Das CO2 soll in den Beton

Um die Klimaziele zu erreichen, muss auch das Bauen nachhaltiger werden. Ein Berner Unternehmen arbeitet genau daran. Die Idee: CO2 in Recyclingkies zu binden.

Valentin Gutknecht, Gruender und co-CEO Neustark AG, fotografiert am Dienstag, 20. Februar 2024 in Bern. (Hauptstadt / Manuel Lopez)
Mal sportlich, mal in Sicherheitsmontur: Neustark-CEO Valentin Gutknecht. (Bild: Manuel Lopez)

Diese Geschichte dreht sich um Tüftler von der Bümplizer Bodenweid, eine Biogasanlage in Bremgarten und eine neue Überbauung im Burgernziel. Doch der Reihe nach.

Alles begann 2015 mit einer Asienreise. Valentin Gutknecht hatte gerade sein Betriebswirtschaftsstudium beendet und zog mit dem Rucksack los. Eine der Erkenntnisse nach sieben Monaten auf dem wirtschaftlich boomenden Kontinent: Wenn alle Menschen dort den Lebensstandard des Westens anstreben, wird es schwierig in Sachen Klima. «Danach habe ich gewusst, dass ich mich für Nachhaltigkeit engagieren will», sagt Gutknecht rückblickend. Neun Jahre später führt er gemeinsam mit Johannes Tieffenthaler ein mittelständisches Unternehmen mit 60 Angestellten: Neustark. Gutknecht sitzt in einem Besprechungsraum in einem Industriekomplex bei der Bodenweid in Bümpliz. Dort ist die Zentrale des 2019 von ihm und Johannes Tiefenthaler gegründeten Unternehmens.

Wiederverwenden und anreichern

Im Zentrum von Neustark steht eine patentierte Idee: Recyclingkies mit CO2 anzureichern, das dort permanent gebunden wird. Nur wenn dieser Recyclingkies, der in der Regel aus Abbruchbeton entsteht, auf über 1000 Grad erhitzt würde, kann der Prozess rückgängig gemacht werden.

Neustark verkauft die Technologie an Baustoffunternehmen. Diese verarbeiten den angereicherten Kies entweder mit Zement zu Beton weiter oder er landet unter dem Asphalt beim Strassenbau.

Der Vorteil: Der so hergestellte Beton ist eine CO2-Senke – denn Neustark benutzt Kohlenstoffdioxid, das von Biogasanlagen ansonsten in die Umwelt geblasen würde – und stattdessen abgefangen und in den flüssigen Zustand überführt wird. 

Die Schweiz verbraucht jährlich rund 16 Millionen Kubikmeter Beton. Derzeit wird nur ein Bruchteil davon nach dem Verfahren von Neustark hergestellt. Auch der Anteil von rezykliertem Beton ist vergleichsweise gering. Neustark geht aktuell von schweizweit 15 Prozent aus –  Deutschland liegt mit 1 Prozent noch weit darunter. Das ist vor allem deshalb wichtig, weil Beton sehr viele sogenannte graue Emissionen eines Bauwerks verursacht – konventionell hergestellter Beton umso mehr. Hier befindet sich also eine der Stellschrauben bei der CO2-Reduktion in der Baubranche. 

Grosse Ziele

Der Neustark-CEO sieht sein Unternehmen bei dieser Mission erst am Anfang, auch wenn Neustark längst kein Startup mehr ist, sondern ein «Scale-up» wie es in der Branche heisst. Das Unternehmen aus Bümpliz hat also schon ein etabliertes Geschäftsmodell und will jetzt rasant wachsen. Gutknecht – perfekt sitzende Frisur, makelloses Outfit – rechnet vor: Derzeit seien 14 Anlagen mit ihrer Technologie in Betrieb. Es bräuchte aber rund 1000 Anlagen weltweit, um sein ehrgeiziges Ziel zu erreichen: 2030 jährlich eine Million Tonnen CO2 in Beton zu binden. Die Weichen dafür wurden schon im vergangenen Jahr gestellt, als er eine Partnerschaft mit dem Zementriesen Holcim unterzeichnet hat. «Wir müssen die Belegschaft verzehnfachen», sagt Gutknecht im Hinblick auf das anstehende Wachstum.

