Wabern Spezial

Boomtown Wabern

Der Könizer Gemeindeteil Wabern ist fulminant vom Bauerndorf zum Stadtquartier gewachsen. Die «Hauptstadt» ist für eine Woche zu Gast in der Villa Bernau mitten im urbanen Agglo-Quartier, dem der nächste Wachstumsschub schon bevorsteht.

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Urbanes Waberer Wahrzeichen: Garden Tower. (Bild: Danielle Liniger)

Der Park der Villa Bernau ist ein guter Ort, um sich zu vergegenwärtigen, wie rasant sich Wabern wandelt. Hinter der Mauer braust der Verkehr auf der Seftigenstrasse, von der anderen Seite stossen Wohnsiedlungen an den Rand des geretteten grünen Ruhepols. 

Grosswabern ist ein Bauerndorf, als die Villa Bernau 1730 gebaut wird, und zwar von einer Stadtberner Patrizierfamilie, die sich am Abhang des Gurtens über der Aare einen repräsentativen Zweitwohnsitz für die Sommerfrische leistet. Eine «Campagne» zu haben ist im 18. Jahrhundert unter Berns Elite en vogue, von Wabern bis weit ins Oberland reiht sich eine an die andere.

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Alltag auf der Seftigenstrasse: Agglo-Verkehr. (Bild: Danielle Liniger)

Das Alte Bern ist bis 1798 der grösste Stadtstaat nördlich der Alpen, ein Machtzentrum, das sich über ein Drittel des heutigen Schweizer Territoriums erstreckt. Die regierenden Gnädigen Herren aus der Stadt strotzen vor Reichtum, der ihnen aus Landwirtschaftsgütern wie denjenigen in Wabern zufliesst.

Wabern floriert

Mit diesem Berner Geschäftsmodell ist es nach dem Untergang der alten Stadtrepublik Anfang des 19. Jahrhunderts jedoch vorbei. Das Patriziat muss nach der durch Napoleon angestossenen Demokratisierung abdanken. Die Landsitze verwaisen. In Wabern, das seit 1834 zur politischen Gemeinde Köniz gehört, lässt sich 1864 der erste Industriebetrieb nieder, die Brauerei Juker im ehemaligen Sandsteinbruch bei der heutigen Talstation der Gurtenbahn.

Ab 1894 verbindet das Tram Wabern mit dem Stadtzentrum, 1901 folgt die Anbindung ans Bahnnetz durch die Gürbetalbahn. Wabern floriert und wird vom untertänigen Bauerndorf zur gut erschlossenen, gehobenen Vorstadt. In die Villa Bernau zieht 1890 der aus Deutschland eingewanderte Chemiker Georg Wander. In seinem Labor in der Berner Altstadt tüftelt er an einem Malzextrakt, das sein Sohn Albert später zur Ovomaltine weiterentwickelt.

Wabern kämpft

In den 1970er-Jahren zieht sich die Familie Wander aus der Villa Bernau zurück, das Haus geht an die Gemeinde Köniz. Diese sieht die Gelegenheit, die alte Villa abzureissen und im Park eine Wohn- und Geschäftsüberbauung mit integriertem Dorfzentrum hochzuziehen. Das weckt heftigen Widerstand, der  identitätsstiftend wirkt. Das stark gewachsene Wabern will sich von der Gemeinde Köniz nicht vorschreiben lassen, wie sein «Dorfzentrum» auszusehen hat.

Eine Petition mit 4500 Unterschriften zwingt die Gemeinde, die Finger von der Villa Bernau zu lassen. Seit 1983 ist das frühere Herrenhaus deshalb ein öffentliches und offenes, multikulturelles Quartierzentrum, das von seinen Nutzer*innen bespielt werden kann.

So sichert sich die Bevölkerung einen gediegenen urbanen Gemeinschaftsort, noch bevor die städtische Entwicklung Wabern so richtig überzieht.

