Kindeswohl – «Hauptstadt-Brief #213

Samstag, 2. September 2023 – die Themen: Eltern in Trennung; Könizer Wachstum; Freiluft-Theater; Grosser Rat; Tom Berger; «Hallo Velo!»; Quadrat. Berner Kopf der Woche: Krzysztof Urbański, Chefdirigent.

Illustration zum Hauptstadt-Brief
(Bild: Marc Brunner, Büro Destruct)

Es passiert nicht sehr oft, dass der Kanton Bern entschlossen vorangeht. Deshalb finde ich bemerkenswert, was sich seit gestern an der Predigergasse 10 tut. In den Räumen des städtischen Amts für Erwachsenen- und Kindesschutz hat das Zentrum für Familien in Trennung (ZFiT) den Betrieb aufgenommen. Ein solches Angebot gibt es sonst nirgends in der Schweiz. In einer der schwierigsten Konfliktzonen des Familienlebens übernehme der Kanton Bern mit dem Pilotprojekt ZFiT «eine Pionierrolle», sagte die kantonale Justizdirektorin Evi Allemann (SP).

Wenn sich Eltern scheiden oder trennen, bleibt das Wohl der Kinder oft auf der Strecke. Besonders in eskalierten Konflikten um das Besuchsrecht, in denen die Behörden für oder gegen einen Elternteil entscheiden müssen. Anastasia Falkner, Richterin am Berner Obergericht, sagte gestern bei der Eröffnung des Zentrums, dass sie heute bei einer Trennungs- oder Scheidungsklage kein präventives Instrument einsetzen könne, um zerstrittene Paare darin zu unterstützen, das Augenmerk auf das Wohl ihrer Kinder zu richten. Damit das Schlimmste für Kinder vermieden würde: Dass sie wegen eines Behördenentscheides einen Elternteil verlieren.

An diesem neuralgischen Punkt setzt das neuartige Zentrum an. Ab sofort kann Richterin Falkner streitenden Paaren eine Beratung beim ZFiT verordnen. Bevor sie ein Urteil fällt. Dasselbe kann die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) tun. Eltern sollen in Beratungsgesprächen am ZFiT befähigt werden, trotz ihrer Auseinandersetzung den Bedürfnissen ihrer Kinder Priorität einzuräumen. Damit weniger Hochkonfliktfälle entstehen, die heute oft mit langjährigen Beistandschaften erledigt werden, mit denen die schwierige Situation für Kinder meist eher zementiert als entspannt wird.

Bereits gestern hat die Kesb Bern dem neuen Zentrum die vier ersten Fälle überwiesen. Für ungefähr 80 Fälle reicht die personelle Kapazität des ZFiT in den ersten zwei Versuchsjahren. Wissenschaftler*innen der Universität Freiburg werden untersuchen, ob das ZFiT die erhoffte Wirkung entfaltet. Wenn ja, könnte Bern Modell für weitere Kantone sein.

«Mama und Papa sollen sich wieder Hallo sagen.» Das sei, zeigte Anastasia Falkner an einem Beispiel, der innigste Wunsch vieler Kinder in familiären Konfliktsituationen. 

Impressionen aus Langnau fotografiert in Langnau im Emmental am 25.07.2023. (Jana Leu)
Äntelipark. (Bild: Jana Leu)

Und das möchte ich dir ins Wochenende mitgeben:

Agglomeration: Köniz will einen weiteren urbanen Schwerpunkt setzen. Bei der S-Bahn-Station Liebefeld soll eine gemischte Überbauung entstehen mit Wohnraum und Arbeitsplätzen für 850 Personen. Vorgesehen ist laut der Planung, die derzeit zur öffentlichen Mitwirkung aufliegt, unter anderem ein 85 Meter hohes Hochhaus. Die Dächer der neuen Gebäude sollen zudem klimafreundlich begrünt werden, stellen die Behörden in einem Erklärvideo in Aussicht. Ob Köniz den Wachstumsschub verkrafte, fragten sich meine Kolleg*innen Marina Bolzli und Joël Widmer. Das Wachstum in den urbanen Teilen von Köniz diene «letztlich übergeordneten Zielen», antwortete Gemeindepräsidentin Tanja Bauer (SP) im «Hauptstadt»-Interview: Weil es der politische Wille sei, die Zersiedlung zu stoppen.

Inklusion: Die Theatergruppe «VOR ORT» inszeniert in Beitenwil bei Rubigen das Stück «Baron auf den Bäumen» von Italo Calvino gemeinsam mit Menschen mit Behinderung. Meine Kollegin Lea Sidler hat sich die Freiluftaufführung in der Umgebung des Humanushauses angeschaut. Der Ausflug nach Rubigen lohnt sich, findet sie in ihrer Kritik. Die leichtfüssige Inszenierung entführe einen in eine märchenhafte Welt, in der man nach dem Stück gerne noch ein bisschen verweilen würde.

