Der Marathon zur Schütz der Zukunft
Seit Jahrzehnten denkt die Stadt Bern darüber nach, was sie aus der Schützenmatte machen will. Jetzt ist klar: Sie soll ab 2028 ein offener Platz werden, dessen Hauptzweck darin besteht, dass die Benutzer*innen ihn sich aneignen können. Was heisst das?
Angesichts der Schützenmatte müsste Immobilien-Investor*innen, die Bern nicht so gut kennen, eigentlich das Wasser im Mund zusammenlaufen: ein unbebautes Stück städtischen Bodens, hauptsächlich genutzt als Parkplatz, an bester Lage, fünf Minuten vom Bahnhof und vom beschaulichen Aarespaziergang entfernt. Ein Ort, prädestiniert dafür, zum dicht bebauten, profitablen Business-Standort zu werden.
Das ist in Bern nicht passiert. Und wird es auch nicht. Seit ein paar Wochen weiss man, dass die Schützenmatte zwar vom Parkplatz zum Begegnungsort umgestaltet, aber unbebaut bleiben wird. Wie ist es dazu gekommen, dass man seit Jahrzehnten über die Schütz nachdenkt und am Schluss doch fast nichts passiert?
Ein zentraler Aspekt: Die Schützenmatte war und ist ein Schauplatz politischer Auseinandersetzungen in Bern. Allerdings nicht wegen ihr selbst, sondern wegen der angrenzenden Reitschule.
Parkplatz und Gewalt
Die Reitschule stand Anfang der 80er-Jahre leer. 1981 stellte sie die Stadt als Autonomes Jugendzentrum zur Verfügung, als Folge der Berner Jugendunruhen. Da sich Stadt und die Betreiber*innen des AJZ nicht auf ein Betriebskonzept einigen konnten, wurde die Reitschule 1982 mit einem grossen Polizeieinsatz wieder geräumt. Nach den Zaffaraya-Protesten 1987 stimmte der Gemeinderat erstmals einer provisorischen Nutzung der Reitschule als Kulturzentrum zu.
1988 lehnte das Stadtberner Stimmvolk die Initiative «Sport statt AJZ» ab. Das Volksbegehren hatte den Abbruch der Reitschule zum Ziel. Die Berner*innen stellten sich in Volksabstimmungen insgesamt fünfmal hinter das Kulturzentrum. Das letzte Mal 2010 bei einer durch die junge SVP eingereichten Initiative – mit 68 Prozent Stimmanteil pro Reitschule.
Trotzdem wäre die Schützenmatte 1997 fast Teil eines städtebaulichen Coups geworden. Damals wurde in der Stadt Bern über den Schanzentunnel für den Motorfahrzeugverkehr abgestimmt. Die Bundesstadt wäre von der Belpstrasse bis an die Schütz untertunnelt worden. Ziel: ein verkehrsfreier Bahnhofsplatz. Doch das Vorhaben wurde an der Urne abgelehnt.
Was sollte aus der Schützenmatte werden, wenn nicht ein Portal zu einem Strassentunnel? Bis eine ernsthafte und strukturierte Diskussion darüber in Gang kam, sollte es noch zwölf Jahre dauern.
Und so war die Schütz vor allem eines – ein Parkplatz mit etwas erhöhtem Gewaltpotenzial.
Schlussendlich wird die Umgestaltung noch weitere zwei Jahrzehnte beanspruchen, wie die folgende Chronik nachzeichnet.
November 2009
SP und Grünes Bündnis fordern in zwei Motionen die Umgestaltung der Schützenmatte. Der Stadtrat erklärt diese für erheblich und löst damit den Planungsprozess aus.
Juni 2012
Für die Aufgleisung des Planungsprozesses spricht der Stadtrat einen Kredit.
Mai 2013
Die Umgestaltung soll in Form eines ergebnisoffenen und partizipativen Verfahrens erarbeitet werden. Der Stadtrat bewilligt die Erhöhung des Kredits.
Januar 2014
Im Sinne der Partizipation wird bei der Umgestaltung ein Begleitgremium eingesetzt. Es besteht aus Grundeigentümer*innen, direkten Anrainer*innen, Nutzer*innen, Interessensgruppen, Fachverbänden und politischen Parteien.
Fazit der ersten Sitzung: Für die Mehrheit sind Parkplätze auf der Schütz unerwünscht.
September 2014
Das «Labor Schützenmatte» findet statt: Während vier Tagen kann sich die Öffentlichkeit in den Umgestaltungsprozess einbringen. Dazu wird in der grossen Halle ein Forum mit einem 10 x 7 Meter grossen, begehbaren Modell der Schütz abgehalten. Auf der während dieser Zeit autofreien Schütz gibt es ein Partizipationsprogramm. Dadurch werden rund 300 verschiedene Ideen und Vorschläge gesammelt.
