Neue Fasern braucht das Land
Die Textilindustrie gehört zu den weltweit grössten Klimasünder*innen. Das Berner Startup Oceansafe will das ändern – mit einem überaus ehrgeizigen Plan.
Die Stauffacherstrasse im Wylerfeld: Hier hat die Leinenweberei Schwob ein bedeutendes Stück Berner Industriegeschichte geschrieben und das Land mit Konfektions- und Strickwaren versorgt. Tempi passati. Heute ist das Quartier eher von Kleingewerbe geprägt.
Doch ein Jungunternehmen schickt sich an, Bern wieder auf die Landkarte der Textilindustrie zu rücken: Oceansafe. Das Büro des Startups liegt zwischen einem Veloladen und einem Hunde-Reformhaus. Es ist über einen unscheinbaren Eingang und eine enge, dunkle Treppe zu erreichen. Wird ausgerechnet von hier aus die globale Textilwirtschaft grundlegend revolutioniert?
Dieser Ansicht ist zumindest Oceansafe-CEO Manuel Schweizer. Er verspricht nichts weniger als eine «Radikalinnovation» für seine Branche. Was ihn daran glauben lässt, steht in einem Zylinderglas vor ihm auf dem Tisch. In ihm befinden sich weisse Kügelchen, die in Maschinen gefüllt werden, welche daraus Kunstfasern spinnen. Nur handelt es sich dabei nicht um gewöhnliches Polyester, das weltweit jährlich im Umfang von 100 Millionen Tonnen für die Kleiderherstellung verwendet wird.
Schweizers neuentwickelte Kunstfaser heisst «naNea». Ihre wichtigsten Vorzüge: Das aus ihm gesponnene Garn ist komplett biologisch abbaubar. Anders als Polyester, das erst nach mehreren Jahrhunderten verrottet, löst sich «naNea» gemäss Schweizer nach rund 100 Tagen in Meerwasser bereits zu 93 Prozent auf. Kleider aus Polyester zersetzen sich, wenn sie falsch entsorgt werden, dagegen zu Mikroplastik, das gerade in den Ozeanen zu einem Problem geworden ist.
«Ausserdem ist die Recyclingfähigkeit bei unserem Produkt bedeutend besser als bei Polyester», so Schweizer. Es kann aufgrund seiner Zusammensetzung nicht nur selbst besser aufbereitet werden, sondern auch dem Recycling von PET-Flaschen hinzugegeben werden. Ein weiterer Vorteil: Die Faser benötigt 20 Prozent weniger Farbe als herkömmliches Polyester.
Es bleibt aber die Gretchenfrage – woraus besteht «naNea»? Das Startup gibt dazu an, dass es zu dessen Herstellung fossile Rohstoffe wie existierende Polyesterfasern «chemisch rezykliert». Es findet gemäss Schweizer dabei eine «Depolymerisierung» statt, an dessen Ende der hochwertige Teil des Ausgangsstoffes weiterverwendet werden kann. Ist «naNea» erst einmal zu einem Kleidungsstück verarbeitet, kann laut Angaben des Startups 98 Prozent von ihm am Ende der Lebensdauer rezykliert werden.
Kleider aus Abfällen
Es mag daran liegen, dass er erst am Vortag aus den Ferien zurückgekehrt ist. Schweizer sprüht an diesem Tag Ende Juli vor Energie und Selbstbewusstsein, wenn er durch die Räume seines Startups führt. Er spricht in Anekdoten, die er mit viel Verve ineinander verwebt und sich manchmal in ihnen zu verwickeln droht. Immer im Zentrum: Die aktuelle Textilwirtschaft, die in einer Sackgasse steckt.
Und für die er glaubt, einen Ausweg zu kennen. «Niemand hat es so konsequent gemacht wie wir», ist er überzeugt und zeigt Stoffproben, Vorhänge und Kleider, die aus den neuartigen Fasern bestehen. «Top Performance, aber schnell abbaubar, wenn sie nicht mehr nützlich sind», fasst Schweizer zusammen.
