Zu Besuch bei Berufsrevolutionär*innen
Die marxistische Gruppierung «Funke» strebt unverdrossen die antikapitalistische Revolution an. Wie ernst ist es ihr? Die «Hauptstadt» hat eine Veranstaltung in Bern besucht.
Der Kapitalismus steckt in der Krise. Sein stetes Verlangen nach Mehr – mehr Geld, mehr Waren, mehr Dienstleistungen – steht im deutlichen Gegensatz zu den Herausforderungen der Klimakrise. Zu dieser Einsicht sind längst auch renommierte Kapitalist*innen gelangt. Alternative Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen sind gefragt. Von diesem Trend will auch eine Gruppe Marxist*innen in Bern profitieren.
«Unser Ziel ist die Enteignung der herrschenden Klasse», sagt Caspar Oertli. Es ist Anfang November, in Bern-West ist soeben die Marxistische Herbstschule zu Ende gegangen. Oertli und Martin Kohler haben das alljährliche Highlight der Marxist*innen in der Schweiz mitorganisiert. Sie sind Mitglieder von «Funke» – einer marxistischen Gruppierung mit Sitz in Bern. «Wir planen den Aufbau einer sozialistischen Planwirtschaft als Übergang in die klassenlose Gesellschaft», sagt Kohler.
Und wie soll das gelingen? «Es braucht eine globale Revolution», sagt Oertli.
Knapp 200 Mitglieder
Enteignung, Planwirtschaft, Revolution – es sind Begriffe, die eingefleischten Kapitalist*innen das Blut in den Adern gefrieren lassen. Beim «Funke» gehören sie zum Standardvokabular. Der «Funke» ist die Deutschschweizer Sektion der «International Marxist Tendency», einem internationalen Zusammenschluss marxistischer Gruppierungen.
In der Schweiz ist der «Funke» seit 2007 vertreten. Die Organisation veranstaltet Events und publiziert regelmässig ein eigenes Print- und Onlinemagazin. Dabei ist ihre Mitgliederzahl überschaubar: Nur knapp 200 Personen sind in der ganzen Schweiz «Funke»-Mitglied.
An der Herbstschule in Bern-West nehmen sogar 215 Personen teil – «ein absolut historischer Rekord», wie die Organisator*innen den Anwesenden mitteilen. Die Stuhlreihen im Quartierzentrum Gäbelbach sind denn auch gut gefüllt. Obwohl längst keine Maskenpflicht mehr herrscht, tragen alle Anwesenden eine FFP2-Maske. Solidarität wird hier gross geschrieben. Vorne auf der Bühne prangt ein grosses rotes Plakat mit einem Lenin-Zitat:
«Ohne revolutionäre Theorie kann es keine revolutionäre Bewegung geben.»
«Politische Bildung ist wichtig, um die revolutionären Kräfte in der Schweiz aufzubauen», sagt Dersu Heri in einer Pause zwischen den insgesamt fünf Vorträgen an diesem Tag. Deshalb sei er heute hier in Bern-West. «Aktuell sind wir eine kleine Gruppierung, aber immer öfter stelle ich bei Jungen eine antikapitalistische Grundhaltung fest.»
Eine Tendenz, die auch das deutsche Magazin «Spiegel» beobachtete. In einem ausführlichen Artikel widmete es sich unlängst dem Wiederaufkommen marxistischer Ideen und nannte Zahlen: So seien in den traditionell wirtschaftsliberalen USA 49 Prozent der 18- bis 29-Jährigen gegenüber sozialistischen Ideen positiv eingestellt. Und selbst die Financial Times habe ein Ende des Neoliberalismus und mehr staatliche Eingriffe gefordert, berichtet der Spiegel.
Bloss: «Mehr staatliche Eingriffe» (Financial Times) sind bei weitem nicht dasselbe wie der «Aufbau einer sozialistischen Planwirtschaft» (Funke).
Hauptsächlich Junge
Im Quartierzentrum Gäbelbach hat Dersu Heri inzwischen die Bühne betreten. Heri ist einer von schweizweit insgesamt sieben sogenannten «Fulltimern». Diese sind von «Funke» angestellt und gehen nebenher keiner weiteren Lohnarbeit nach. Finanziert werden die Vollzeitrevolutionär*innen durch Mitgliederbeiträge, Spenden von Sympathisant*innen und den Verkauf von Material wie Fahnen oder Büchern. Im Gegenzug organisieren sie Events und schreiben für die «Funke»-Zeitschrift. Ihr Büro haben sie seit 2017 in der Stadt Bern.
«Die aktuellen Proteste im Iran werden von Jungen angeführt und haben das Potenzial, zu einer revolutionären Massenbewegung zu werden», sagt Heri ins Mikrofon, das vor ihm auf dem Rednerpult steht. Was folgt, ist eine Mischung aus politischer Rede und Geschichtsstunde zum Iran. Auch die SP («paktiert mit Bürgerlichen»), der Stalinismus («Stalinisten sind keine Marxisten») und Joe Biden («Halt die Fresse du alter Sack») kriegen ihr Fett weg.
Viele im Publikum tippen Notizen in ihren Laptop. Andere füllen Notizbücher. Was auffällt: Unter den Anwesenden sind viele Junge. Mit ihren Adidas-Sneakers, Sidecuts und Leoprint-Mäntel könnten sie genauso in einem Masterseminar an der Universität sitzen.
Erst vor wenigen Monaten titelte der «Nebelspalter» denn auch alarmistisch: «Wie radikale Marxisten die Universitäten unterwandern». Tatsächlich dürften viele der Anwesenden in Bern-West Studierende sein. Von einer «Unterwanderung» der Universitäten zu sprechen scheint bei 200-Funke-Mitgliedern im Vergleich zu den insgesamt 275’000 Studierenden in der Schweiz aber realitätsfremd.
