Donato Cancellara und die wilden Berner Velozeiten
In den 1990er-Jahren herrschte in Bern in Sachen Velosport Wildwuchs. Ein Rennen jagte das andere. Mittendrin: Der kürzlich verstorbene Donato Cancellara, Vater von Fabian Cancellara.
Ein Rennvelo in der Kirche. Das geschieht nicht alle Tage, schon gar nicht in der Kirche von Wohlen. Doch der 21. August 2025 ist kein Tag wie jeder andere. Rund 300 Personen versammeln sich in der Kirche, um von Donato Cancellara Abschied zu nehmen. Dieser verstarb zwölf Tage zuvor im Alter von 77 Jahren. Cancellara verbrachte sein halbes Leben in Hinterkappelen, nachdem er mit 18 Jahren aus der italienischen Basilicata in die Schweiz gekommen war. Er galt als Antreiber und Velonarr, einer mit dem Schalk im Nacken und Vollblut-Italiener. Ein Mensch, der vieles auslöste, nur nicht Gleichgültigkeit.
Unter den anwesenden Trauergästen ist Paolo Manzoni, ein Wegbegleiter von Cancellara senior und selbst leidenschaftlicher Velofahrer. Er erinnert sich: «Ein Colnago-Rennvelo stand beim Altar.» Auf dem Fahrrad aus der italienischen Edel-Schmiede fuhr Fabian Cancellara Anfang der 2000er Jahre Rennen – später kehrte es in den Familienbesitz zurück. «Ich wollte, dass Donato das Velo auf seine letzte Reise mitnehmen kann», sagt Fabian Cancellara im Gespräch mit der «Hauptstadt». Das Colnago verbindet Vater und Sohn auf eine besondere Weise – doch dazu später mehr.
Es sei eine «sehr berührende Feier» gewesen, sagt Pierino Rossi rückblickend. Auch er erwies Cancellara in Wohlen die letzte Ehre, und auch er gehört zu seinen Gefährten der letzten Jahrzehnte. Rossi sind noch die italienischen Lieder im Ohr, die während der Abdankung gespielt wurden: von Gianna Nannini und Adriano Celentano.
Das Berner Velo-Urgestein Aldo Schaller, der ebenfalls auf der Kirchenbank Platz nahm, erspähte Veloprominenz, wie er der «Hauptstadt» erzählt: Der Ittiger Veloprofi Marc Hirschi sei dagewesen, David Zürcher, Boss des Veloherstellers BMC – und natürlich Fabian Cancellara: «Die Trauerfeier sollte zeigen, wie mein Vater als Mensch war – leidenschaftlich, gerne unter Leuten und veloverrückt. Diese öffentliche Form des Abschiednehmens hat mir auch Kraft gegeben für Neues», so der Ittiger.
Doppelter Abschied
Manzoni, Rossi, Schaller – was allen drei gemeinsam ist: Sie teilten mit Donato Cancellara über Jahrzehnte einen gemeinsamen Fixpunkt: Den Veloclub Ciclo International aus Ostermundigen. Der Verein, welcher zu seinen Hochzeiten mehr als 190 Mitglieder zählte, war einer der Dreh- und Angelpunkte für die äusserst lebendige Berner Veloszene der 1980er- und 90er-Jahre.
Der Tod Donato Cancellaras kommt für die drei einer Zäsur gleich: Es ist nicht nur der Abschied von einem Menschen, sondern auch von einer Welt.
Rennvelofahren so wie sie es kannten: mit grellen, kratzenden Synthetik-Jerseys, an hitzigen Rundstreckenrennen und danach zu ausufernden Vereinstreffen – all das existiert noch in ihren Erinnerungen, aber praktisch nicht mehr in der Gegenwart. Der Glanz der damals omnipräsenten Schweizer Velomarken Cilo, Allegro oder Tigra ist längst verblasst. Specialized, Canyon und Trek haben übernommen.
Rennvelofahren ist heute nicht mehr nur Sport, sondern ein durchgestyltes, auf Social Media gut dokumentiertes Fest der Individualist*innen. Eine schnittige Weltflucht der Schreibtischtäter*innen – mehr Bürgertum als Arbeiterklasse.
In den 1980er- und 1990er-Jahren war es ein anderes Milieu, aus dem Veloclubs ihre Mitglieder rekrutierten. Sie wurden von Migrant*innen getragen, die in der Schweiz anpackten und in der Freizeit dem Velosport frönten. So auch beim Ciclo International in Ostermundigen: Donato Cancellara beispielsweise arbeitete als Heizungsmonteur. Sein Clubkollege Celestino Angelucci, sportlicher Leiter und später als Ziehvater von Fabian Cancellara bekannt, führte ein Plattenlegergeschäft. «Der Club war geprägt von Gastarbeitern aus Italien, Spanien und Portugal», sagt Manzoni. Dem trägt auch der Vereinsname Rechnung. «Ciclo International» zeugt von verschiedenen Hintergründen, lässt sich sprachlich aber nicht eindeutig zuordnen.
