Bern setzt auch auf Cannabis-Mundsprays
Die Stadt Bern will den Cannabis-Konsum liberalisieren. Nun startet ein Pilotversuch dazu. Die Studie fokussiert auf Tabakprävention und bietet darum Alternativen zum Joint.
Wenn alles gut geht, wird Oliver Meister* bald sein Cannabis in der Apotheke kaufen. Meister, der eigentlich anders heisst, plant an der Cannabis-Studie der Stadt Bern teilzunehmen, die in diesen Wochen startet. Der Stadtberner ist 66 Jahre alt und kifft seit 40 Jahren. In seiner Wohnung baue er auch Gras an.
Oliver sagt, Cannabis sei noch immer mit einem starken Tabu belegt. Deshalb will er auch an der Studie teilnehmen: «Man muss von Behauptungen wegkommen, hin zu Fakten.»
Wie könnte ein regulierter Verkauf von Cannabis durch Apotheken und andere Stellen aussehen? In Bern will das eine Pilotstudie herausfinden. Sie ist Teil einer laufenden Debatte in der Schweiz, ob und wie Cannabis reguliert werden soll. Regulieren bedeutet: Keine freie Legalisierung, sondern ein legaler Verkauf an definierten Stellen mit klaren Regeln, beispielsweise einem Werbeverbot. Die liberalen Städte drücken bei diesem Thema aufs Tempo, auf nationaler Ebene gelang bislang aber kein Durchbruch.
Die Stadt Bern gilt seit der Eröffnung des ersten Fixerstüblis weltweit als progressiv in Sachen Drogen. Zuletzt machte der Berner Stadtrat von sich reden, der ein Postulat für einen wissenschaftlichen Pilotversuch für den kontrollierten Kokain-Verkauf gutgeheissen hat. Dieses Geschäft liegt nun beim Gemeinderat.
Beim Cannabis ist man in Bern schon einen Schritt weiter. Am 12. Dezember 2023 endete die Anmeldungsphase für die Script-Studie (Safer Cannabis – Research In Pharmacies randomized controlled Trial) von Forschenden an der Universität Bern. Die Studie wird von der Stadt Bern mitgetragen, die damit die Diskussion um die Regulierung von Cannabis in Zusammenarbeit mit anderen Schweizer Städten weiterentwickeln will. Insgesamt 1200 Menschen haben sich angemeldet, 950 davon in Bern und Biel, der Rest in Luzern.
Grünes Licht durch Gesetzesänderung
Geleitet wird die Studie von Reto Auer. Er arbeitet am Institut für Hausarztmedizin der Uni Bern und ist zugleich mit einem kleinen Pensum Hausarzt.
Der 45-Jährige arbeitet schon seit Jahren daran, dass die Studie ins Rollen kommt. Immer wieder gab es Schwierigkeiten, zum Beispiel bei den rechtlichen Rahmenbedingungen. 2021 machte schliesslich eine neue Verordnung zum Betäubungsmittelgesetz den Weg frei. Neu sind Pilotversuche mit kontrollierter Abgabe von Cannabis zu «Genusszwecken» möglich.
Auer leitet an seinem Institut die Abteilung Substanzkonsum. Das heisst, ihn interessieren Rauschmittel aller Art, und wie sie auf den Menschen wirken. Er weiss auch aus der Praxis, wovon er spricht: Als Jugendlicher habe er viel gekifft, sagt er. Im Gespräch mit dem Mediziner wird deutlich: Er will um jeden Preis vermeiden, dass seine Studie realitätsfern daherkommt – und vorbei an den Bedürfnissen der Konsumierenden geplant ist. Zehn von ihnen wurden deshalb schon im Vorfeld in einer Begleitgruppe befragt. Einer von ihnen ist der erwähnte Oliver.