Valentin Gutknecht, Gruender und co-CEO Neustark AG, fotografiert am Dienstag, 20. Februar 2024 in Bern. (Hauptstadt / Manuel Lopez)
Eine Versuchsanlage des Unternehmens in der Bümplizer Bodenweid. (Bild: Manuel Lopez)

Neben der Suche nach qualifiziertem Personal gibt es dabei noch andere grosse Herausforderungen: Das Unternehmen muss ausreichend Orte finden, an denen es CO2 sammeln kann und es auch genügend Platz für die Speicherung gibt. Geeignet für die Lagerung sind Silotürme. Einer von ihnen steht bei der ARA-Biogasanlage in Bremgarten unweit der Aare. 

Dort wird die komplexe Wertschöpfungskette des Unternehmens deutlich: Wenn im Winter die Temperaturen niedrig sind, wird weniger gebaut. Dementsprechend weniger Beton wird benötigt, was für Neustark bedeutet, dass sie weniger CO2 abschöpfen, um es verflüssigt in grossen Tanklastern zu den Kunden zu fahren. Das Kohlenstoffdioxid muss dabei auf Minus 20 Grad abgekühlt und mit 20 Bar Druck verdichtet werden – und hier liegt eine weitere Schwierigkeit. Je weniger Energie für den Prozess eingesetzt wird und je kürzer die Transportwege sind, desto positiver die Klimabilanz. 

Neustark geht davon aus, dass sie bei Verflüssigung, Transport und Anlagebau in der Schweiz einen Effizienzgrad von 93 Prozent erreichen – das heisst, auf eine Tonne CO2, die permanent der Atmosphäre entnommen wird, werden 70 Kilo wieder freigesetzt.

Einnahmen durch Zertifikate

Ein wichtiges Standbein für Neustark ist ausserdem der Verkauf von Zertifikaten. Mittlerweile ist das Unternehmen mit den ganz Grossen im Geschäft: Microsoft und UBS beziehen bei Neustark Zertifikate, um so ihre Netto-Null-Ziele zu erreichen. Neustark verkauft ihnen Entfernungszertifikate, mit denen nachgewiesen werden kann, wie viel CO2 permanent aus der Atmosphäre entfernt wurde. Neustark zahlt die Zertifkatseinnahmen einerseits an die Bauststoffhersteller aus und nutzt sie anderseits zur Finanzierung der CO2-Beschaffung.

Die Entfernungszertifikate Neustarks sollten nicht verwechselt werden mit Kompensationszertifikaten, die zuletzt in die Kritik geraten sind. Es sei zum Beispiel der Nutzen von Waldschutzprojekten überschätzt worden. Eine Studie, an der auch die ETH Zürich beteiligt ist, hat unterdessen herausgefunden, dass nur zwölf Prozent der verkauften Kompensationszertifikate zu tatsächlichen Emissionsreduktionen führen. 

Wo kommt der Neustark-Beton zum Einsatz?

In Bern ist beispielsweise im Schulhaus Kleefeld oder in der neuen Überbauung auf dem ehemaligen Tramdepot Burgernziel Beton verbaut worden, der nach der Neustark-Prozedur hergestellt wurde. Die beteiligte Bauunternehmung Losinger Marazzi rechnet vor, dass rund zehn Kilo CO2 pro Kubikmeter Beton in der Burgernziel-Siedlung dauerhaft gebunden wurde.