Ausbildung im Marxismus
Unter den Anwesenden in Bern West sind nicht nur Studierende: Da ist der Lehrling, der 700 Franken zur Finanzierung der Herbstschule beigetragen hat und dafür von den Anwesenden gefeiert wird. Da ist die Sekundarschülerin, die für ein kurzes Statement ans Mikrofon tritt. Und da ist Marc. Er absolviert eine Informatiklehre und ist zum zweiten Mal an einer Herbstschule dabei.
«Solche Treffen sind immer auch soziale Events, aber klar: Die Ausbildung der marxistischen Kräfte geht vor», sagt er. Wie andere Anwesende auch ist er nebst «Funke»- auch Juso-Mitglied. «Letzteres aber nur halbherzig», sagt Marc. Kein Wunder: Nebst der Lehre und seinem marxistischen Engagement bleibt kaum Zeit. Als Mitglied von einer der fünf Berner Ortsgruppen trifft er sich einmal wöchentlich mit seinen Genoss*innen, um sich gemeinsam über politische Bildung und revolutionäre Praxen auszutauschen.
Marxismus in der Berner Politik
Der «Funke» ist nicht unumstritten – selbst unter Linken: Adrian Zimmermann beschreibt die Gruppierung als eine «Art politischer Sekte, die für sich beansprucht, die einzig wahre Auslegung der Schriften von Marx zu kennen.» Zimmermann ist Historiker und Experte für linke Gruppierungen in der Schweiz. «Der Funke orientiert sich sehr stark am Wortlaut der Texte von Karl Marx und verhindert so unterschiedliche Interpretationen der darin formulierten Gedanken.»
Die Arbeiter*innenbewegung im 19. Jahrhundert orientierte sich auch in Bern an den Ideen von Karl Marx. «Seine Schriften lieferten den Arbeiter*innen eine wissenschaftliche Erklärung für die oft elenden Zustände, unter denen sie arbeiteten, wohnten und lebten», erklärt Zimmermann. Im Grunde verstand die Bewegung den marxistischen Gedanken so, dass «der Sieg des Proletariats und der Aufbau einer sozialistischen, klassenlosen Gesellschaft unausweichlich sei», sagt er.
Marxistische Ideen spiegelten sich denn auch bis in die 1950er-Jahre im Parteiprogramm der Sozialdemokratischen Partei (SP) wieder. «Bei weitem nicht alle SP-Mitglieder verstanden sich jedoch als Marxist*innen», so Zimmermann. So gab es seit Beginn der SP «auch religiöse Sozialist*innen und viele pragmatisch agierende Sachpolitiker*innen, die sich wenig für sozialistische Theorien interessierten.»
Adrian Zimmermann ordnet die Bedeutung der marxistischen Theorie für politische Parteien ein, die auch in der Stadt Bern aktiv sind. Bis heute seien Teile des linken Flügels der SP Schweiz «von marxistischen Gedankengängen in ihrem ursprünglichen, kritischen Sinne geprägt», sagt Zimmermann. Die gesamte SP Schweiz sehe die marxistische Geschichts- und Gesellschaftsanalyse seit 1959 nur noch als eine von mehreren Grundlagen des demokratischen Sozialismus. Dasselbe gilt laut Zimmermann für das Grüne Bündnis, das in der Stadt Bern als Regierungspartei ein grosses politisches Gewicht hat.
Anders sehe das bei der Partei der Arbeit (PdA) aus, die im Berner Stadtparlament mit einem Sitz vertreten ist, erläutert Zimmermann. Die PdA entstand 1944 aus der damals illegalen Kommunistischen Partei der Schweiz (KPS), welche sich 1920/21 von der SP Schweiz abgespaltet hatte. Ende 1940 wurde die KPS gleichzeitig mit einem Teil der faschistischen «Fronten» vom Bundesrat verboten.
Die KPS – und nach ihr die PdA – befolgten bis mindestens 1968 mit eiserner Disziplin die jeweils gültige, von der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) vorgegebene Generallinie der sogenannten «kommunistischen Weltbewegung». Obschon innerhalb der PdA seither eine gewisse ideologische Öffnung stattgefunden habe, lebe unter Teilen ihrer Mitgliedschaft bis heute der Marxismus-Leninismus fort. Dabei handle es sich um eine sehr schematische Lesart der Schriften von Marx, Engels und vor allem Lenin, die laut Zimmermann «äusserst wenig mit dem kritischen Geist dieser Autoren zu tun hat».
Optimistische Revolution
Im Quartierzentrum Gäbelbach geht die Herbstschule langsam zu Ende. Einzelne aus dem Publikum kommen für wenige Minuten auf die Bühne und erhalten die Möglichkeit, ihre Sicht der Dinge zu präsentieren. Dabei ist immer wieder von Optimismus die Rede. «Die marxistische Theorie gibt mir Hoffnung und verhindert, dass ich im Pessimismus versaufe», sagt später auch Julia. Die Restaurationsfachfrau in Ausbildung nahm das zweite Mal an der Herbstschule teil.
Ihr Optimismus nährt sich aus dem marxistischen Stufenmodell, wonach die Entwicklung vom Niederen (Gesellschaft der Sklavenhalter*innen) zum Höheren (kommunistische Gesellschaft) notwendig sei. Oder anders formuliert: Die Revolution kommt sowieso.
Und so stehen sie zum Abschluss alle auf, die Marxist*innen in Bern-West, und singen die Internationale – jenes Lied der sozialistischen Arbeiter*innenbewegung, das bis 1943 als Hymne der Sowjetunion herhalten musste. Es passt irgendwie zu dieser Gruppierung, deren Ziele deutlich grösser sind als die eigene Wirkungsmacht zulässt.