Ein anderes Mitglied der Begleitgruppe ist eine 30-jährige Bernerin, die wir hier Flurina Stadler nennen. Sie kiffe seit rund zehn Jahren, sagt sie am Telefon. An der Begleitgruppe finde sie spannend, dass ganz verschiedene Menschen sich in ihr versammeln: Politisch divers, introvertiert und extroviert: «Auf jeden Fall keine Nullachtfünfzehn-Kiffer», hält die Untersuchungsteilnehmerin fest.
Warum braucht es diese Studie?
Dass die Script-Studie hilft, mit gängigen Klischees von «den Kiffern» aufzuräumen, hofft auch Reto Auer. Um den medizinischen Nutzen von Cannabis habe es in den letzten Jahren einen regelrechten Hype gegeben. Dagegen befinde sich «Weed» zu Genusszwecken immer noch in der Schmuddelecke. 300’000 regelmässige Cannabis-Konsument*innen leben in der Schweiz. Der Konsum erstreckt sich durch alle Alters- und Gesellschaftsschichten – wobei Männer häufiger zum Joint greifen als Frauen. Cannabis gilt als die am meisten verbreitete psychoaktive Substanz hierzulande.
Auer stellt fest: Cannabis ist in der Schweiz zwar verboten, aber die Leute konsumieren und verkaufen es trotzdem. Ein klares Urteil, ob eine Regulierung nötig ist, gibt es vom Mediziner nicht. Er weist einerseits auf die Nachteile des aktuellen Schwarzmarkts hin und führt aber auch ins Feld, dass die Schweiz einen schlechten Leistungsausweis bei der Regulierung von Tabak und Alkohol hat. Zu mächtige Lobby-Organisationen, zu wenig Jugendschutz, so seine Einschätzung.
Und deshalb findet er es umso nötiger, dass der Gesetzgeber in Bezug auf Konsum, Werbung und Jugendschutz über die nötigen Informationen verfügt, wenn in der Schweiz der Cannabis-Markt eines Tages reguliert werden sollte. Ansonsten drohe das Land von einem Tag auf den anderen von THC-haltigen Produkten geflutet zu werden – entsprechende abschreckende Beispiele gebe es aus Colorado in den USA.
Wie funktioniert die Studie?
In der Script-Studie wird ein sehr eingeschränktes Regulierungs-Modell getestet, das sich am Beispiel von Uruguay orientiert. Die Studienteilnehmer*innen können in ausgewählten Apotheken Cannabis in werbefreien Packungen kaufen. Auer und seine Mitforschenden wollen herausfinden, wie die Apotheke als Ort für den Bezug wahrgenommen wird und sich Gewohnheiten gegenüber dem Kauf auf dem illegalen Markt ändern.
Damit unterscheidet sich Bern von ähnlichen Pilotstudien, wie zum Beispiel in Zürich. Dort werden die Substanzen in sogenannten Social Clubs verkauft. Lausanne und Genf setzen dagegen auf Modelle, die eher an die Situation in Quebec erinnern. In diesem Teil Kanadas können Menschen Cannabisprodukte in staatlichen Cannabis-Shops kaufen – die Gewinne aus dem Verkauf fliessen dann zurück zum Staat, der damit Jugendschutzmassnahmen und Präventionsprogramme finanziert.
Die Script-Studie setzt zusätzlich auf Tabakprävention. Einerseits sollen mit den Teilnehmenden Gespräche zur Rauchentwöhnung geführt werden. Andererseits macht sich das bei der Verabreichung bemerkbar. Nicht nur getrocknete Blüten («Gras») und Harz («Haschisch») wandern über die Ladentheke, sondern auch elektronische Cannabis-Joints und THC-haltige Mundsprays. Die genauen Preise für die einzelnen Produkte wollen die Studienmacher*innen nicht kommunizieren. Mit dem Erlös soll der entstandene Aufwand gedeckt werden.
Gelingt Entwöhnung?
