«Dann sind wir also doch Vorbilder»

Vor 50 Jahren gründeten zwei aufmüpfige junge Frauen den Chinderbuechlade. Im Interview schauen Leslie Lehmann und Marie-Louise von Gunten zurück.

Hauptstadt - Chinderbuechlade
33,3 Jahre lang führten sie zusammen den Chinderbuechlade: Leslie Lehmann (links) und Marie-Louise von Gunten. (Bild: Marion Bernet)

Marie-Louise von Gunten geht zielstrebig zum Tresen im Chinderbuechlade an der Gerechtigkeitsgasse. Sie holt Bücher ab, die sie als Kundin bestellt hat. Kurz darauf trifft auch Leslie Lehmann an ihrem alten Arbeitsort ein. Von Gunten und Lehmann haben vor genau 50 Jahren zusammen den Chinderbuechlade gegründet. Sie waren 30 Jahre alt, heute sind sie 80. Der erste Laden befand sich etwas weiter unten in der Altstadt, in einem viel kleineren Lokal. «Wir haben je 15’000 Franken reingesteckt, das war damals viel Geld», sagt Lehmann. 2007 haben sie den Laden an ihre Nachfolgerinnen übergeben.

Wie war es, vor 50 Jahren ein Unternehmen zu gründen?

Leslie Lehmann: Als wir damals zum Handelsregister gingen, um den Eintrag zu machen, sagten sie uns: Schon recht, aber ihr müsst wieder gehen. Den Eintrag müssen auch die Ehemänner unterschreiben.

Als verheiratete Frauen konnten Sie nicht allein ein Unternehmen gründen.

LL: Nein! Umgekehrt war das aber nicht der Fall, verheiratete Männer brauchten kein Einverständnis der Ehefrau.

Marie-Louise von Gunten: Aber das hielt uns nicht von unserem Plan ab. Wir hatten vorher beide in Quartierbibliotheken gearbeitet. Da hatten wir die Erfahrung gemacht, dass Kinder- und Jugendbücher in Buchhandlungen keinen Stellenwert haben. Wir mussten etwas tun.

Warum?

MLG: In den Bibliotheken sahen wir, wie wichtig es ist, auch Kinder beraten zu können. Ich arbeitete im Tscharnergut und Leslie im Monbijou. Im Tscharnergut gab es viele «Schlüsselkinder», die hatten ausser der Bibliothek keinen Aufenthaltsort. Wir mussten sie doch beraten können, damit sie positive Leseerfahrungen machen.

LL: Eigentlich ist der Chinderbuechlade ein Produkt der 68er-Bewegung. Es ging um Gleichberechtigung, um gleiche Bildungschancen.

MLG: Wir hatten auch das Glück, dass wir zur richtigen Zeit kamen. Die Kinderliteratur wurde wichtiger, es gab neue Illustrator*innen, neue Autor*innen, neue Verlage, neue Themen, auch gesellschaftlich schwierigere. Wir trafen den Zeitgeist. Und packten es auch gut.

Brauchte das Mut?

LL: Nicht wirklich.

MLG: Doch, es war nicht leicht. Es war auch eine Fuer, bis wir ein Ladenlokal hatten.

LL: Wir landeten in der Altstadt, weil hier damals die Preise tiefer waren.

Hauptstadt - Chinderbuechlade
Das Kellergeschoss des Ladens kam erst später dazu. (Bild: Marion Bernet)

Der ursprüngliche Chinderbuechlade sei nur etwa vier Meter breit gewesen und habe kein Schaufenster gehabt, erinnern sich die beiden Gründerinnen. Der Kunstmaler und Pädagoge Pole Lehmann (1924-2016) habe sie dann unterstützt, indem er mit der Gesamtschule Schüpbach, wo er Klassenlehrer war, die Fassade vor dem Ladenlokal bemalte. «Wunderschön, mit Chueli und Landschaften.» 

Eine Baubewilligung hatten die beiden Frauen nicht eingeholt. Prompt gab es eine Rüge der Denkmalpflege, eine Busse von 600 Franken und die Auflage, alles wieder sandsteinfarben zu übermalen. Es hiess, das farbenfrohe Bild «passt nicht zum Grau der Altstadt». Als Marie-Louise von Gunten die Begründung der Stadt zitiert, lachen die beiden Frauen wie Teenagerinnen. 