Mai 2015
Das Begleitgremium verabschiedet das Nutzungs- und Entwicklungskonzept (NEK). Die Schützenmatte soll zu einem vielfältig nutzbaren Begegnungsort aufgewertet werden. Wichtigste Voraussetzung dafür: Die Aufhebung der Parkplätze auf der Schütz.
Sommer 2015
Unter dem Namen «Neustadt-lab» werden während zwei Monaten 130 Veranstaltungen, Kurse und Ausstellungen auf der Schützenmatte organisiert. Die im NEK erwünschte multifunktionale Nutzung soll damit erprobt werden. Während diesen zwei Monaten sind die Parkplätze aufgehoben.
Sommer 2016
Zweite Ausgabe des «Neustadt-lab».
November 2016
Der Gemeinderat beschliesst die vollständige Aufhebung der Parkplätze für Personenwagen auf der Schützenmatte. Die Carparkplätze sollen aber bestehen bleiben. Wirtschaftsverbände legen Beschwerde gegen diesen Entscheid ein.
Zudem bewilligt der Stadtrat das NEK und erhöht den Schützenmatte-Kredit nochmals; eine konkrete Vorstudie zum Projekt soll ausgearbeitet werden.
Sommer 2017
Dritte Ausgabe des «Neustadt-lab».
Januar 2018
Der Gemeinderat und die Beschwerdeführenden einigen sich im Parkplatzstreit. Rund ein Drittel der Parkplätze soll für die gewerbliche Nutzung weiterhin zur Verfügung stehen.
Mit diesem Entscheid werden die restlichen zwei Drittel der Schütz, als Zwischennutzung auf drei Jahre limitiert, für die Bevölkerung frei.
Die vollständige Aufhebung der Parkplätze ist bis heute nicht erfolgt.
Sommer / Herbst 2018
Der Stadtrat bewilligt den Kredit für die dreijährige Zwischennutzung auf der Schützenmatte.
Die Schützenmatte wird in einem symbolischen Akt durch den Stadtpräsidenten Alec von Graffenried und der damaligen Gemeinderätin Ursula Wyss an die Bevölkerung übergeben.
Der Verein «PlatzKultur» übernimmt das Management der Zwischennutzung.
April 2020
Die Zwischennutzung wird vorzeitig beendet, da für den Weiterbetrieb die auf der Schützenmatte vorhandene Infrastruktur ausgebaut werden müsste. Das dafür nötige Baugesuch wird durch Einsprachen blockiert, weil unter dem Bahnviadukt immer wieder illegale Veranstaltungen organisiert wurden, die zu Lärmbelastungen in den umliegenden Quartieren geführt haben. Der Lärm stammt nicht aus der Zwischennutzung.
Ein Weiterbetrieb der Zwischennutzung wäre aber laut Gemeinderat aufgrund der Massnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus sowieso nicht möglich gewesen.
Sommer 2021
Die Bevölkerung kann ihre Ideen zur umgestalteten Schützenmatte in einem sogenannten «OpenOffice-Container» erneut einbringen. Diese Ideen fliessen in die Vorstudie.
Juni 2022
Vorstellung der Vorstudie zur Schützenmatte. Diese wurde erneut zusammen mit einem Begleitgremium ausgearbeitet, das aber verkleinert wurde und grösstenteils aus den Anrainer*innen besteht.
Da es bis zur konkreten Umsetzung noch Jahre dauern wird, werden einige dringende Umbauten schon im Sommer 2022 umgesetzt.
ab 2023
Konkrete Projektierung. Unter Einbezug des Feedbacks auf die Vorstudie bestimmt das Tiefbauamt der Stadt die Massnahmen zur Umgestaltung der Schütz. Danach behandelt der Stadtrat den Ausführungskredit. Je nach Finanzierungsbedarf wird das Stadtberner Stimmvolk aber wohl das letzte Wort haben.
Ab 2023 wird das vorderste Viertel der Schützenmatte zudem als Lagerungsort für die Grossbaustelle «Zukunft Bahnhof Bern» genutzt. Deswegen ist die Umsetzung der Umgestaltung nicht vor 2028 möglich.
ab 2028
Die Schützenmatte wird umgestaltet.
Wo steht die Schütz heute?
Obwohl die Parkplätze zu zwei Dritteln weg sind, konnte sich die Schütz bis heute nicht als Begegnungsort etablieren. Christoph Ris vom Verein «PlatzKultur» und zudem von der Stadt für die «Koordination und Bewartung Schützenmatte» angestellt, erklärt: «Das Problem ist, dass man am Tag nicht auf der Schütz verweilen will, weil es zu heiss oder zu laut ist. Abends wird sie zu einem Durchgangsgebiet, das man so schnell wie möglich durchqueren möchte.»
Diese Konstellation würde die immer wieder auftauchenden Probleme mit Gewalt und mangelnder Sicherheit auf der Schütz weiter befeuern, so Ris. Der Gemeinderat hat deshalb im April entschieden, dass zusätzlich zur Umgestaltung ein Sicherheitsdienst auf der Schützenmatte eingesetzt werden soll.