Laut Auer ist es nämlich nicht das Cannabis, welches die Lunge zerstört, sondern der Tabak, mit dem das Cannabis vermischt wird. Dies decke sich auch mit den Ergebnissen anderer Studien. Auch die 30-Jährige aus der Begleitgruppe merkt, dass sich seit der teilweisen Umstellung vom Joint aufs Vapen, also eine elektronische Zigarette, der Husten gelindert hat. Dazu geraten habe ihr der Hausarzt: Studienleiter Reto Auer.
Hinzu kommt: Cannabis ist in den letzten Jahren immer stärker geworden. Einerseits durch Zucht, aber auch, weil es in einem illegalen Markt einer ökonomischen Logik entspricht, möglichst starken Stoff auf möglichst wenig Platz zu transportieren. Die Alternativen zu den bisherigen Konsumformen – E-Joints, bei denen ein Dampf eingeatmet wird oder Mundsprays – haben allerdings bislang einen schweren Stand in der Szene.
Oliver aus der Begleitgruppe sagt, dass das Joint-Drehen bei ihm einer Zeremonie gleichkomme. Das sei wie beim Schwenken eines guten Weins im Glas. Darauf wolle er nicht verzichten. Ähnlich sieht es seine Gruppenkollegin Flurina.
Unabhängig davon, wie konsumiert wird, gilt für alle Studienteilnehmer*innen: Insgesamt dürfen pro Kauf nicht mehr als zehn Gramm Cannabis und bei vermischten Produkten nicht mehr als zwei Gramm THC erworben werden. Und pro Monat dürfen nicht mehr als zehn Gramm THC bezogen werden. Das Studien-Cannabis stammt nicht aus Bern, sondern aus dem Aargau. Genauer gesagt aus Laufenburg. Dort stellt die Pure Production AG nach wissenschaftlichen Kriterien und Bio-Standards das Rauschmittel her. Sie belieferte bereits die vergleichbare «Züri Can» Studie.
Wie geht es jetzt weiter?
Alle Studienteilnehmer*innen müssen nachweisen, dass sie mindestens 18 Jahre alt sind und bereits regelmässig Cannabis konsumieren. Das geschieht anhand eines Drogentests. In einem nächsten Schritt werden die Teilnehmenden in zwei Gruppen eingeteilt:
Die eine Gruppe kann von Beginn an Cannabisprodukte beziehen; die andere Gruppe sechs Monate nach Studienbeginn. Diese sogenannte «Randomisierung» sei der Goldstandard in der Forschung, so Auer. Die Studiendauer beträgt zwischen einem und maximal zwei Jahren. Erste Erkenntnisse erwarten die Studienautor*innen demnach erst im Jahr 2026.
Ob sich die Schweiz bis dahin schon weiter in Richtung eines regulierten Markts entwickelt hat? Auf politischer Ebene braucht es auf jeden Fall noch Zeit – wenn denn überhaupt dieser Weg eingeschlagen wird. Im nationalen Parlament hängig ist die parlamentarische Initiative des ehemaligen Mitte-Nationalrats Heinz Siegenthaler, die eine Regulierung des Cannabismarktes für einen besseren Jugend- und Konsumentenschutz fordert. Im August 2023 entschied die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats die Behandlungsfrist für die Initiative bis zur Herbstsession 2025 zu verlängern. Auf Anfrage bei der Kommission heisst es, dass mit einem Abschluss des Geschäfts zumindest in der gerade begonnenen Legislaturperiode (2023-2027) gerechnet werden kann. Und wie blicken die Betroffenen, also jene Menschen, die regelmässig zu Joint oder E-Vapor greifen, auf eine mögliche Regulierung?
Der 30-jährigen Kifferin aus der Begleitgruppe schwebt vor, dass sie ihr Cannabis dereinst in einem «Kifferlädeli» kaufen kann, in dem sie auch entsprechend beraten wird. «Hauptsache nicht bei einem grossen unpersönlichen Detailhändler», findet sie. Vorstellbar wäre für sie auch, ihr «50er-Baggy»-Gras direkt beim Erzeuger, also der Bäuerin oder dem Bauern zu kaufen.