Gas geben am Gurnigel
Das Auto-Bergrennen am Gurnigelpass zieht regelmässig Tausende in den Bann. Was fasziniert sie? Eine (Reifen-)Spurensuche.
Der Motor faucht und das Fahrzeug schiesst den Berg hoch, als spielten Steigungsprozente überhaupt keine Rolle. Mit einer Urgewalt drückt es mich in die Rückbank. Wenn vor der Kurve angebremst wird, bin ich froh, an diesem Tag das Mittagessen ausgelassen zu haben. Gerade war da noch Rüti bei Riggisberg, jetzt sind wir schon im Gurnigelbad.
Am Steuer ist Armin Bucher, der mit seinem «Gölfli», wie er ihn nennt, im sogenannten Begleitcorso mitfährt. Das heisst: Die wirklichen Rennteilnehmer*innen sind noch schneller, gehen noch mehr ans Limit. Der spätere Sieger des Rennens, Marcel Steiner, ist mit 135 Stundenkilometern auf der kurvenreichen Strecke unterwegs. Im Durchschnitt, wohlgemerkt.
Rund 220 Fahrer*innen haben sich für das Bergennen, das am vergangenen Wochenende stattgefunden hat, angemeldet. Sie haben viel Geld und Zeit investiert, um mit ihren Rennkisten möglichst schnell die 3,7 Kilometer lange Strecke absolvieren zu können.
«Wie eine Sucht»
Seit 1910 fahren Menschen am Gurnigel mit ihren Autos Rennen. Der Anlass ist fest in der Region verankert. Im Vergleich zu anderen Austragungsorten der Bergrennen kommen relativ viele Zuschauer*innen an den Streckenrand — gutes Wetter vorausgesetzt. Die Dimensionen des Anlass und sein ökologischer Fussabdruck haben in den letzten Jahren aber auch Kritiker*innen auf den Plan gerufen. So zum Beispiel den Naturpark Gantrisch, der sich für einen nachhaltigen Tourismus in der Region einsetzt.
Harry Eberle ist an diesem Wochenende aus dem St. Galler Rheintal ins Gantrischgebiet gereist. Er steht im feuerfesten Rennanzug vor seinem feuerroten Opel Kadett C. Gerade ist er ins Ziel gekommen, seine Haare unterm Helm sind nassgeschwitzt. Eigentlich erinnert nur noch die Hülle an das Fahrzeug aus den 1970er Jahren. Im Inneren hat Eberle alles auf den Renneinsatz ausgerichtet: Ein Metallkäfig schützt ihn zusätzlich vor einem Unfall, ansonsten ist nur das Nötigste vorhanden. Bei der Jagd um Sekunden soll kein Gramm zu viel den Berg hinaufbefördert werden. Während Eberle die Haube öffnet, um den Motor auskühlen zu lassen, kommen wir ins Gespräch. «Fast wie eine Sucht» seien die Bergrennen für ihn. Er fährt nicht bloss am Gurnigel, sondern hat den Sommer über auch andere Bergrennen bestritten. «Saint-Ursanne, Oberhallau» – den Fahrer*innen geht das hier über die Lippen, als sei von Basel und Bern die Rede.
Während Eberle sich für einen weiteren Lauf parat macht, treffen immer mehr Zuschauer*innen ein. Der Parkplatz füllt sich. Ein tiefergelegter Dreier-BMW aus Obwalden hat den Weg in den Gantrisch gefunden. Daneben parkieren ein Suzuki-Rennzwerg und ein Honda mit Auspufftöpfen gross wie Ofenrohre. Doch auch ein handzahmer Familienvan steht dort.
Vor einem Baucontainer gegenüber vom Hotel Gurnigelbad sitzt Reinhold Turati, technischer Kommissar bei Auto Sport Schweiz. Der Verband wacht unter anderem über die Bergrennserie, die an acht unterschiedlichen Orten ausgetragen wird – Turati ist immer dabei. Was den Gurnigel ausmache? Die Strecke sei sehr anspruchsvoll: Enge Kurven, aber auch schnelle Abschnitte. «Die rasch von hell zu dunkel wechselnden Lichtverhältnisse in den Waldpassagen sind ausserdem schwer zu meistern», sagt Turati.
Direkt nebenan hat Manuela Fahrni ihr temporäres Büro aufgeschlagen. Sie arbeitet ehrenamtlich für das Sekretariat des Bergrennens – am Rennwochenende sind bis zu 150 Helfer*innen mit ihr im Einsatz. Ihr gefalle hier vor allem, dass das Fahrerlager «eine grosse Familie» sei und kein «Schickimicki» vorherrsche.
Dabei ist der Rennsport an sich ein teures Vergnügen: Die umgebauten Strassenwagen können gut und gern 100‘000 Franken kosten. Manche Rennfahrer*innen besitzen gleich mehrere von ihnen. Hinzu kommen Ausgaben für Reifen, Verschleissmaterial, Meldegebühren und den Transport der teuren Boliden.