Wer nun die Vorstudie zur Schützenmatte anschaut, könnte dazu neigen, etwas enttäuscht zu sein. Denn auffällig ist vor allem, dass viele neue Bäume gepflanzt werden sollen. Doch wo liegt hier nach über einem Jahrzehnt Partizipation und Arbeit der grosse Wurf?
«In der ersten Phase wurde auch kurz über ein Hochhaus oder eine Markthalle debattiert, doch die Mehrheit des Begleitgremiums war ganz klar für einen Begegnungsort Schützenmatte», sagt Christoph Ris. Es sei nicht im Interesse des Begleitgremiums gewesen, aus der Schütz das nächste grosse Leuchtturm-Bauprojekt der Stadt zu machen.
Neues Feeling
«Der Platz soll so umgebaut werden, dass seine Benutzer*innen sich diesen aneignen und selber gestalten können – wenn, dann liegt der grosse Wurf also in den Details», ergänzt Ris.
Wird man von der so zurückhaltenden Umgestaltung überhaupt etwas merken? Nadine Heller, Bereichsleiterin Gestaltung und Nutzung sowie Co-Projektleiterin der Schütz-Umgestaltung beim städtischen Tiefbauamt, erklärt: «Der Platz wird ein anderes Gesicht bekommen und sich anders anfühlen.»
Anders als heute, da man sich auf dem Platz schnell verloren vorkomme, würden die Fussgänger*innen in Zukunft geleitet. Im provisorischen Plan der Vorstudie führen breite Durchgänge die Fussgänger*innen über die Schütz.
Die neue Schütz werde zudem bepflanzt mit Bäumen, die Schatten spenden sollen. «Ganz allgemein sollen grosse Teile des Platzes entsiegelt werden», sagt Heller. Ein positiver Nebeneffekt davon sei, dass der Lärm besser absorbiert werde.
Die umgestaltete Schütz soll dereinst in zwei Teile unterteilt sein. Diese sollen zwar klar definiert werden, aber viel Platz zur Aneignung durch die Benutzer*innen lassen. Der linke Teil ist für Veranstaltungen gedacht. So hat es dort Platz für unterschiedliche Nutzungen wie beispielsweise eine Bühne. Auf dem rechten Teil bleibt Raum für Kleinbauten. «Das gibt uns die Möglichkeit den Platz von der Schützenmattstrasse abzugrenzen und die derzeit ungenügende WC-Situation zu verbessern», so Heller. Ausserdem sollen dort eine Abfallentsorgungsstelle und verschiedene Spiel- und Sitzelemente entstehen.
Ein weiterer nicht zu unterschätzender Aspekt sei das überarbeitete Lichtkonzept. «Wenn man zur Zeit abends auf der Schützenmatte ist, wird man von den Flutlichtern geblendet und man fühlt sich unsicher. Und in anderen Bereichen der Schütz ist es schlicht zu dunkel», erklärt Heller.
Da die Schütz durch die Grossbaustelle «Zukunft Bahnhof Bern» zu etwa einem Viertel belegt werden wird und so frühestens 2028 umgestaltet werden kann, hat die Stadt einige Sofortmassnahmen veranlasst. Dazu gehören etwa zusätzliche WC-Anlagen sowie Veloständer. «Ausserdem soll der ohnehin schon durch Graffitis verzierte Viadukt der SBB nun ein legaler Graffitiplatz werden», sagt Ris.
Die heikle Parkplatzfrage
Noch nicht abschliessend geklärt ist die Parkplatzfrage. Das Begleitgremium war seit Planungsbeginn dezidiert für eine Aufhebung aller Parkplätze, und so sind in der Vorstudie auch keine mehr vorgesehen. Allerdings einigte sich die Stadt 2016 mit den Wirtschaftsverbänden auf den heute noch geltenden Kompromiss, dass ein Drittel der Parkplätze für den Wirtschaftsverkehr bestehen bleibe. Man sei aber daran, mit den Einsprechenden von 2016 Gespräche zu führen, heisst es von Seiten der Stadt.
Auch wenn bis zur Umgestaltung der Schütz noch einige weitere Jahre ins Land gehen werden, scheinen alle Beteiligten zufrieden mit der partizipativen Planung. «Ich finde, so geht Planungskultur heute», meint Nadine Heller vom Tiefbauamt.
Auch David Böhner von der Druckerei Reitschule, der fast täglich über den Platz geht, ist grösstenteils zufrieden mit der Vorstudie. «Einzig, dass das Potenzial für eine neue Verkehrsführung um die Schützenmatte und die Reitschule nicht genutzt wurde, finde ich etwas ernüchternd.» Auch hoffe er, dass die Umgestaltung nun von der Vorstudie bis zum fertigen Projekt nicht abgeschwächt werde.