Neustark AG, fotografiert am Dienstag, 20. Februar 2024 in Bern. (Hauptstadt / Manuel Lopez)
Neustark schöpft CO2 an Biogasanlagen ab. (Bild: Manuel Lopez)

Insgesamt sei man in Bern aber noch recht zurückhaltend bei der Verwendung, findet Valentin Gutknecht. Mehr Nachfrage komme dagegen aus Zürich, wo auf Gemeindeebene klare Vorgaben für den Einsatz von rezykliertem Beton bestünden. Beispielsweise beim Bau von Schulhäusern. Auch wenn der CO2 speichernde Beton teurer sei, falle das bei millionenschweren Bauprojekten kaum ins Gewicht. «Wir sprechen hier von ein paar Zehntausend Franken Unterschied», so Gutknecht.

Damit sich alternative Baustoffformen durchsetzen können, sind nicht nur die Kosten, sondern auch Auswahlmöglichkeiten entscheidend. Und die sind gerade dabei zu entstehen. Forscher*innen an der Materialforschungsanstalt Empa entwickeln beispielsweise CO2-neutralen Beton, der mit Pflanzenkohle-Pellets versetzt ist. Ein ETH-Startup wiederum bietet einen Beton an, der ganz ohne klimaschädlichen Zement auskommt. All diese Bemühungen verfolgen ein Ziel: Den Gebäudesektor klimafreundlicher zu machen, der aktuell für rund ein Viertel aller in der Schweiz ausgestossenen CO2-Emissionen sorgt. Will die Schweiz die Vorgaben aus dem Pariser Klimaabkommen erfüllen, ist das ein wichtiger Baustein.

«Das Nachhaltigste ist immer das Nicht-Bauen»

Allen neuartigen Technologien zum Trotz: Auch Neustark-CEO Gutknecht ist der Ansicht, dass Beton nur da eingesetzt werden soll, wo es ihn auch wirklich braucht. Diese Einschätzung teilt auch die Wissenschaft. Fernanda Belizario Silva forscht an der ETH Zürich zum nachhaltigen Bauen. Sie hat bereits in ihrer Heimat São Paulo erforscht, wie Gebäude effizienter errichtet werden können, damit sie die gleiche Leistung mit weniger Baustoffen und Emissionen erzielen.

Valentin Gutknecht, Gruender und co-CEO Neustark AG, fotografiert am Dienstag, 20. Februar 2024 in Bern. (Hauptstadt / Manuel Lopez)
Im Februar 2024 hat Neustark vermeldet, dass sie 1000 Tonnen CO2 permanent aus der Atmosphäre entfernt haben. (Bild: Manuel Lopez)

Der Neustark-Ansatz sei «effizient», aber auf ihn alleine könne man nicht vertrauen, sagt Silva. «Es braucht viele verschiedene Ansätze, damit das Bauen insgesamt CO2-neutraler wird», so die Bauingenieurin. 

Silva geht davon aus, dass Materialien, die im Bauwesen hierzulande immer noch als «alternativ» angesehen werden, zunehmend ihren Weg in den «Mainstream» finden werden. Sie denkt dabei an verschiedene Erdmaterialien wie Lehm, die zum Beispiel in einem Logistikzentrum von Ricola zum Einsatz kamen. «Es geht darum, traditionelle, zum Teil in Vergessenheit geratene Bautechniken mit modernen Technologien zu kombinieren», so die ETH-Forscherin. In Nänikon, im Kanton Zürich, wurde unlängst die erste Strohballensiedlung der Schweiz eröffnet.

Wie in allen Bereichen der Energiewende, wird es auch im Bauwesen darauf ankommen, dass eine Vielzahl von unterschiedlichen Massnahmen gleichzeitig ineinandergreifen, damit umweltfreundlicheres Bauen gelingt.

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Diskussion

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Ruedi Muggli
18. April 2024 um 20:25

Wusste ich nicht, dass es schon Entfernungszertifikate gibt, die um Alltag funktionieren. Wertvolle Information!