Sie enthalten zum Beispiel «CoNea», ein sogenanntes Biopolymer. Es ist die zweite grosse Eigenentwicklung von Oceansafe – und besteht laut dem Hersteller, anders als «naNea», vollständig aus einem biologischen Rohstoff. Sein wesentlicher Bestandteil ist Lignin, das bei der Papierherstellung in grossen Mengen als Abfall zurückbleibt und deshalb gemäss Schweizer relativ leicht zu beschaffen ist. Kleider aus «CoNea» haben laut dem Hersteller einen gleichen Tragekomfort wie Baumwolle, ohne jedoch den gleichen ökologischen Fussabdruck zu hinterlassen. Zur Erinnerung: Um ein einziges Baumwoll-T-Shirt herzustellen, braucht es schätzungsweise 2700 Liter Süsswasser.
Schweizer Zivis ausgerüstet
Blaue T-Shirts auf Kleiderbügeln zeugen von einem ersten kommerziellen Erfolg. Oceansafe rüstet mit ihnen Schweizer Zivildienstleistende aus. Der Clou: Das Shirt ist «kreislauffähig». Oceansafe nimmt es am Ende seiner Lebensdauer wieder zurück und verarbeitet es laut eigenen Angaben «ohne Qualitätsverlust» wieder zu neuen Kleidern. Für diese Neuschöpfung konnte das Unternehmen 2023 den Schweizer Designpreis entgegennehmen.
Auszeichnungen wie diese bestärken den 58-jährigen Manuel Schweizer, auf dem richtigen Weg zu sein. Anders als viele klassische Startup-Gründer*innen hierzulande hat er nicht Ende 20 mit einem ETH-Abschluss in der Tasche ein Unternehmen aufgebaut. Schweizer war schon über 50 Jahre alt, als er 2019 «all in» gegangen sei, wie er es nennt. Er kündigte seinen Job und steckte sein Erspartes in das Unternehmen, das er zunächst aus den eigenen vier Wänden heraus in Ittigen führte. In der Zwischenzeit unterstützt der Schweizer Technologiefonds Oceansafe in Form einer Bürgschaft von zwei Millionen Franken.
«Konsum-Wahn» nicht zu stoppen?
Schweizer war zuvor jahrelang Textilverantwortlicher bei Möbel Pfister. Ein spannender Job, sagt er, doch er hatte da schon Feuer gefangen für das Thema Kreislaufwirtschaft in der Textilindustrie. Schweizer bemüht Naturbeobachtungen, um seinen Ansatz zu erklären: «Termiten oder Ameisen schaffen Bauwerke, die stabil sind und sich trotzdem wieder problemlos zerlegen lassen. Das nenne ich Öko-Intelligenz». Die heute weltweit verbreiteten Kunstfasern sind in dieser Erzählung dagegen das genaue Gegenteil. Sie müssen mit Weichmachern, Silberbeschichtungen und anderen Zusätzen so «zurechtgebogen» werden, dass sie den stetig wachsenden Ansprüchen genügen.
Schweizer ist ausserdem der Ansicht, dass es für eine bessere Umweltbilanz einfacher und sehr wahrscheinlich schneller sei, Produkte zu verändern als die Gewohnheiten der Menschen. «Den Konsum-Wahn muss man derzeit als gegeben hinnehmen», so der Unternehmer. Tatsächlich dreht sich das Konsum-Rad in Zeiten von Ultra-Fastfashion und chinesischen Marken wie Shein immer schneller. Die Auswirkungen sind auch hierzulande spürbar.
Schweizer arbeitet zusammen mit einem zehnköpfigen Team in Bern und im deutschen Krefeld daran, dass zumindest die Folgen des «Faserhungers» abgefedert werden. Momentan sei sein Startup im Ausland bekannter als in der Schweiz. So habe zum Beispiel die Sustainable Market Initiative, welche der damalige Prinz of Wales und heutige britische König Charles 2020 ins Leben rief, Oceansafe in seine Kampagne aufgenommen.
Revival der Hanffaser?
Der von Oceansafe eingeschlagene Weg der Alternativfasern ist nur einer unter vielen. International forschen mehrere Dutzend Unternehmen an Fasern, die unter anderem aus Cellulose oder Proteinen gewonnen werden. Auch in der Schweiz gibt es Bemühungen in der Forschung, die Textilindustrie umweltverträglicher zu machen. Das Spinnlab an der Hochschule Luzern untersucht zum Beispiel das Potenzial von Natur- und Recyclingfasern und inwieweit diese sich mit etablierten Spinntechnologien zu Garn verarbeiten lassen. Anders als beim Startup Oceansafe geht es also nicht darum, einen neuen Textilgrundstoff im Labor zu entwickeln, sondern bereits früher etablierten Fasern neuen Schub zu verleihen.
