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Verdienen angehende Anwält*innen zu wenig?

Eine Gruppe Berner Jurist*innen fordert höhere Löhne für Praktika in Anwaltskanzleien. Die Anwalts-Ausbildung im Kanton Bern lasse sich kaum ohne externes Geld finanzieren, so ihre Kritik.

Gerechtigkeitsbrunnen fotografiert am Mittwoch, 8. Januar 2025 in Bern. (VOLLTOLL / Manuel Lopez)
Die meisten brauchen für die Anwalts-Ausbildung im Kanton Bern Geld von den Eltern. Das schaffe Ungleichheit, kritisieren junge Berner Jurist*innen. (Bild: Manuel Lopez)

Bracher & Partner ist eine renommierte Berner Anwaltskanzlei mit fünf Niederlassungen im Kanton, von Thun bis Niederbipp. Sie beschäftigt gegen 50 Mitarbeitende. Und sie bietet, wie die meisten Kanzleien, regelmässig Praktika für angehende Anwälte und Anwältinnen an. Eine Praktikant*in verdient bei Bracher & Partner bei einem 100-Prozent-Pensum von 40 Wochenstunden im ersten halben Jahr 2000 Franken brutto monatlich, danach 2500. 

Das ist ein Beispiel unter vielen – ein Praktikumslohn in dieser Höhe ist bei Kanzleien im Kanton Bern üblich. Aber ist er auch angemessen? 

Nein, findet eine Gruppe junger Berner Jurist*innen. Die «IG Praktikumslöhne Bern» wehrt sich gegen die aus ihrer Sicht zu tiefen Praktikumslöhne im Kanton. Die Gruppe besteht aus rund einem Dutzend Jurist*innen, die noch in der Anwaltsausbildung sind oder sie kürzlich abgeschlossen haben. Ihre Forderung: Existenzsichernde Löhne für Anwaltspraktikant*innen. 

«Fast alle sind für die Ausbildung auf Geld von Dritten angewiesen, meist von den Eltern oder durch ein Darlehen», sagt Florian Seitz von der IG. Die Gruppe sieht darin ein Problem der Chancengleichheit: Um Anwalt oder Anwältin zu werden, brauche man viel Geld. Das schaffe Ungleichheiten und bevorzuge Personen, die aus guten finanziellen Verhältnissen stammen. 

«Weniger Privilegierte haben keinen Zugang zu diesem Beruf», sagt Seitz. Der 30-Jährige hat sein Anwaltspatent seit kurzem in der Tasche – allerdings hat er die Ausbildung im Kanton Zürich absolviert. Alle anderen Mitglieder der Gruppe wollen anonym bleiben.

80 Prozent brauchen Geld von Dritten

Um die Lage im Kanton Bern abzubilden, hat die Gruppe von 2022 bis 2023 eine Umfrage unter Berner Anwaltspraktikant*innen durchgeführt. Die Umfrage liegt der «Hauptstadt» vor. Dabei kam heraus: Knapp die Hälfte der 140 Teilnehmenden verdienten im Praktikum bei einem 100-Prozent-Pensum nicht mehr als 2000 Franken brutto pro Monat. Etwa 40 Prozent verdienten zwischen 2000 und 2750 Franken, und nur knapp sechs Prozent verdienten über 3000 Franken monatlich.

Mehr als 80 Prozent der Befragten gaben an, dass sie für ihre Ausbildung zum Anwalt oder zur Anwältin auf nicht selbst erwirtschaftetes Geld angewiesen sind oder waren.

Die Ausbildung zur Anwält*in erfolgt erst nach dem abgeschlossenen Studium der Rechtswissenschaften, welches ungefähr fünf Jahre dauert. Wer schon das Studium mit eigener Arbeit oder Stipendien finanzieren muss, kann also auch danach noch für längere Zeit nicht auf ein existenzsicherndes Einkommen zählen.

Das Anwaltspatent wird durch die Kantone verliehen, ist aber in der ganzen Schweiz gültig. Die Zulassung zum Beruf ist je nach Kanton unterschiedlich ausgestaltet. Meist muss die Ausbildung im Wohnsitzkanton absolviert werden. 

