«Das sind unsere Steuergelder, Herr Haji»
2015 kam Farhad Haji aus Syrien nach Bern. Seither hat er hunderte Geflüchtete bei der Integration unterstützt. Und entlastet damit auch die Sozialbehörden, von denen er sich selbst mehr Wohlwollen gewünscht hätte.
Einer von vielen grossen, grauen Wohnblöcken im Herzen von Ostermundigen, eine von vier Wohnungen im zweiten Stock. An der Wand bildet eine glänzende Fähnchenkette die Worte «Eid Mubarak» – ein Festtagsgruss zu Ende des muslimischen Fastenmonats Ramadan. Auf dem Sofa darunter sitzt Adil M.*. Er kann nicht aufstehen.
Farhad Haji vom Verein Integrationsbrücke Bern begrüsst ihn auf Arabisch und setzt sich auch aufs Sofa. Heute hat Adil M., der wegen seiner Gehbehinderung mit einem Resettlement-Programm des Uno-Flüchtlingshilfswerks UNHCR aus dem Libanon in die Schweiz gelangt ist, ein Vorstellungsgespräch. Farhad Haji wird ihn begleiten.
Die Integrationsbrücke Bern bezeichnet sich als «Anlaufstelle für Arabisch und Kurdisch sprechende Personen». Sie ist im alphabetisch aufgelisteten Vereinsverzeichnis der Gemeinde Ostermundigen aufgeführt. Danach folgen: Jodlerclub Frohsinn, Jugendmusik Ostermundigen, Jungwacht Blauring, Kleintierzüchterverein.
«Es war nicht ganz einfach, Ostermundigen davon zu überzeugen, dass wir ein kultureller Verein sind», sagt Farhad Haji. Das war nötig, damit die Gemeinde den Verein mit einem symbolischen Betrag pro Jahr unterstützt und ins Verzeichnis aufnimmt. «Ich musste dafür einstehen: Kulturelle Zusammenarbeit ist mehr als Essen, Sport und Tanzen. Und sie fehlt auf allen Ebenen.»
Ein Ehrenamt
Farhad Haji kennt keine genauen Zahlen dazu, wie viele Personen der Verein Integrationsbrücke Bern schon unterstützt hat seit seiner Gründung im Herbst 2018. 350 bis 450 Beratungen pro Jahr führe er ungefähr durch, schätzt Haji, und scheint selbst ein wenig erstaunt ob dieser hohen Zahl. Er unterstützt grösstenteils Menschen aus Syrien bei der Integration in der Schweiz, möglichst niederschwellig und möglichst umfassend.
Haji kommt schnell auf den Kern seiner Arbeit zu sprechen, wechselt übergangslos zwischen Arabisch und Deutsch, wenn er unser Gespräch für Adil M. übersetzt: «Miteinander und nicht übereinander. Das ist mein Motto. Integration ist Zusammenarbeit, und das wollen wir erreichen mit der Integrationsbrücke Bern.»
Konkret bedeutet das: Farhad Haji besucht Menschen im ganzen Kanton Bern, in Wohnungen oder in Asylzentren, füllt Formulare aus, informiert über das Asylverfahren, organisiert Sprachkurse, hilft bei der Arbeitssuche, stellt Anträge bei Sozialdiensten, schreibt Beschwerden, kommuniziert mit der Polizei oder begleitet Elterngespräche an Schulen.
Auf das ganze Jahr verteilt entspricht das alles einem Pensum von 60 bis 80 Prozent. Farhad Haji ist zwar angestellt bei der Integrationsbrücke – doch für einen Lohn reicht es nur in Ausnahmefällen. Der Verein, der heute aus einem dreiköpfigen Vorstand und einer Geschäftsstelle mit zwei Mitarbeitenden besteht, kann Löhne und Spesen nur dann auszahlen, wenn Ende Monat etwas übrig bleibt. Ein Grossteil der Arbeit bleibt unbezahlt.
«Die grösste Baustelle der Integrationsbrücke Bern ist sicher ihre finanzielle Lage», steht im letzten Jahresbericht des Vereins.
Haji arbeitet daneben im Naturhistorischen Museum in Bern als Guide, zuvor arbeitete er in der Jugendarbeit und an einer Tagesschule in Ostermundigen, im Massnahmenvollzug, in Bars. Heute hat er immer öfter auch Aufträge im Asylbereich: auf Mandatsbasis für Organisationen wie das Schweizerische Rote Kreuz, als Mitglied der Fachkommission für Migrations- und Rassismusfragen der Stadt Bern, im Refugee Team der UNHCR Schweiz.