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Stylischer Bau: «Quellfrisch»-Siedlung über dem Bahnhof Wabern. (Bild: Danielle Liniger)

2013 entsteht auf dem Areal der stillgelegten Gurtenbrauerei die stylische Überbauung «Quellfrisch» samt Ateliers und Kreativräumen, die man sich auch in der hippen Länggasse vorstellen könnte – genauso wie das gleich nebenan gelegene inklusive Kulturhaus Heitere Fahne, das vom Kollektiv Frei_Raum betrieben wird.

Wabern erbebt

Konfliktreicher entwickelt sich die Lage auf dem Bächtelenacker. Beim dortigen Landsitz, dem Bächtelengut, handelt es sich ebenfalls um eine «Campagne», die nach dem Abgang des Berner Adels zum Knabenheim umfunktioniert wurde. Heute unterstützt die modern ausgerichtete Stiftung Bächtelen junge Menschen mit erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt beim Einstieg ins Berufsleben.

Die Stiftung verkauft 2007 einen Teil ihres Landwirtschaftslands und löst so einen urbanen Stresstest aus. Käufer ist der Aargauer Investor Hans Widmer, der in den 1990er-Jahren als Sanierer des Rüstungskonzerns Oerlikon Bührle zu den prominentesten Managern der Schweiz gehörte. Widmer, der sich als «konsequenter Humanist» versteht, will in Chly Wabere 90 Millionen Franken in hochwertigen Wohnungsbau investieren – unter der Bedingung, dass er ein futuristisches Hochhaus bauen kann. In Wabern bricht ein erbitterter Hochhausstreit aus. Die Befürchtung geht um, das «Dorf» erliege der grossstädtischen Versuchung.

Die Unterstützer*innen von Widmer setzen sich aber durch, und so entsteht 2016 der 53 Meter hohe, 17-stöckige, begrünte Garden Tower, der aber erstaunlich wenig Aufsehen erregt. Obschon er architektonisch spektakulärer ist als der Bäre-Tower in Ostermundigen, den Gemeindepräsident Thomas Iten unermüdlich als Symbol des Mundiger Aufbruchs zelebriert.

Fahne hängen - Villa Bernau - Wabern
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Die «Hauptstadt» in Wabern

Vom 21. bis zum 25.8. arbeitet die «Hauptstadt»-Redaktion in den Räumen der Villa Bernau in Wabern. Journalistisch legen wir in dieser Woche einen Schwerpunkt auf Menschen und Entwicklungen in Wabern. Die Villa Bernau ist öffentlich zugänglich, wir freuen uns über Besuch. Wir veranstalten zudem einen Kulturevent für «Hauptstädter*innen» und solche, die es werden wollen: Am Mittwoch, 23.8., ab 18 Uhr, tritt Moët Liechti, die amtierende Schweizermeisterin in Slam Poetry, in der Villa Bernau auf. Und: Einen Apéro gibt es auch.

Neben dem grünen Hochhaus setzt Hans Widmer in Wabern auf gelinde gesagt unkonventionellen Siedlungsbau. Der Bächtelenpark wird neben dem Tower unterteilt in vier separate Baufelder, die von unterschiedlichen Architekt*innenteams individuell bebaut werden. Es entsteht ein von aussen skurril wirkendes Wohnbaupuzzle für 500 Bewohner*innen.

Das Wort Siedlung sei für diese Überbauung wohl nicht angebracht, sagt heute selbst Sarah Rimle, Sprecherin des Immobiliendienstleisters Effiage, der die Projektleitung des Bächtelenparks innehatte, auf Anfrage der «Hauptstadt». Zwar sei die Durchmischung geglückt. Aber die Querverbindungen zwischen den Siedlungsteilen würden von den Bewohner*innen erstaunlich wenig genutzt, das müsse man heute feststellen.

Wabern wächst

Das ändert nichts daran, dass die forcierte Bautätigkeit Wabern ohne Unterbruch unter Druck setzt. Die Bevölkerungszahl nimmt zwischen 2010 und 2020 doppelt so schnell zu wie in der ebenfalls stark wachsenden Gesamtgemeinde Köniz, auf heute rund 8000 Einwohner*innen – unter anderem mit der Folge, dass in einer rasanten Stafette alle drei aus allen Nähten platzenden Schulhäuser in Wabern ausgebaut werden mussten und müssen.

