson», sagt Nussbaum. Dass die Umsetzung der Inhalte mit der unterrichtenden Person steht und fällt, sei aber keine Eigenart der Sexualerziehung, das sei bei jedem Fach so.
Viele Lehrer*innen im Kanton Bern ziehen für den Aufklärungsunterricht eine externe Fachperson bei. Zum Beispiel die Sexualpädagogin Sarah Reist. Sie arbeitet bei der Stiftung Berner Gesundheit, die dreistündige Gruppengespräche für Schüler*innen ab der sechsten Klasse anbietet, als Ergänzung zum Aufklärungsunterricht in der Schule. Jede Woche besuchen rund sieben Klassen aus dem ganzen Kanton die Gruppengespräche im Berner Monbijouquartier. Dauert die Anfahrt mehr als 45 Minuten, reisen die Sexualpädagog*innen zu den Klassen. Die Gespräche finden für Mädchen und Buben getrennt statt, ohne Anwesenheit ihrer Lehrperson.
«Bei uns können die Schüler*innen persönliche Sachen besprechen, die in der Schule vielleicht peinlich wären», sagt Sarah Reist. Immer auf dem Programm stehen die Themen sexuelle Gewalt, «Pille danach» und sexuelle Orientierung. Den Rest passt Reist je nach Interesse, Alter und Wissensstand der Schüler*innen an.
Seit acht Jahren führt die Sexulapädagogin Klassengespräche mit Mädchen. Sie beobachtet, dass durch Social Media das Vorwissen wachse: «Besonders über LGBTQ-Themen wissen die Schülerinnen Bescheid. Auch, weil sich immer mehr öffentliche Personen outen; das ist begrüssenswert.» Allerdings erlebe sie immer mal wieder, dass Schülerinnen falsche Informationen von Instagram und Tiktok mitnehmen. Etwa, dass der Konsum einer bestimmten Anzahl Datteln pro Tag Mensschmerzen beseitige.
Bei grundlegenden Dingen hingegen stellt Sarah Reist immer noch einen grossen Aufholbedarf fest: «Ich staune immer wieder, dass Mädchen nicht wissen, dass sie drei Körperöffnungen zwischen den Beinen haben und was deren Funktion ist oder dass sie den Cervix-Schleim nicht kennen.»
Neben den Schulen und den ergänzenden Angeboten sieht Sarah Reist auch die erziehenden Personen in der Pflicht, Kinder aufzuklären. Und zwar schon die Kleinsten.
«Als mein dreijähriger Sohn einen Tampon fand, erklärte ich ihm, wozu der dient», sagt Reist. Es gebe zig Gelegenheiten im Alltag, um Kinder an ein altersgerechtes Sexualwissen heranzuführen; etwa, wenn die Mutter schwanger ist. «Es ist spannend: Den Kindern bringt man bei, jedes Körperteil zu benennen. Aber bei den Geschlechtsteilen werden manche zögerlich.» Dabei wäre das ein guter Schutz gegen sexuelle Gewalt: «Nur wer die Namen der Körperteile kennt, kann benennen, an dieser Stelle berührt worden zu sein.»
Luca Grieco und Livia Zosso sprechen mit der Thuner Oberstufenklasse inzwischen über «Consent». Damit ist gemeint, dass alle Menschen, die gemeinsam sexuelle Handlungen vornehmen, mit diesen einverstanden sind. «Euer Körper gehört euch. Ihr seid niemandem etwas schuldig», sagt Zosso. Die Klasse schweigt, einige nicken zögerlich.
Knapp drei Stunden dauert der Besuch von «Achtung Liebe». Neben den Verhütungsmethoden und dem Einvernehmen geht es lange um Geschlechtsidentitäten. Hetero, homo, bi, trans, a, pan, demi, grey. Es bleibt ruhig im Klassenzimmer. Die Konzepte hätten sie schon von Social Media gekannt, sagen einige Mädchen nach dem Unterricht. Sie bestätigen also die Beobachtung von Sexualpädagogin Sarah Reist, wonach die Schüler*innen in diesem Themenbereich ein grösseres Wissen als ihre Vorgängergenerationen mitbringen.
Leben kommt in die Klasse, als Grieco und Zosso die Zettel vorlesen mit den Fragen, welche die Schüler*innen im Voraus haben einreichen können. «Darf man Sperma trinken?» – «Kann ein Penis brechen?» – «Ist Homosexualität behandelbar?» Gekicher.
Die kostenlosen Klassengespräche bei der Stiftung Berner Gesundheit sind begehrt: Für das kommende Schuljahr hat es nur noch sehr wenige freie Termine. Bei «Achtung Liebe» nimmt die Zahl der Anfragen zu, viele Lehrer*innen würden sie nach einem Besuch gleich für das nächste Jahr buchen, sagt Livia Zosso.
Mit dem zeitgemässen Lehrplan und den ergänzenden Angeboten besteht eine Infrastruktur, die einen Aufklärungsunterricht erlaubt, der dem Zeitgeist entspricht. Ob dieses Potenzial genutzt wird, hängt aber vor allem von den Lehrer*innen ab.
Und nicht zuletzt von den Schüler*innen. Mit dem Alter verändern sich ihre Fragen, ihre Beziehungen und Körper stellen sie laufend vor neue Herausforderungen. Eine der Hauptbotschaften, die Sarah Reist den Schülerinnen mitgibt, ist darum eine grundlegende: «Sie können sich jederzeit an uns wenden. Wichtig ist, dass sie eine Anlaufstelle haben und nicht allein gelassen werden mit ihren Fragen.»