«Ich konnte es mir bis jetzt immer irgendwie einrichten, dass ich mein Geld anderswo verdiene, und die Arbeit für die Integrationsbrücke daneben noch Platz hat», sagt Farhad Haji. In seiner Stimme schwingt Stolz mit. Und eine Spur Erschöpfung.
Weshalb dieses immense Engagement?
Preiswürdiger Effort
«Als ich 2015 in der Schweiz ankam, habe ich gemerkt, wie unglaublich wichtig die Arbeit von Freiwilligen sein kann», erzählt der 27-Jährige. Er ist Kurde aus Syrien. Sein Deutsch ist fast akzentfrei, genauso seine Mundart. Er wählt seine Worte überlegt und lächelt warm unter dem akkurat gestutzten Bart.
Bern bezeichnet Farhad Haji heute als Heimat. Dazu zählt er auch Ostermundigen, wo er seit zwei Jahren lebt.
Er habe grosses Glück gehabt, als er 2015 in der Asylunterkunft Viktoria im bernischen Breitenrain-Quartier untergebracht wurde. Ein grosses Netzwerk von Freiwilligen half dort mit, den Asylsuchenden ihre Ankunft in der Schweiz zu erleichtern. Haji merkte bald, dass das nicht die Regel ist: «In anderen Asylzentren, besonders in ländlicheren Gebieten, gab es niemanden, der ausserhalb der Sozial- und Asylbehörden Unterstützung anbot für geflüchtete Menschen.»
Bald begann er auf eigene Faust, anderen Angekommenen unter die Arme zu greifen. Seine Sprachkenntnisse und seine eigene Fluchtgeschichte haben ihm dabei enorm geholfen, sagt er.
«Integration ist mehr als nur Sprache und ein Job», ist er überzeugt, «und sie beginnt am ersten Tag.» Sich zu Hause fühlen, ein Umfeld haben, seine Rechte kennen, aufeinander zugehen, ohne dass eine Seite sich aufgeben muss – das alles brauche es, um irgendwann wirklich «integriert» zu sein.
Mit dieser Vision und der Hilfe von Freunden aus dem Umfeld der Unterkunft Viktoria gründete er 2018 den Verein Integrationsbrücke Bern.
Heute wird seine Telefonnummer im ganzen Kanton Bern von einer Flüchtlingsfamilie zur nächsten weitergereicht, und auch die Asylsozialdienste verweisen ihre Klient*innen an die Integrationsbrücke. 2020 gewann der Verein den «Prix Effort», ein mit 10'000 Franken dotierter Förderpreis der Burgergemeinde Bern. Der Zustupf an die Vereinskasse war gewichtig. Dieses Jahr kam ein weiterer Preis des Förderprogramms «ici – gemeinsam hier» hinzu.
Auf dem behördlichen Weg hat auch Adil M. von Farhad Hajis Arbeit erfahren. Der Sozialdienst empfahl ihm, sich bei Haji zu melden, als ihm der Besuch eines weiteren Deutschkurses verwehrt wurde.
«Die Behörden sind oft überfordert, haben keine Zeit und alles ist sehr offiziell. Farhad hingegen kann ich einfach anrufen. Er kommt zu mir nach Hause, oder wir können im Bus über Probleme sprechen. Es ist spontan und simpel, und ich fühle mich nicht immer wie ein Bittsteller, weil wir auf einer kollegialen Ebene sprechen können», erzählt Adil M.
Seine Frau bringt Tee und Gebäck, sorgfältig arrangiert in einer silbrig glänzenden Etagere. Ein Kleinkind späht schüchtern hinter dem Sofa hervor.
Unter Druck
Farhad Haji nimmt die behördliche Arbeit im Integrationsbereich als sehr lückenhaft wahr. «In der Schweiz wird enorm viel Druck auf Menschen im Asylbereich ausgeübt», erklärt er. Integration werde viel zu kurzfristig gedacht. Einen Job finden, und zwar möglichst schnell, darum ginge es primär. Dass eine Ausbildung eine nachhaltigere Investition in die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Geflüchteten wäre, darüber werde oft hinweggesehen.
