Singen ist ihre Waffe

Rotkehlchen sind im Winter ausgesprochene Einzelgänger*innen. Laut singend markieren Männchen und Weibchen derzeit ihre Territorien.

Illustration Tierkolumne
(Bild: Natalie Neff)

Jetzt singen sie wieder. Weder kurze Tage noch kalte Temperaturen halten Rotkehlchen – mit lateinischem Namen Erithacus rubecula – davon ab, sich bemerkbar zu machen. Sogar mitten in der Nacht kann man sie singen hören. 

Doch der spätherbstliche Gesang der Männchen zielt nicht wie im Frühling darauf ab, ein Weibchen zu bezirzen. Im Gegenteil. Man will jetzt alleine sein. Das gilt nicht exklusiv für ihn. Auch Frau Rotkehlchen sucht die Einsamkeit. Darum singen nun beide Geschlechter und stecken so ihr individuelles Winterterritorium ab. 

Emanzipierte Weibchen

Mit dem Singen zeigen die Rotkehlchen-Weibchen ein auch in der Singvogelwelt unerhörtes Verhalten. Denn da singt normalerweise alleine das Männchen – dafür in höchsten Tönen – und die Weibchen hören aufmerksam zu. Das geübte weibliche Gehör vernimmt zwischen dem Trällern, Flöten und Jubilieren die Unebenheiten, das Stocken und die Misstöne. Kleine Zeichen, die ihr mitteilen, wie fit das singende Männchen ist und ob es sich lohnt, eine Elternschaft mit dem Sänger aufzubauen. 

Doch von Gedanken an Nachwuchs ist das Rotkehlchen-Weibchen derzeit weit entfernt. Es singt, um alleine zu sein. Und wehe, es taucht ein Eindringling auf. Da hört der Spass für jedes Rotkehlchen auf. Zwar wird normalerweise nicht gleich zu Beginn mit harten Bandagen gekämpft, aber auch bei Rotkehlchen kann die Gewalt eskalieren. 

In der Regel wird in einer Auseinandersetzung jedoch zuerst gesungen und zwar so, dass der Kontrahent es gut hört: Rotkehlchen erreichen Lautstärken von bis zu 100 Dezibel. Ist der Eindringling nicht gebührend beeindruckt von der Gesangseinlage, geht das Rotkehlchen zu Stufe zwei der Eskalation über: Der Revierbesitzer oder die Revierbesitzerin bringt sich knapp einen halben Meter vor dem gegnerischen Vogel in Position, plustert sich auf und zeigt ihm seine rote Brustfläche. Erst danach folgen Scheinangriff und – viel seltener – die manchmal tödlich endende Attacke.

Sie wählt ihn

So schön das Leben alleine ist, dieser ausgeprägte Hang zum Einzelgängertum erweist sich für die Fortpflanzungszeit ab März höchst problematisch. Das lösen die Rotkehlchen elegant: Sie ziehen weit weg und lassen die alten Feindseligkeiten hinter sich. Die Weibchen starten so mit einem viel tieferen Testosteronlevel – und damit einem weit weniger hohen Aggressionspotenzial – in die Brutsaison. 

Die meisten Rotkehlchen, die hierzulande den Winter verbringen, stammen aus dem Norden und kehren dorthin im Frühjahr zurück. Gleichzeitig kehren «unsere» Rotkehlchen aus ihren Überwinterungsgebieten zurück, die Männchen zuerst. Sie etablieren ihre Territorien und harren der Weibchen, die da kommen. 

Doch so einfach lassen sich alte Gewohnheiten nicht abschütteln. Hat sich ein Weibchen für ein Männchen entschieden, helfen ihr nur die leisen Töne. Denn das Männchen hält auch das Weibchen zunächst für einen Eindringling. Mit leisem Gesang und Beharrlichkeit rückt das Weibchen immer näher an das Männchen heran. Dieses reagiert überaus verunsichert und wechselt eine Zeitlang zwischen zetern, Drohgebärden zeigen und zurückweichen, bis es realisiert, dass da eigentlich sein Traum vor ihm steht: ein Weibchen.

Insekten als Leibspeise

Apropos «stehen». Rotkehlchen stehen auf Insekten, Spinnen und gar Schnecken. Körner würdigen sie keines Blickes. Wenn es denn vegetarisch sein muss, fressen sie am ehesten noch Beeren. Ihre Nahrung finden sie im Winter daher oft unter dem Laub, wo sich die Insekten zum Schutz vor der Kälte rumtreiben. 

Wer über den Winter gerne den flötenden Gesang eines Rotkehlchens vernehmen möchte, der überlässt den Garten im Winter am besten sich selbst. Wo Laub am Boden liegt und sich Insekten und Spinnen in die alten Stauden und verdorrten Blumenstängel zurückziehen können, ist der Tisch für das hungrige Rotkehlchen gedeckt.

Zur Autorin

Die Bernerin Irene Weinberger ist als Biologin spezialisiert auf einheimische Wildtiere und das Konfliktmanagement zwischen Natur und Mensch.

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