Im Kanton Bern dauert die Anwalts-Ausbildung mindestens zwei Jahre. Angehende Anwält*innen müssen 18 Monate Praktikum absolvieren, davon mindestens drei Monate am Gericht, bei der Staatsanwaltschaft oder in der Verwaltung sowie mindestens neun Monate in einer Anwaltskanzlei. 

Danach folgt eine Lernphase von etwa sechs bis zehn Monaten, um sich auf mehrere sechs- bis achtstündige schriftliche und mündliche Prüfungen vorzubereiten. In der Regel ist der Lernaufwand für Kandidat*innen in dieser Zeit so hoch, dass daneben kein bezahlter Job Platz hat. Hinzu kommen Prüfungsgebühren von 2600 Franken sowie Ausgaben für Lernmaterial. Wer die Prüfungen bestanden hat, erhält – bei Bezahlung weiterer 300 Franken – das Anwaltspatent.

Während die Praktikumslöhne bei den Justizbehörden kantonal festgelegt sind und je nach Berufserfahrung 3000 bis 3500 Franken brutto monatlich betragen, gibt es für die Löhne in den Kanzleien keine Vorgaben.

Gerechtigkeitsbrunnen fotografiert am Mittwoch, 8. Januar 2025 in Bern. (VOLLTOLL / Manuel Lopez)
Die Gruppe «IG Praktikumslöhne» fordert von Berufsverbänden, Empfehlungen für Mindestlöhne abzugeben. (Bild: Manuel Lopez)

Die «Hauptstadt» hat bei acht grossen beziehungsweise renommierten Berner Anwaltskanzleien nachgefragt, wie viel sie ihren Praktikant*innen bezahlen. Fünf gaben Auskunft. Die Kanzleien gaben Brutto-Monatslöhne von mindestens 2000 und maximal 4500 Franken an. 

Die eingangs erwähnte Kanzlei Bracher & Partner befindet sich damit am unteren Rand. Ähnlich belaufen sich die Löhne bei der Kanzlei Berner Anwälte: Dort sind es bei 40 Wochenstunden 2000 Franken während den ersten drei Monaten, danach 3000. 

Tendenziell zahlen jene Kanzleien höhere Praktikumslöhne, die sehr gross sind und auch Niederlassungen in anderen Kantonen haben, so etwa die Wirtschaftskanzleien Kellerhals Carrard (4000 Franken und bei guten Leistungen ab dem siebten Monat 4500 Franken) oder Bratschi (3500 Franken, je bei 42 Wochenstunden). Solche Löhne sind in Bern allerdings die Ausnahme.

Gruppe fordert Empfehlungen für Mindestlöhne

Die «IG Praktikumslöhne» fordert Berufsverbände auf, Empfehlungen an Kanzleien für höhere Praktikumslöhne abzugeben. Konkret fordert sie Brutto-Monatslöhne von 3500 bis 4000 Franken. Diesen Betrag hielten die meisten Befragten in der Umfrage für angemessen.

Florian Seitz von der IG Praktikumslöhne sagt: «Viele Kanzleien zahlen sich hohe Löhne aus. Ich kann nicht glauben, dass es für sie nicht möglich sein soll, ihre Praktikant*innen existenzsichernd zu entlöhnen.»

Seitz hat in seinem Praktikum in Zürich rund 6000 Franken brutto monatlich verdient, was für dortige Verhältnisse normal sei. Allerdings sind auch die Stundenansätze von Rechtsanwält*innen in Zürich oft erheblich höher als in Bern. Seitz räumt ein: «In Zürich können Praktikant*innen für mehr Aufgaben eingesetzt werden als in Bern. Und die Lebenskosten sind höher. Trotzdem: Mehr als doppelt so hohe Praktikumslöhne rechtfertigt das nicht». Er sei für die Ausbildung nicht nur der höheren Löhne wegen nach Zürich gezogen – aber auch.