Nach drei Jahren zog der Chinderbuechlade ins heutige Lokal an der Gerechtigkeitsgasse. Nach weiteren 15 Jahren kam ein Kellergeschoss hinzu.

Hauptstadt - Chinderbuechlade
Der Chinderbuechlade befindet sich in der Altstadt, weil dort die Mietzinse mal tiefer waren als im Rest der Stadt. (Bild: Marion Bernet)

Der Chinderbuechlade ist immer grösser geworden.

MLG: Ja, als wir vor der Eröffnung die ersten Vertreter*innen von Verlagen trafen, lachten die, weil der Laden so klein war. Eine Vertreterin meinte, sie könne ihn ja allein mit Büchern ihres Verlags füllen. Das war auch ein bisschen überheblich.

Wie wurden Sie sonst wahrgenommen?

MLG: Die Leute sagten oft, wir seien abgelegen in der unteren Altstadt. Das Leben spielte sich mehr in der oberen Altstadt ab. Fast hätten wir übrigens von Anfang an ein grösseres Lokal in der oberen Altstadt erhalten. Vermieterin war die legendäre Madame de Meuron. Aber dann schrieb sie mir einen Brief, dass das mit einem Kinderbuchladen gar nicht funktionieren könne und das Projekt noch nicht reif sei.

LL: Später konnten wir das Haus, wo der Chinderbuechlade jetzt drin ist, sogar kaufen. Dank einem Darlehen von verschiedenen Freund*innen kauften wir es der früheren Eigentümerin ab, einer alleinstehenden Frau. Wir erhielten es zu einem sehr tiefen Preis von etwa 700’000 Franken. Nachdem wir bei der Notarin gewesen waren, lud die Vorbesitzerin uns zu einem Cüpli ins Bellevue ein und meinte: «Gäuit, das heimer itz guet gmacht, so unger Froue!» Das war in den 90er Jahren.

Wurden Sie vor 50 Jahren ernst genommen?

MLG: Es gab schon Sachen, wo wir uns wehren mussten. Oft wurde bei offiziellen Anrufen auch der Mann ans Telefon verlangt. Und der damalige Buchhändler- und Verlegerverband war ein Männerverein. Die Einladung an die Jahresversammlung bekamen wir zwar auch. Das Programm war aber folgendermassen angekündigt: Sitzungen für die Männer zur Zukunft der Buchhandels und parallel dazu Frauenprogramm, die Besichtigung der Firma Chocolat Tobler.

Wie haben Sie darauf reagiert?

MLG: Wir schrieben einen Brief. Wir schrieben, wir seien Frauen, aber Geschäftsführerinnen. Und wir fragten ironisch-provokativ, ob wir jetzt beim Männerprogramm mitmachen dürfen. Falls ja, müsse der Verband von jetzt an in der Anrede «Sehr geehrte Damen und Herren» schreiben.

War es damals leichter oder schwieriger, ein eigenes Geschäft zu führen?

LL: Buchhandel ist grundsätzlich ein hartes Pflaster.

MLG: Wir hatten am Anfang 5 Franken Stundenlohn.

LL: Es gibt eine extrem kleine Marge auf Büchern. Es ist nicht einfacher geworden heute, aber vielfältiger. Man muss sich immer wieder Neues einfallen lassen.

MLG: Wir besuchten zum Beispiel oft Elternabende und stellten dort unsere Bücher vor. Dafür fuhren wir abends zum Beispiel nach Schüpfen oder Zollikofen. Es war schon ein grosses Engagement.

LL: Man muss dazu sagen, es sieht ja oft aus, als ob Buchhändlerinnen einfach warten würden, dass eine Kundin kommt. Aber so ist es nicht. Der Chinderbuechlade könnte nicht von den Privatkund*innen leben. Es braucht die Bibliotheken, die Lehrer*innen.

MLG: Das ist natürlich heute ein bisschen schwerer, früher wurden alle Unterrichtsmaterialien über den Buchhandel beschafft. Jetzt gibt es auch das Internet.

LL: Als wir 2007 aufhörten, war das aber noch kein grosses Thema. Bei uns war einfach die persönliche Bindung zu Kund*innen extrem stark. Das merke ich auch heute, wenn ich in die Stadt gehe, da kenne ich fast jedes Mal jemanden aus der Chinderbuechlade-Zeit.

