Qualifizierte Migrant*innen: Was bei der Stellensuche hilft
Als Migrant*in mit hohem Bildungsabschluss in der Schweiz eine Stelle zu finden, ist schwierig. Hürden sind Sprache, fehlendes Netzwerk und Bewerbungs-Konventionen. Ein Programm zeigt, was helfen kann.
Es ist Anfang 2020: Adriana Romero und ihr Partner entscheiden sich, zu heiraten. Bisher pendelt sie zwischen Puerto Rico und Bern. Er lebt schon in der Schweiz, sie lernen sich kennen, als sie für die WHO in Genf arbeitet. Nun will sie in der Schweiz bleiben. Die Corona-Pandemie ist im Anflug, es muss zackig gehen. Ein Flug nach Las Vegas, Trauung im Schnellverfahren.
Um den Job macht sich Romero damals nur wenig Sorgen. Sie ist studierte Epidemiologin mit mehreren Jahren Berufserfahrung. Als 2017 der Hurrikan Maria Puerto Rico verwüstet, ist sie für die amerikanische Gesundheitsbehörde vor Ort. Sie klärt dort die Bevölkerung über die Gefahren von Dengue- und Zika-Viren auf, die nach dem Wirbelsturm wieder auszubrechen drohen.
In der Schweiz sucht die Epidemiologin während der Pandemie eine Stelle. Ohne Erfolg. Erst drei Jahre später findet sie eine Stelle in der klinischen Krebsforschung. Dazwischen: Eine teure Weiterbildung, hundert Bewerbungen und viele Absagen. Und das Programm «Bernetz».
Ein Projekt für Vernetzung
«Bernetz ist kein Stellenvermittlungs-Programm», erklärt Lora Slovak, die das Projekt leitet. Vielmehr gehe es um die Vernetzung. Bernetz richtet sich an Migrant*innen mit höheren Bildungsabschlüssen, die noch keine Stelle gefunden haben, die ihrer Qualifikation entspricht. Jedes Jahr findet ein «Zyklus» statt, ein zehnmonatiges Programm, das aus zwei Teilen besteht. In den ersten Monaten besuchen die 18 Teilnehmenden gemeinsam Module, in denen sie etwa Bewerbungsgespräche üben oder ihren Lebenslauf auffrischen. Im zweiten Teil findet die Vernetzung statt. Die Teilnehmenden werden mit Personen vernetzt, die in ihrer Branche arbeiten. Vorgesehen ist nur ein Treffen, oftmals vermitteln die Vernetzer*innen weitere Kontakte. Manchmal sogar einen Job.
Bei Adriana Romero hat das funktioniert. Sie konnte im Betrieb ihrer Vernetzerin schnuppern, sie später vertreten und hat nun eine feste Stelle.
Obwohl die Stellenvermittlung nicht das Ziel ist, fanden im letztjährigen Zyklus 60 Prozent der Teilnehmenden im Laufe des Programms einen neuen Job. Es sei die Mischung aus Kenntnissen des Arbeitsmarkts und Vernetzung, die den Erfolg ausmache, meint Slovak.
Das Programm zielt auf eine spezifische Zielgruppe ab: qualifizierte Migrant*innen, die meistens im Familiennachzug in die Schweiz kommen. Häufig arbeiten sie bereits, aber nicht in dem Beruf, für den sie eigentlich qualifiziert wären. Jedes Jahr bewerben sich etwa 40 Personen für das Projekt. Plätze hat es für die Hälfte. Die Kosten für das Projekt werden zu gleichen Teilen von Stadt und Kanton getragen und betragen 5000 Franken pro Teilnehmer*in und Jahr. Die Teilnehmenden beteiligen sich mit einem symbolischen Betrag von 300 Franken.
Als Adriana Romero in der Schweiz frisch auf Stellensuche ist, schreibt sie E-Mails an Professor*innen, die in ihrem Feld arbeiten. In den USA hatte sie mit solchen informellen Anfragen Erfolg.
Erst später erfährt sie, dass der Arbeitsmarkt in der Schweiz anders funktioniert, dass persönliche Kontakte enorm wichtig sind. Auch dass auf den Lebenslauf ein Foto gehört, ist ihr anfangs nicht bewusst. In den Vereinigten Staaten ist das explizit nicht erwünscht, um Diskriminierung zu verhindern.