In anderen Kantonen, etwa Solothurn, müssen nicht alle Prüfungen gleichzeitig absolviert werden, sondern können zeitlich aufgeteilt werden. Das ermöglicht es, neben der Ausbildung Teilzeit zu arbeiten. In Bern geht das nicht. Hier folgt auf die Praktikumszeit eine monatelange Vollzeit-Lernphase. «Mit den Löhnen in Bern kannst du de facto nicht leben und solltest gleichzeitig noch Geld auf die Seite legen für die Lernzeit, während der man gar nichts verdient», sagt Seitz.

Anwaltsverband hält Status quo für angemessen

In einem Gastbeitrag in der juristischen Zeitschrift «in dubio», einer Publikation des Bernischen Anwaltsverbandes, legte die Gruppe im letzten September die Resultate ihrer Umfrage und ihre Forderungen dar.

Gerechtigkeitsbrunnen fotografiert am Mittwoch, 8. Januar 2025 in Bern. (VOLLTOLL / Manuel Lopez)
Der Bernische Anwaltsverband will keine Empfehlungen für Mindestlöhne. Er findet aber, dass Praktika nicht zu viele Sekretariatsaufgaben beinhalten dürfen. (Bild: Manuel Lopez)

Der Anwaltsverband reagierte in derselben Ausgabe mit einer Stellungnahme. Darin zeigt er wenig Verständnis für die Anliegen der Gruppe. Empfehlungen für einen Mindestlohn lehnt der Berufsverband ab. Gegenüber der «Hauptstadt» verweist der Anwaltsverband auf seine Stellungnahme in der Zeitschrift und will sich nicht weiter zu dem Thema äussern.

Es sei «nicht Sache von Anwältinnen und Anwälten, die Lebenshaltungskosten von Auszubildenden zu finanzieren», schreibt er in dem Beitrag. Dafür seien Praktikant*innen selbst verantwortlich. Anwält*innen erfüllten mit dem Anbieten von Praktika einen gesetzlichen Ausbildungsauftrag. Dieser sei aufwändig. Sie müssten zulasten ihrer eigenen Produktivität ein erhebliches zeitliches Engagement aufbringen, so der Verband.

Anders sieht es die Vereinigung Demokratische Jurist*innen Bern. Sie begrüsst Empfehlungen für Mindestlöhne. Das teilt sie auf Anfrage der «Hauptstadt» mit. Ein Monatslohn unter 2500 Franken sei nicht ausreichend zum Leben. Besonders, weil danach noch eine unbezahlte Lernphase folge, sei das für Personen aus schwächeren wirtschaftlichen Verhältnissen eine Zugangshürde zum Beruf. Die Vereinigung ist der Ansicht, dass Löhne von 3500 bis 4000 Franken für Berner Anwaltskanzleien grundsätzlich tragbar seien – ausser für solche, die vor allem weniger gut bezahlte amtliche Mandate ausführen.

Kritikpunkt Sekretariatsarbeiten

Aus der Umfrage der «IG Praktikumslöhne» geht auch hervor, dass viele der befragten Praktikant*innen Sekretariatsaufgaben erledigten. Bei den meisten hielt sich der Umfang davon in Grenzen. Doch bei jeder fünften Praktikant*in machten sie gemäss eigenen Angaben 30 bis 50 Prozent der Arbeitszeit aus. Und bei vier Personen sogar 60 bis 80 Prozent.

Das kritisiert auch der Bernische Anwaltsverband. Er schreibt, es widerspreche dem gesetzlichen Auftrag, wenn Praktikant*innen so viel im Sekretariat eingesetzt würden. Er hält aber auch fest: «Es darf jedoch von angehenden Anwältinnen und Anwälten erwartet werden, dass sie sich in solchen Fällen zur Wehr zu setzen vermögen.»