Ein Ende ist nicht abzusehen, denn: Die mit Abstand grösste Waberer Baulandreserve liegt noch brach.

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Stadtquartier der Zukunft: die Morillonmatte, das nächste grosse Bauareal in Wabern. (Bild: Danielle Liniger)

Direkt an der Grenze zur Stadt Bern unweit von Zieglerspital und Gymnasium Lerbermatt erstreckt sich die Morillonmatte, die derzeit landwirtschaftlich genutzt wird. Am Rand dieses Grünraums befindet sich das Morillongut, eine prachtvolle Villa mit ebensolchem Park – auch das eine frühere Patrizier-Sommerresidenz. Sie gehört der Familie von Tscharner, und diese verkauft 2021 die «Campagne Morillon» an Garden-Tower-Investor Hans Widmer. Dieser macht die lange verschlossene Villa für Kunstanlässe dem Publikum zugänglich und will im Park im kleineren Stil hochwertige Wohnungen bauen.

Wabern holt Luft

Die grosse Frage ist aber, was mit dem grossen Rest der Morillonmatte passiert, die nach wie vor der Familie von Tscharner gehört. Der zuständige Könizer Gemeinderat Christian Burren (SVP) bestätigt auf Anfrage, dass sich der gesamte grüne Perimeter in der Bauzone befindet und eine gültige Überbauungsordnung aus dem Jahr 1993 besteht, die theoretisch Wohnungsbau für rund 3000 Einwohner*innen ermöglicht. Das wäre für Wabern ein Wachstumsschub in der Grössenordnung des Viererfelds, wo die Stadt Bern bis 2029 1100 Wohnungen für 3000 Einwohner*innen baut, die laut dem städtischen Finanzdirektor Michael Aebersold zusätzliche Steuereinnahmen von etwa 8 Millionen Franken im Jahr generieren sollen.

So weit sind die Planspiele auf der Morillonmatte noch nicht, wie Christian Burren festhält. Köniz müsse zuerst das jüngste Bevölkerungswachstum wegstecken, ehe es den nächsten Schritt mache. Aber er wird kommen

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Die philosophische Frage der «Heitere Fahne». (Bild: Danielle Liniger)

Burren versichert, er sei sowohl mit der Familie von Tscharner wie mit Hans Widmer in konstruktivem Dialog. Der Konsens bestehe, dass die in die Jahre gekommene Überbauungsordnung ab 2024 überarbeitet und heutigen Bedürfnissen angepasst werde. Zudem habe sich Hans Widmer bereit erklärt, den Morillonpark der Öffentlichkeit als Naherholungsraum zugänglich zu machen. «Das ist sehr wichtig, wenn wir auf der Morillonmatte attraktiven Siedlungsbau realisieren wollen», sagt Burren. Würde die künftige Überbauung an ein hermetisch abgeriegeltes Parkgelände grenzen, wäre das der Wohnqualität höchst abträglich, sagt Burren.

Es ist, als würde Wabern Luft holen für den nächsten Kraftakt. Die Überbauung der Morillonmatte dürfte für die Gemeinde Köniz ein Jahrzehnt-Projekt werden. Und für die Boomtown Wabern der ultimative Schritt zum Stadtquartier.

Quellen für diesen Text: Wabern Spiegel; Historisches Lexikon der Schweiz; Stefan von Bergen/Jürg Steiner: Wie viel Bern braucht die Schweiz? Stämpfli Verlag, 2012. 

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Diskussion

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Thomas Krebs
19. August 2023 um 07:54

Ein interessanter Überblick über die Entwicklung von Wabern. Spannend wird sein, wie das Verhältnis von Boomtown Wabern und Gemeinde Köniz sich allenfalls ändern wird. In der Topothek Köniz finden sich Fotos und Texte vom alten und neueren Wabern: https://gurtenbuehl.topothek.ch