«Wir arbeiten derzeit daran, dass lokal wachsende Naturfasern wie Hanf, Leinen und Brennesseln auf industriellem Niveau hergestellt werden können», sagt Brigitte Egloff am Telefon. Die Professorin leitet zusammen mit Tina Moor das Spinnlab. Der Vorteil dieser Pflanzen sei, dass sie auch in unseren Breitengraden wachsen. Allerdings stehe man bei grossflächigem Anbau und Weiterverarbeitung noch am Anfang.
Besseres Recycling dank Gütesiegel
Bei einem weiteren Bereich der Spinnlab-Forschung gibt es dagegen grössere Überschneidungen mit den Entwicklungen von Oceansafe. Egloff und Moor machen sich Gedanken über die Recyclingfähigkeit. Ein grosses Problem derzeit: Kleidungsstücke bestehen aus Mischfasern, die sich nicht sauber trennen lassen.
Die Forscherinnen suchen deshalb nach Fasern, die sich unter diesem Gesichtspunkt optimal kombinieren lassen. Sie erarbeiten ausserdem eine Art Hierarchisierung von Fasern für die Kleiderproduktion. Für welche Zwecke braucht es welche Faserqualität? Wo reicht ein Recycling-Stoff und wo braucht es eine Frischfaser? «Hier herrscht aktuell noch ein Durcheinander, was dazu führt, dass wir hochwertige Fasern für unpassende Zwecke verschwenden», so die Professorin.
Moor und Egloff setzen sich ausserdem dafür ein, dass zumindest europaweit Standards für rezyklierte Fasern gelten, so dass Textilhersteller*innen genau wissen, was sie einkaufen und weiterverarbeiten. Ein entsprechendes einheitliches Gütesiegel gebe es noch nicht. Die Recyclingfähigkeit steht auch auf der Agenda der Europäischen Union.
Sie nimmt mit der neuen Abfallrahmenrichtlinie die Hersteller*innen seit diesem Jahr stärker in die Pflicht. Wenn diese Textilprodukte auf dem europäischen Binnenmarkt verkaufen wollen, müssen sie auch die Kosten für die getrennte Sammlung, Sortierung und das Recycling tragen.
Gelingt der Durchbruch?
Zurück im Büro von Manuel Schweizer an der Berner Stauffacherstrasse. Für ihn und seine Kolleg*innen stehen entscheidende Monate an: «Wir müssen bei einem der Grossen einen Fuss in die Tür bekommen». Der frühere, selbsternannte «Öko-Romantiker» muss auf die Zahlen schauen. Noch im August fliegt Schweizer zu einem grossen Faserhersteller nach Pakistan, um einen Deal abzuschliessen. Dieser würde eine Lizenz bei Oceansafe lösen, um die Faser in Eigenregie herzustellen.
Schweizer und sein Team stehen dabei vor einer betriebswirtschaftlichen Herausforderung, mit der viele Jungunternehmen – unabhängig vom Produkt – konfrontiert sind: Je grösser die hergestellte Menge und die Zahl der Abnehmer*innen, desto wettbewerbsfähiger der Preis des eigenen Produkts. Weil Oceansafe aber noch am Anfang steht, muss es möglichst schnell Abnehmer*innen finden, um auch anderen potentiellen Kunden ein attraktives Angebot unterbreiten zu können.
Im anderen Geschäftszweig will Oceansafe direkt mit bekannten Modebrands zusammenarbeiten, die die erwähnten «coNea»- und «naNea»-Materialien zu Kollektionen etablieren. Mit dem deutschen Hugo Boss Konzern soll eine solche Kollektion laut Schweizer bereits im nächsten Jahr erscheinen. Zudem sei man mit der spanischen Inditex, Mutterkonzern des Modehauses Zara, in Gesprächen. Schweizer gehen die grossen Namen der Modebranche so leicht von den Lippen wie Kindern die Namen von grossen Fussballstars. Kaum ein Unternehmen oder CEO, zu dem der Gründer noch nicht die Fühler ausgestreckt zu haben scheint. «Ich habe fünf Jahre daran gearbeitet, mir einen Beraterstab aufzubauen, um an die Entscheidungsträger heranzukommen», so Schweizer.
2025 wird sich zeigen, ob er diese Kontakte in bare Münze umwandeln kann – und die Stauffacherstrasse nicht nur für die Leinenweberei Schwob, sondern auch für Oceansafe im kollektiven Berner Gedächtnis bleiben wird.
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