Kantonspolitik: Nächste Woche kehrt der Grosse Rat aus der Sommerpause zurück und startet zur Herbstsession. Die hitzigste Debatte wird sich wohl um das revidierte Polizeigesetz drehen, weil in ihm ein Konflikt zwischen dem bürgerlich dominierten Kanton und der rot-grünen Stadt steckt. Laut dem Gesetzesentwurf soll der Kanton an sogenannten Orten mit erhöhter Gefahrenlage eine Videoüberwachung anordnen können. Kritiker*innen sehen darin eine Lex Reitschule, wie die Nachrichtenagentur Keystone/sda schreibt. Aus diesem Grund warnt die Berner Stadtregierung vor einem übermässigen Eingriff in die Gemeindeautonomie.

Polit-Forum: FDP-Stadtrat Tom Berger wird ab 1. Dezember als Nachfolger von Lukas Hupfer neuer Leiter und Geschäftsführer des Polit-Forums im Käfigturm. Aktuell arbeitet Berger, der auch leidenschaftlicher YB-Fan und Rennvelofahrer ist, noch als Projektleiter bei der Polit- und Kommunikationsagentur Polsan. Einen Namen geschaffen hat sich der begeisterungsfähige Berger als pragmatischer Brückenbauer. Als jahrelanges Vorstandsmitglied der Bar und Club Kommission trug er etwa zur Versachlichung der Diskussionen ums Berner Nachtleben bei. Das Polit-Forum versteht sich als Bildungs- und Debattenort zur Demokratie. Gewählt wurde Berger vom Vorstand des Trägervereins, dem Stadtpräsident Alec von Graffenried (GFL) vorsteht.

Velofahren: Morgen Sonntag findet in der Stadt sowie einigen Partnergemeinden das alljährliche Mitmach-Festival «Hallo Velo!» statt.

PS: Im Quadrat in Zollikofen, das unter anderem ein Secondhand-Geschäft für Designmöbel ist, gehört grosszügiges Denken zum Programm. Dieses Wochenende lässt es Gründer Dan Hodler zum 30-jährigen Bestehen seines Unternehmens an der Bernstrasse 178 gepflegt krachen. Heute Samstag ist das Geschäft ab 10 Uhr geöffnet, ab 16 Uhr ist Barbetrieb, ab 22 Uhr folgt der Sound. Offen für alle. Gestern Abend fand ein Vorglühen auf das heutige Fest statt, und ich kann nur sagen: Vom Quadrat kann man immer lernen. Auch bezüglich entspanntem Feiern.

krzysztofurbanski
(Bild: Marco Borggreve)

Berner Kopf der Woche: Krzysztof Urbański

Künftig gibt es wieder einen Chefdirigenten beim Berner Symphonieorchester (BSO). Gestern wurde der Pole Krzysztof Urbański im Salon Rosé im mondänen Berner Casino vorgestellt. Ab der Saison 2024/25 dirigiert der 41-Jährige sechs Abo-Konzerte pro Jahr. Urbański ist weltweit gefragt, zuletzt war er zehn Jahre lang Musikdirektor des Indianapolis Symphony Orchestra. Es gibt kaum ein renommiertes Orchester, mit dem er noch nicht aufgetreten ist.

Und warum kommt er nun ausgerechnet nach Bern? «Ich habe auf mein Bauchgefühl vertraut», sagte er an der Medienkonferenz auf Englisch. Das BSO habe ihm diesen Posten nach einem einzigen Konzert angeboten, das sei für ihn speziell gewesen, habe ihn bewegt und mutig habe er es auch gefunden.

Nach einem weiteren Konzert, das nur für ein kleines, ausgewähltes Publikum gespielt wurde, stand der Entscheid des Orchesters – das einen Dirigenten traditionell selber wählt – fest: Es wollte Urbański, den jungen, aufstrebenden Star. Danach musste er auch noch vom Stiftungsrat von Bühnen Bern gewählt werden.

Der Vertrag gilt für vorerst drei Jahre, ob Urbański dafür wie sein Vorgänger Mario Venzago nach Bern ziehen wird, wollte er nicht abschliessend beantworten. Es scheint wenig wahrscheinlich, da er je ein Haus in Polen und in Italien besitzt. Und vielleicht ist es auch gar nicht so wichtig. Wichtiger scheint, dass das BSO nach zwei Jahren ohne Chefdirigenten sich wieder für einen entschieden hat, und David Guerchovitch, der Erste Konzertmeister beim BSO dazu meint: «Wir passen wirklich gut zusammen.» (Marina Bolzli)

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