«Bern braucht eine Anti-Bürokratie-Offensive»
Die Fusion mit Ostermundigen will Alec von Graffenried nutzen, um die Bürokratie zu bekämpfen. Und RGM sei kein Wohlfühlclub, sagt er zum Streit um die Stadtfinanzen. – Teil 1 des Interviews mit Berns Stadtpräsident.
Nach intensiven Fusions-Verhandlungen kennen Sie nun die Gemeinde Ostermundigen gut. Was ist Ihr Lieblingsort?
Alec von Graffenried: Es gibt viele schöne Orte. Für einmal nicht die Aare. Die fliesst nicht durch Ostermundigen (lacht). Die Gemeinde ist an der Grenze zu Bern urban und geht bis zum Steinbruch am Ostermundigenberg; .
Was hat Sie in Ostermundigen begeistert?
Die demokratische Kultur von Ostermundigen hat mich beeindruckt. Wie sie ihren Ort weiterentwickeln. Das wollen wir auch mit der Fusion beibehalten. Und begeistert hat mich die Offenheit und Konsequenz, mit der Parlament und Gemeinderat an die Fusion gingen.
Was macht Ostermundigen besser als die Stadt?
In Ostermundigen herrscht die Meinung, man sei weniger bürokratisch und habe kürzere Wege. Ostermundigen kann und soll die städtische Politik beim Bürokratieabbau gerne positiv herausfordern. Den grössten Bürokratieabbau erreichen wir aber mit der Streichung der Gemeindegrenzen.
Das Verhandlungsergebnis ist nun auf dem Tisch und in der Vernehmlassung: Warum soll Bern mit Ostermundigen fusionieren?
Weil wir können.
Und was bringt die Fusion?
Wenn wir mit der ganzen Stadtregion fusionieren könnten, würden wir das tun. Dazu ist die städtische Politik gezwungen. Zürich hat 1893 und 1934 mit rund zwanzig umliegenden Gemeinden fusioniert und hat sich so eine ganz andere Ausgangslage zur Entwicklung geschaffen als Bern, das nur auf Druck des Kantons Bümpliz eingemeindete und alle anderen Fusionen abgelehnt hat. Das war ein immenser strategischer Fehler, den wir nun etwas korrigieren können.
Was bringt die Fusion der Stadt konkret?
Sie bringt einen Bürokratieabbau durch Abbau von Grenzen. Die Stadt Bern kann sich besser organisieren und besser strategisch positionieren. Die Stadt hätte eine andere Position im Kanton, wenn die Fusionen in den 1920er-Jahren realisiert worden wären.
Was würde für die Städter*innen besser?
Grosse Gemeinden entwickeln sich besser als kleine Gemeinden. Das sieht man an Köniz. Dort, wo Köniz grün ist, ist die Gemeinde grüner als andere. Dort, wo Köniz urban ist, ist die Gemeinde dichter bebaut als andere. Für die Raumordnung und für die Wirtschaft gibt es Vorteile. Die Stadt kann für mehr Menschen die besseren Angebote zur Verfügung stellen.
Sie informieren die Bevölkerung mit einer eigens gestalteten Website. Dort steht zum Nutzen der Fusion folgender Satz: «Die Gesamtsicht auf ein grösseres Gebiet eröffnet bessere Möglichkeiten, im zusammengehörigen funktionalen Raum überzeugende Lösungen für die Einwohnerinnen und Einwohner zu entwickeln.» Wie wollen sie die Bevölkerung mit solch schrecklicher Kommunikation von der Fusion überzeugen?
Das ist sehr holprig formuliert; das werden wir korrigieren.
Übersetzen Sie uns diesen Satz bitte in eine allgemein verständliche Aussage.
Es ist das, was ich vorhin ausführte, aber sehr umständlich formuliert.
Was ist Ihre Vision für die Stadt Bern?
Wir sind in Bern eine offene, durchlässige Gesellschaft, die zusammenhält und gut zusammenarbeitet. Das sollten wir erhalten und in die Zukunft bringen. Wir stehen unter Veränderungsdruck durch einen vielfältigen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Wandel, Stichwort Digitalisierung, Stichwort Klimakrise, Stichwort Krieg in Europa, da will ich, dass es den Menschen trotzdem weiterhin gut geht.
Das ist eine brave Vision.
Wenn es den Leuten gut geht, reicht mir das.