Er erzählt von einer Frau, der die Kostengutsprache für einen Kurs in der Pflege verwehrt wurde. «Statt ihr einmalig den Kurs zu finanzieren, zahlt der Staat jetzt viel länger Sozialhilfe, weil sie sich beruflich nicht eingliedern kann.» Unter dem Strich koste das mehr – und der Schweiz fehle Pflegepersonal.
Auch Haji selbst musste diesem Druck, sofort genügend Einkommen zu generieren, nachgeben. «Das sind unsere Steuergelder, Herr Haji», ermahnte ihn seine Betreuerin bei der Asylsozialhilfe bei jedem Termin, wenn er den Wunsch äusserte, eine Ausbildung zum Sozialpädagogen zu machen. «Ich konnte diesen Satz nicht mehr hören. Also suchte ich mir so schnell wie möglich einen Job, wo ich einfach arbeiten konnte.»
Heute schicken die Asylsozialdienste des Kantons Bern ihre Klient*innen zu ihm.
Finanziell unterstützt wird die Integrationsbrücke Bern aber nicht vom Staat. Der Verein ist auf Spenden- und Stiftungsgelder angewiesen – und, wie erwähnt, auf sehr viel Ehrenamt. «Der Vorteil davon ist, dass wir unsere Arbeit ohne auferlegte Bedingungen verrichten können. Wir können also zum Beispiel auch Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung unterstützen», sagt Haji.
Und doch zeigen ihm die fehlenden finanziellen Mittel wiederholt Grenzen auf: «Es wäre enorm wichtig, mehr Menschen mit Migrationsgeschichte in der Integrationsarbeit zu haben. Aber die können sich freiwillige Arbeit oft nicht leisten.»
Auch Haji selbst stösst immer wieder an seine Grenzen. «Ewig kann es nicht so weitergehen. Nicht zu wissen, ob ich nächsten Monat einen Lohn habe oder nicht, braucht viel Energie.»
Mehr mitreden
Eine Untervertretung von Menschen mit Migrationsgeschichte spüre er im gesamten Diskurs über Flucht und Migration. Haji erzählt von Podiumsdiskussionen und Konferenzen, an denen er der einzige Teilnehmende war, der selbst eine Fluchtgeschichte hatte.
«Fachpersonen sind wichtig. Aber migrantische Perspektiven sind es genauso», sagt er und kommt wieder und wieder auf seinen Leitsatz zu sprechen: Miteinander und nicht übereinander.
«Die Menschen, die in die Schweiz einwandern, haben ja auch etwas zu bieten. Wir sind nicht einfach eine Last für den Staat – wir bringen auch Fähigkeiten mit, die die Schweiz weiterbringen.»
Das beweist Farhad Haji, wenn er Geflüchtete über ihre Rechte aufklärt. Oder, wenn er syrischen Eltern erklärt, nach welchen Grundsätzen ihre Kinder an Schweizer Schulen unterrichtet werden.«Beides hat eine andere Wirkung, wenn ich das anstelle einer Behörde mache.»
Haji wünscht sich, bei der Integrationsbrücke Bern auch Beratungen in anderen Sprachen anbieten zu können, etwa für Menschen aus Afghanistan oder Eritrea. Und er ist überzeugt, dass die Kapazitäten migrantischer Personen, die hierfür geeignet wären, brachliegen.
In wenigen Stunden fahren Farhad Haji und Adil M. zum Vorstellungsgespräch nach Bern. Eine zweite Runde Tee dampft in goldgerahmten Tassen.
Haji ist selbst Teil des Projekts, für das Adil M. wohl künftig als Texter arbeiten kann: Die Entwicklung einer App mit nützlichen Informationen für Asylsuchende in verschiedenen Sprachen. Eine Kooperation der Universität Bern mit der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und dem Schweizerischen Roten Kreuz. Die Integrationsbrücke Bern wurde auf Mandatsbasis beigezogen.
«Mein Job ist es, sicherzustellen, dass die Informationen in der App auch wirklich nützlich sind für geflüchtete Menschen», sagt Farhad Haji.
Er steckt sich einen Sesamkeks in den Mund. Kaut lange und bedächtig, und sagt dann: «Die Integrationsbrücke Bern muss nicht nur helfen. Ein bisschen müssen wir auch nerven.» Den Finger auf wunde Punkte legen. «Ein wenig wie der Kassensturz», sagt Haji.
--
(*Name geändert)