Bewerbungs-Konventionen
Ähnlich ergeht es Filipe Silva. Silva zieht ebenfalls 2020 in die Schweiz zu seinem Partner – und ist schnell auf Stellensuche. Er ist diplomierter Psychologe, hat Erfahrung in der Psychotherapie und der Forschung. Seine erste Stelle in der Schweiz findet er in der Pflege. Dabei muss auch er gewisse Konventionen erst kennenlernen. Zum Beispiel das Motivationsschreiben, das in Brasilien nicht üblich ist.
Heute arbeitet er als Assistenzpsychologe an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie und bildet sich parallel zum Psychotherapeuten weiter.
Bis hierhin war es ein langer Weg. Silva arbeitet zuerst ein Jahr lang als Pflegeassistenz, dann als Sozialpädagoge. In der Fachsprache heisst das auch Dequalifizierung: Wenn das berufliche Potenzial nicht vollständig genutzt wird.
Das liesse sich oft nicht verhindern, wie Lora Slovak im Gespräch ausführt. Stellen ausser- oder unterhalb des eigenen Berufsprofils können wichtige Skills fördern, zum Beispiel die deutsche Sprache. Fehlende Sprachkenntnisse seien auch eine der grössten Hürden für die berufliche Integration: «Die Sprache ist sehr wichtig. Besonders in der Schweiz, dem Land der KMUs.» Anders als in internationalen Grossunternehmen sei Deutsch, manchmal sogar Mundart, als Bürosprache oft unumgänglich.
Sprache und strukturelle Hürden
Filipe Silva arbeitet unter anderem in der ADHS-Abklärung und in der Traumatherapie. An der Sprache führt in seinem Beruf nichts vorbei: «Die Sprache ist mein Hauptinstrument.» Um die Lebensrealitäten der Kinder und Jugendlichen zu verstehen, sei ein differenziertes Deutsch notwendig. Der Umweg über Pflege und Sozialpädagogik sei darum wichtig gewesen.
Bei Adriana Romeros Arbeitgeber, der ETOP IBCSG Partners Foundation an der Effingerstrasse, wird auf dem Gang Englisch gesprochen. Romero hat es vor allem schwierig gefunden, das Schweizer System mit seinen Strukturen zu verstehen. Als sie sich beim Zuzug auf ihrer Gemeinde anmeldet, wird ihr ein Flyer mitgegeben. Auf konkrete Beratungsangebote wird sie aber nicht hingewiesen. Für Romero fühlt sich das an, als wäre ihr gesagt worden: «Hier ist deine Aufenthaltsbewilligung, viel Erfolg!»
Das 2015 vom Kanton verabschiedete «Berner Modell» sieht eigentlich vor, dass neu eingewanderte Personen mit Aufenthaltsbewilligung in einem Erstgespräch beraten und dann an entsprechende Stellen verwiesen werden. Dass diese Triage nicht immer funktioniert, bestätigt Lora Slovak. Zum Beispiel: Die vorgesehenen Beratungsgespräche seien nur für Personen aus Nicht-EU/EFTA-Staaten und unter bestimmten Voraussetzungen verpflichtend. Die dezentralisierte politische Struktur der Schweiz mit Gemeinden, Kanton und Bund trage zudem dazu bei, dass es schwieriger sei, Menschen auf Berufssuche zu den richtigen Stellen zu bringen.
Helfen soll dabei zum Beispiel die von Slovak mitaufgebaute Seite Informationen in vielen Sprachen der Stadt Bern, die wichtige Informationen, etwa zur Jobsuche, mehrsprachig aufbereitet.
Bei Adriana Romero hat es zwei Jahre gedauert, bis sie Bernetz über eine Google-Suche findet.
Bürokratie und Diplomanerkennung
Für viele eine bürokratische Hürde ist die Diplomanerkennung. Psychologe Filipe Silva muss ein Dokument zweimal einsenden. Eine Qualifikation wird bei der ersten Prüfung überlesen. Für ein weiteres fehlendes Dokument hätte er fast zurück nach Brasilien reisen müssen, mit etwas Glück und einigen Telefonaten klappt es dann ohne Reise.