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Nein, einen Business-Plan hatten Leslie Lehmann (links) und Marie-Louise von Gunten nicht. Aber viel Idealismus. (Bild: Marion Bernet)

Wenn man heute ein Unternehmen gründet, braucht es einen Businessplan. Wie machten Sie das?

LL: Wir hatten nichts.

MLG: Eine Bekannte lief mal vorbei, als wir den ersten Laden renovierten. Sie meinte, ah, probiert ihr das? Wir haben das durchgerechnet, es wird nie gehen. Viel Glück!

LL: Zum Glück haben wir nichts durchgerechnet, sonst hätten wir vielleicht gar nie angefangen.

MLG: Und plötzlich kamen dann auch engagierte Eltern und denen war es wichtig, was die Kinder lasen. Das war unsere Vernetzung, die ganze neue Pädagogik.

Sehen Sie sich als Pionierinnen?

LL: Ja, auf jeden Fall.

MLG: Es gab damals halt eigentlich keine Geschäftsführerinnen von Buchläden. Es war aussergewöhnlich.

LL: Lange hatten wir auch alle gleiche Löhne, aber irgendwann ist uns das verleidet. Da kamen neue Unerfahrene und hatten denselben Lohn wie wir. Wir führten dann zwei Lohnstufen ein, eine für Neueinsteigerinnen und eine für Altgediente.

MLG: Später waren wir beide geschieden und da wurde es existentiell. Vorher war es ein idealistischer Beruf. Befriedigend und beflügelnd.

LL: Wir merken das bis heute, wir haben eine Minimalrente, obwohl wir im Chinderbuechlade eine Pensionskasse einführten, bevor es ein Obligatorium gab. Wir haben nie voll gearbeitet, aber immer gearbeitet. Ich machte daneben viel Politik und Freiwilligenarbeit.

MLG: Und ich schaute unter anderem zu meiner sehr alten Mutter.

Was würden Sie im Rückblick anders machen?

MLG: Wir waren sehr streng mit den Kriterien, was gute Kinder- und Jugendliteratur ist.

LL: Wir waren fast ein bisschen elitär. Einige Sachen finde ich bis heute wichtig: Dass es keinen Rassismus oder Sexismus gibt.

MLG: Aber ich habe meiner Tochter damit das Lesen verleidet. Sie hätte gerne auch mal sogenannte Mädchenbücher gelesen und ich kam immer mit engagierten Themen. Heute würde ich das lockerer nehmen und sagen: Hauptsache, sie lesen.

LL: Meine eine Tochter wurde dann auch Buchhändlerin.

MLG: Und meine beiden Nichten sind auch Buchhändlerinnen.

LL: Dann sind wir also doch Vorbilder.

Hauptstadt - Chinderbuechlade
Zum Chinderbuechlade

Dieses Wochenende findet im Chinderbuechlade ein grosses Jubliäumsprogramm statt. Die heutige Inhaberin und Geschäftsleiterin Ruth Baeriswyl sagt, dass es dem Laden wie immer gehe: «Wir können nicht jammern und nicht rühmen.» Natürlich setzen auch die grossen Buchhandlungen längst auf Kinder- und Jugendliteratur – und auch das Internet ist eine grosse Konkurrenz. «Unsere Kompetenz liegt bei der Beratung – und beim guten Text», sagt Baeriswyl. Auch mit der Entwicklung des Internetladens auf der Website ist sie zufrieden. Die nächste Herausforderung wird es sein, Nachfolgerinnen zu finden: Sie hofft auf die beiden jungen Mitarbeiterinnen und Buchhändlerinnen Alice Birrer und Enea Rüfenacht.

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Diskussion

Unsere Etikette
Ueli Affolter
31. August 2023 um 14:51

Bravo Leslie und Marie-Louise! Ihr habt mit dem Chinderbuechlade Bern verändert und unser Leben reicher gemacht. Merci viumau sagen Ueli und Lisbeth Affolter

Maja Balmer
31. August 2023 um 05:52

Liebes Chinderbuechlade Team, alt und neu 😊

Tausendundein Dank für euer Engagement, eure tollen Ideen und überhaupt alles, was ihr für die Kinderliteratur und die Lesefreude der Kinder tut! Ich komme immer wieder sehr gerne, schmökere, lasse mich inspirieren und kaufe ein.

Ein Hoch auf euch alle!!!

Maja