Bei Wirtschaft und Gewerbe zählen sie auf der Fusions-Website nur Vorteile für Ostermundigen auf. Was bringt die Fusion dem Stadt-Gewerbe?
Ostermundigen stichelt ja immer, wir in der Stadt seien zu bürokratisch. Vereinfachungen würden auch dem städtischen Gewerbe etwas bringen. Daran werden wir arbeiten.
Sie wollen mit der Fusion also die Bürokratie bekämpfen. Da müssen sie nicht warten und könnten gleich beim Bauinspektorat beginnen.
Ja, das Baubewilligungsverfahren ist zu einer Krypto-Wissenschaft verkommen. Ein Laie kann das Baugesuchsformular alleine kaum mehr ausfüllen. Und sogar Spezialist*innen haben Mühe. Bern braucht hier eine Anti-Bürokratie-Offensive.
Aber es ist doch in ihrer Verantwortung, das zu verbessern.
Ja, das ist die Verantwortung des Gemeinderats. Wir müssen das angehen.
All die Menschen, die nun etwas für den Klimaschutz tun wollen und eine Wärmepumpe installieren wollen, scheitern wohl schon beim Baugesuch.
Die Komplexität von Baugesuchen ist ein untragbarer Zustand, den wir beheben müssen. Das Formular ist eine kantonale Vorlage. Da habe ich meine Wünsche schon deponiert. Wir müssen aber in der Stadt den Umgang mit falsch eingereichten Gesuchen verbessern und vereinfachen. Da müssen die Bürger*innen von der Stadt mehr Unterstützung erhalten.
Die fusionierte Stadt müsste ihre Klimaziele nach unten revidieren: Warum würden diese nicht für Ostermundigen gelten?
Sie gelten einfach etwas später. Es stärkt den Klimaschutz, wenn wir die ehrgeizigen städtischen Klimaziele auf Ostermundigen ausdehnen. Auch wenn das etwas mehr Zeit braucht als wenn wir die Stadt für sich nehmen.
Sie geben sich zwanzig Jahre Zeit, bis in Ostermundigen die städtische Klimapolitik umgesetzt werden müsste. Das wäre für einen grünen Politiker angesichts der Klimakrise doch fast eine Bankrotterklärung.
Das trifft so nicht zu.
Aber auf ihrer Website zur Fusion steht dazu: «Bis 2045 muss hier (in Ostermundigen) die gleiche Klimapolitik umgesetzt sein wie im übrigen Stadtgebiet.»
Die Ziele werden übernommen, die Umsetzung erweist sich in Ostermundigen als noch schwieriger als in Bern. Wir haben vereinbart, dass in Ostermundigen bis 2045 die gleiche Klimapolitik umgesetzt sein soll wie im übrigen Stadtgebiet. Nämlich dass bis dahin die Treibhausgasemissionen auf netto null gesenkt werden sollen. Dazu gibt die Stadt Bern einen allgemeinen Co2-Absenkpfad vor. Der Weg dorthin sieht in Ostermundigen zwar anders aus, aber bis 2045 wollen wir am gleichen Ziel sein. Der Gemeinderat der fusionierten Gemeinde muss dem Stadtrat innert zwei Jahren nach dem Zusammenschluss aufzeigen, wie er die Energie- und Klimastrategie mit Massnahmen ergänzen will, um dieses Ziel zu erreichen.
Die Fusion mit Ostermundigen kostet die Stadt in den kommenden Jahren 7,8 Millionen Franken jährlich. Dazu kommen einmalig rund 12 Millionen Franken. Lohnt sich das für die Stadt?
Ich gehe davon aus, dass es sich lohnt, ja.
Um die Stadtfinanzen steht es nicht gut, nun noch diese Fusion: Wann kommt es zur Steuererhöhung?
Wir gehen davon aus, dass aufgrund der Fusion keine Steuererhöhung nötig wird. Die zusätzlichen Ausgaben können im Rahmen der zusammengelegten Budgets und Finanzplänen aufgefangen werden. Es gibt jedoch andere Faktoren, die viel entscheidender sind als die Fusion und uns vor grosse Herausforderungen stellen. Die Konjunktur spielt eine wichtige Rolle. Und weltweite Krisen wirken negativ auf die Stadtfinanzen.