Die Diplomanerkennung ist zudem nicht gratis, kann je nach Diplom 150 bis 640 Franken kosten. Stellenweise gibt es auch Kritik an den hohen Anforderungen.
Stephan Probst leitet die Stelle MosaiQ Bern des Hilfswerks der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz, die ebenfalls Beratungen für qualifizierte Migrant*innen anbietet. Er findet Diplomanerkennungen grundsätzlich wichtig, in gewissen Branchen seien die Standards aber sehr hoch. Wer sich zum Beispiel ein nicht-schweizerisches Diplom als Lehrperson anerkennen lassen will, muss das Deutschniveau C2 nachweisen können. «Das ist so hoch, dass viele Leute, die hier geboren sind, nicht bestehen würden.»
MosaiQ Bern und Bernetz haben einen ähnlichen Auftrag. MosaiQ ist dabei eher eine klassische Beratung und unterstützt zum Beispiel bei der Diplomanerkennung. Als allgemeine Anlaufstelle für Berufsberatung gibt es zudem die kantonalen Beratungs- und Informationszentren BIZ. Für Anliegen von qualifizierte Migrantinnen gibt es zudem das Bernetz-ähnliche Programm «Mira - Kompass», der feministischen Friedensorganisation Frieda (ehemals cfd).
Zudem werden Diplome aus Drittstaaten, also aus Nicht-EU/EFTA-Staaten anders gehandhabt: «Ärzte und Ärztinnen aus Drittstaaten können ihr Diplom nicht anerkennen lassen. Sie müssen noch einmal studieren oder als Assistenzärzte arbeiten und sich nach drei bis fünf Jahren zur Prüfung anmelden.»
Austausch und Netzwerk
Auch mit anerkanntem Diplom kann die Jobsuche dauern – nicht zuletzt wegen des fehlenden Netzwerkes. Adriana Romero hat sich oft alleine gefühlt. Ihr Mann, ein Business Analyst, unterstützt sie zwar, hat aber nicht das richtige berufliche Netzwerk. Sie ist mehrmals kurz davor, ihre Karriere an den Nagel zu hängen. «Ich dachte mir: Soll ich meinen Traumjob aufgeben?»
Der Austausch im Rahmen von Bernetz hilft ihr, optimistisch zu bleiben. In den Gesprächen wird dann auch deutlich, dass der Netzwerk-Effekt ein doppelter ist: einerseits die Vernetzung in die Branchen hinein, andererseits der Austausch innerhalb der Gruppe.
Um ihre Jobchancen zu verbessern, hat Romero eine Weiterbildung in klinischer Forschung besucht. Ein Privileg, wie sie sagt. Nicht alle können sich die teuren Zertifikate leisten.
Dass eine Bereitschaft zum Branchenwechsel hilft, bestätigt Lora Slovak von Bernetz. Sie erzählt im Gespräch von einem Künstler, der in die Pflege wechselte. Es kann sich manchmal lohnen, sich den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes anzupassen. Gerade in Bereichen mit akutem Fachkräftemangel habe man als Migrant*in bessere Chancen. Ziel des Programms sei es jedoch, die Jobsuchenden dabei zu unterstützen, eine Anstellung zu finden, die sie sich aus ganzem Herzen wünschen und für die sie sich qualifiziert haben.
Chancen
Nicht zuletzt sieht Slovak auch die Unternehmen in der Verantwortung. Sie könnten Migrant*innen häufiger eine Chance geben. «Unternehmen setzen häufig eher auf das Bekannte. Dabei können Migrant*innen mit ihren internationalen Erfahrungen ein Unternehmen enorm bereichern.»
Eine solche Chance hat zum Beispiel Filipe Silva bekommen: Als sein Diplom während seiner Anstellung als Pflege-Assistenz anerkannt wird, bietet er seinem Chef an, auch psychologische Beratungen durchzuführen. Dieser sagt Ja. Silva bekommt eine kleine Lohnerhöhung. Was aber mehr zählt: Er darf sich den Titel «Psychologe» in den Lebenslauf schreiben.