Damit kennt sich Tamara Schöpfer aus. Die Mitzwanzigerin aus Escholzmatt lehnt an ihren bordeauxroten Golf-GTI, den sie zusammen mit Bruder und Vater Stück für Stück umgebaut hat. Seit zwei Jahren hat die gelernte Polymechanikerin eine Rennlizenz. Weil ihr Vater und Bruder ebenfalls Rennen fahren, ist Schöpfer seit Kindesbeinen beim Motorsportzirkus dabei. Jüngst schraubte und schweisste sie in Nachtschichten am Auto des Bruders, der es bei einem Crash beschädigt hatte.
Vor dem Festzelt werden Zigarillos geraucht, auf einem Grill schmoren Cervelats, und auch die Prominenz ist da: Erich Hess, der SVP-Nationalrat und SVP-Grossrat Thomas Fuchs grüssen in die Runde.
«Lieber eine Avocado weniger essen»
Im Startbereich des Rennens dröhnt es brutal – selbst eine Trinkflasche in der Hand fängt an zu vibrieren, wenn die Automotoren starten. Fehlzündungen knallen durch die Luft wie Gewehrschüsse, Abgaswolken wabern, Reifen qualmen. Es ist der infernale Mix des Bergrennens – und viele Zuschauer*innen zieht genau das an. Mindestens 10‘000 Menschen haben laut dem Veranstaltungsteam am Rennwochenende mit Campingstühlen die Hänge des Gurnigels erklommen, um eine gute Sicht aufs Renngeschehen zu haben. Die grosse Mehrheit ist männlich.
Roger Jaberg ist Motorsportfan und sagt, dass er auch wegen der Motorengeräusche gekommen sei. «Mit Elektroautos wäre es langweiliger», findet er. Umweltgedanken spielten für ihn bei diesem Anlass eine untergeordnete Rolle. Ähnlich sehen es Lino und Nico, die unter einem Schatten spendenden Festivalzelt sitzen. Die Mitzwanziger aus dem Aargau haben über Instagram vom Rennen erfahren und wollen nicht mit Nachnamen genannt werden. Zur Umweltthematik halten sie fest: «Lieber eine Avocado weniger essen und dafür zum Autorennen gehen».
Auch wenn man davon an diesem Tag nicht viel merkt, das Bergrennen findet in einem Naturpark statt. In ihm leben Gämsen, Rehe und Hirsche. Auch Luchse streifen durch die Wälder. Beim Naturpark Gantrisch heisst es auf Anfrage, dass «ein lautes Autorennen mit grossem Logistikaufwand im Gegensatz zur nachhaltigen Entwicklung der Region Naturpark Gantrisch steht».
Nachahmungseffekt?
Der Naturpark befürchtet zudem, dass durch die überregionale Ausstrahlung des Rennens auch während des Jahres viele Hobbyrennfahrer*innen auf die Passstrasse gelockt werden. Das sei sowohl für die einheimische Bevölkerung als auch für die Natur belastend. Peter Wyss, Mediensprecher des Rennens, sieht keine Indizien für einen solchen «Nachahmungseffekt». Und er fügt an, dass der Anlass alle nötigen Bewilligungen, zum Beispiel vom Kanton Bern, erhalten habe. Auch die Gemeinde Riggisberg ist dem Rennanlass wohlgesonnen. Zumindest hat sie ihm 2019 ein Darlehen in Höhe von 60‘000 Franken gewährt, wie sie auf Nachfrage bestätigt.
Nicht von der Hand zu weisen ist, dass an der Gurnigelpassstrasse auch ausserhalb des Renntags schnell gefahren wird. Bei einer Kontrolle der Kantonspolizei Bern wurden Ende Juli an einem Tag 128 Ordnungsbussen wegen zu schnellen Fahrens verteilt – fünf Fahrzeuge waren massiv zu schnell unterwegs.
Wyss unterstreicht, dass die Umweltauflagen für die Veranstalter hoch seien. Wenn es zum Beispiel einen Defekt an einer Ölwanne gäbe, würde eine entsprechende Equipe die Verunreinigung sofort säubern. Ausserdem gehe auch das Rennen mit der Zeit: «Von den Helikopterflügen für den Transport der Zuschauer*innen haben wir uns dieses Jahr verabschiedet», sagt Wyss. Ausserdem seien die Begleitfahrzeuge und einzelne Rennfahrer*innen mit synthetischem Kraftstoff unterwegs, der mindestens zu 80 Prozent CO2-neutral sei.
Ob es dagegen in naher Zukunft ein Gurnigel Bergrennen mit Elektrofahrzeugen geben wird, darf zumindest angezweifelt werden: Ein Eletroautohersteller ist zu Werbezwecken mit einem Modell am Gurnigel präsent. Der Tag läuft aber ein bisschen anders als geplant: Das Interesse der Besucher*innen sei verhalten gewesen, sagt einer der Mitarbeiter. Dafür hätten einige von ihnen nur eines für den schnittigen Elektroboliden übrig gehabt: Würgegeräusche als Zeichen ihrer Ablehnung.