Kanton statt Kanzleien in der Verantwortung

Die Rechtsanwältin Sarah Schläppi ist Geschäftsführerin der Kanzlei Bracher & Partner. Auf Anfrage der «Hauptstadt» will sie sich nicht im Detail dazu äussern, wie die Löhne für Praktikant*innen in der Kanzlei zustandekommen. Sie seien wie alle Löhne eine unternehmerische Entscheidung, sagt sie.

Schläppi betont jedoch: «Persönlich finde ich es essentiell, dass Praktika echten Ausbildungscharakter haben.» Anwaltskanzleien seien verpflichtet, ihren Praktikant*innen eine Ausbildung zu bieten. Nur dann rechtfertige sich ein entsprechend tiefer Lohn – nicht, wenn zu einem grossen Teil Sekretariatsarbeiten erledigt werden müssen. «Das Anwaltspraktikum ist die praktische Fortsetzung des theoretischen Studiums», sagt Schläppi. Es müsse Kandidat*innen effektiv auf den Beruf vorbereiten.

Kritisch sieht sie auch die Dauer der Lernphase vor den Prüfungen im Kanton Bern. Früher war diese kürzer, weil schriftliche und mündliche Prüfungen gleichzeitig stattfanden. Heute sind sie zeitlich gestaffelt, womit die Lernphase länger dauert. «Im Sinne der Chancengleichheit wäre es wünschenswert, dass die Phase vor den Prüfungen, in der man gar nichts verdient, möglichst kurz ist», sagt sie. Die aktuelle Regelung mit einer Dauer von mindestens sechs Monaten sei zum Nachteil von Personen aus schwächeren wirtschaftlichen Verhältnissen.

Dieses Problem würde sich mit höheren Praktikumslöhnen auch entschärfen. Schläppi sieht jedoch den Kanton in der Verantwortung und nicht die Anwaltskanzleien. «Ich finde nicht, dass KMU die Lernphase der Anwaltskandidat*innen finanzieren müssen», sagt sie. Es seien längstens nicht alle Anwält*innen im Kanton Bern Grossverdienende.

Der Verwaltungsratspräsident von Bracher & Partner setzt sich auf Bundesebene für Arbeitnehmer*innen-Anliegen ein. Der ehemalige Berner SP-Grossrat Markus Meyer ist Präsident des Personalverbandes Swisspersona, der Mitarbeitende aus Bundesverwaltung und Rüstungsunternehmen vertritt und sich für deren Arbeitsbedingungen und gerechte Löhne einsetzt. Interessant ist: In der Bundesverwaltung sind Praktikumslöhne deutlich höher angesetzt als in Berner Anwaltskanzleien üblich. Wer nach einem Masterabschluss ein Hochschulpraktikum beim Bund macht, verdient 4180 Franken pro Monat.

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Diskussion

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Anonym
03. August 2025 um 16:36

Ausbildung oder Ausbeutung?

Der Berner Anwaltsverband spricht von einem «gesetzlichen Ausbildungsauftrag», der aufwändig sei, und meint, Praktikant*innen müssten ihre Lebenshaltung selbst finanzieren. Meine Erfahrung zeigt ein anderes Bild: Ich erhielt kaum Feedback, Lernen war nebensächlich. Stattdessen musste ich möglichst viel in möglichst kurzer Zeit abarbeiten. Gelernt habe ich vor allem, wie man eine Kanzlei entlastet – gratis. Die Resultate meiner Arbeit wurden zum regulären Honorar abgerechnet, nicht zum Praktikumsansatz. Verdient wurde mit meiner Leistung, ohne mich daran zu beteiligen, weder finanziell noch durch Begleitung. Und ich bin nicht die Einzige mit dieser Erfahrung. Solange Ausbildung primär produktive Gratisarbeit bedeutet, ist es zynisch, von Belastung zu sprechen. Wer wirklich ausbildet, sollte das fair tun. Oder ehrlich sagen, worum es geht.

Salome Krieger Aebli
13. Januar 2025 um 10:33

Danke für den umfassenden Beitrag. Endlich nimmt sich ein Medium diesem Thema an, das die Anwaltspraktikantinnen und

-praktikanten seit Jahrzehnten beschäftigt.