Ende November stimmt die Stadt über ein Budget ab, das ein Defizit von 35 Millionen Franken vorsieht. Auch in den nachfolgenden zwei Jahren rechnen Sie je mit einem Minus von rund 20 Millionen Franken. Die Investitionskosten steigen kontinuierlich. Die Stadtfinanzen scheinen ein Fass ohne Boden.
Wir haben ein umfangreiches Sparpaket erarbeitet und sind daran, dieses umzusetzen. Wir streben an, mit der aktuellen Steueranlage von 1,54 voranzugehen. Das war ohne Krieg und mit der konjunkturellen Entwicklung bis im letzten Winter gut möglich. Nun haben sich die Konjunkturprognosen geändert. Festhalten muss man, dass sich die Steuereinnahmen nach der negativen Überraschung in den Jahren 2018 und 2019 stabilisiert haben. Es gibt also positive und negative Zeichen und der Gemeinderat wird weiterhin eine sorgfältige Finanzpolitik betreiben.
Die Stadt macht im kommenden Jahr 70 Millionen zusätzliche Schulden. Ist das verantwortungsvoll?
Es ist kurzfristig verantwortbar, aber nicht weiter anzustreben. Wir wollen darum die Eigenfinanzierung verbessern und müssen mittelfristig Überschüsse erwirtschaften. Das gute Finanz-Rating für Bern wurde jedoch bestätigt. Die Stadt ist solvent und verfügt über ein beträchtliches Immobilienportfolio. Wenn man die hohe Pro-Kopf-Verschuldung mit anderen Gemeinden vergleicht, muss man beachten, dass die Stadt nicht nur für 143 000 Einwohnerinnen und Einwohner gebaut ist, sondern auch für 190 000 Arbeitsplätze.
Immer mehr Schulden machen und Defizite schreiben: Das Bündnis Rot-Grün-Mitte (RGM) ist offensichtlich der Meinung, das diene der Stadt. Warum?
Der Gemeinderat hat mit einer Finanzstrategie und einem Sparpaket reagiert und den Kurs angepasst. Wir müssen jedoch das noch positive Eigenkapital weiter erhöhen. Das ist derzeit noch bei 85 Millionen.
Wie werden Sie im nächsten Jahr korrigieren, wenn die Konjunkturlage kritisch bleibt?
Wir müssen die Inflation im Auge behalten. Wir haben hohe Personalkosten und werden den Mitarbeitenden einen Teuerungsausgleich zahlen. Kommt es zur Rezession, müssen wir die Finanzpolitik erneut anpassen. Aber das wollen das wollen wir nicht übereilt, sondern wohl überlegt und abhängig von der weiteren Entwicklung tun.
Sind sie persönlich zufrieden mit der Berner Finanzpolitik oder werden sie in Finanzfragen oft überstimmt?
Der Gemeinderat ist solid und mit klarem Kompass unterwegs. Aber wir müssen die Politik auch im Stadtrat durchbringen. Daran müssen wir arbeiten. Der Stadtrat ist häufig weniger kostenbewusst als der Gemeinderat. Wir brauchen so oder so zusätzliche Einnahmen – wie die Feuerwehrabgabe oder die Parkplatzgebühren. Es ist wichtig, dass die Feuerwehrersatzabgabe wie vom Gemeinderat vorgeschlagen umgesetzt wird.
Es sind ja auch RGM-Parteien, die im Parlament gegen den Gemeinderat stimmen. Setzt man RGM aufs Spiel, wenn man in der Finanzpolitik so weitermacht?
Das Bündnis wird dieses Jahr 30 Jahre alt. RGM ist kein Wohlfühlclub. Wir müssen uns immer wieder zusammenraufen. Das Erreichte der letzten 30 Jahre wollen wir nicht aufs Spiel setzen. Darum diskutieren wir intensiv.
Macht ihnen ihr Job eigentlich noch Freude?
Jeden Tag. Ich komme jeden Morgen motiviert in den Erlacherhof.
Wirklich?
Ja, das ist kein dummer Spruch. Ich arbeite ja 12 bis 16 Stunden pro Tag für die Stadt, am Sonntag weniger. Dieses Programm steht man nicht durch, wenn man keine Freude hat. Heute Abend gehe ich in die Quartierkommission und ich freue mich darauf.
Treten sie bei den nächsten Wahlen nochmal an?
Ich habe noch nie etwas anderes gesagt. Meine Vorgänger haben auch drei Legislaturen gemacht.