Ein weiterer Begegnungsort für die migrantische Velo-Szene war die Casa d’Italia in der Länggasse. «Nach ihren Clubrennen gab es immer ein Fest – es wurde grilliert», erinnert sich Paolo Manzoni.
Velosport im Höhenflug
Manzoni hat mit Donato Cancellara Zeiten erlebt, in denen es im Sommerhalbjahr an jedem Wochenende Hobby-Velorennen gab und dies immer wieder mit über 100 Starter*innen – heute undenkbar.
Man fuhr nach Hindelbank und Gerlafingen, nach Schaffhausen oder ins Tessin, richtete aber auch jährlich ein eigenes Rundstreckenrennen, ein Criterium, in Ostermundigen aus. Mitten auf der Bernstrasse sei man gefahren, sagt Manzoni, dann bei der Emmi zum Kreisel und an der Schnellstrasse zurück. Die Absicherungen habe man aus der Vereinskasse bezahlt und Streckenposten organisiert, erinnert sich Pierino Rossi. «Das Ganze hatte einen Volksfestcharakter – inklusive Pasta-Buffet.»
Immer dabei: Donato Cancellara. Von gedrungener Statur und bewusst im Hohlkreuz gehend, hatte er häufig einen Spruch parat: «Achtung, der Tschinggeli kommt», habe Cancellara hin und wieder gesagt, erinnert sich Rossi. Eine bewusste Anspielung auf seine italienische Herkunft. Donato Cancellara identifizierte sich zeitlebens stark mit Italien und dessen Velosport, der dort seit jeher einen hohen Stellenwert besitzt.
Umso begeisterter war Cancellara, dass seine Kinder Tamara und Fabian ebenfalls Rennvelo fuhren. Er kutschierte sie – die Velos auf dem Dach, das Gepäck im Kofferraum – im Auto durch das ganze Land, um ihnen eine Rennteilnahme zu ermöglichen.
Fabian Cancellara erinnert sich an die Junioren-Zeit zurück: «Wir fuhren häufig im Morgengrauen los und schliefen noch. Dann ass ich im Auto die Pasta, die meine Mutter vorbereitet hatte. Gegen 10 Uhr war das Rennen häufig schon vorbei – eine halbe Stunde später hatte man eine Bratwurst in der Hand.»
Cancellara fuhr Sieg um Sieg ein und bescherte dem Trikot des CI Ostermundigen eine schweizweite Sichtbarkeit, wie es sie vorher und nachher nicht mehr geben sollte.
Während Fabian Cancellaras Karriere zum Teil der Schweizer Sportgeschichte wurde, ist Tamaras Werdegang weniger bekannt. Doch auch sie schaffte es als Juniorin bis an eine Rad-Weltmeisterschaft.
Für die Cancellaras war Velofahren eine Familienangelegenheit, in der Donato eine dominierende Rolle einnahm. «Er hatte einen starken Willen und gab sich selten diplomatisch. Bei ihm ging es immer geradeaus», sagt sein Weggefährte Rossi.
Cancellara senior und der erwähnte sportliche Leiter Celestino Angelucci gaben Anfang der 1990er-Jahre beim CI Ostermundigen den Takt vor: «Für Rennen trafen wir uns häufig schon um 4 Uhr morgens in Bern-Bethlehem in der Nähe des Tscharnerguts», so Rossi.
Für Trainingsfahrten am Wochenende versammelte sich die Szene zum Beispiel in Niederwangen. Fabian Cancellara und Paolo Manzoni haben in Erinnerung, wie sie regelmässig um 10 Uhr morgens bei Pneu Fahrni ihre Runden starteten. « Es ging zum Beispiel an den Bielersee oder in Richtung Jaunpass. Angelucci begleitete uns mit dem Auto. Anschliessend sind wir häufiger bei ihm zuhause gelandet und haben Teigwaren gegessen», so Fabian Cancellara.
«Es geht einfach ums Velofahren»
Aldo Schaller erinnert sich an Donato Cancellara, der seinen Sohn «mit eiserner Hand» durch die Pubertät gebracht habe. Der sportliche Erfolg gab ihm recht: Fabian Cancellara wurde mit 17 Jahren Junioren-Weltmeister im Zeitfahren.
Je mehr Titel sein Sohn einfuhr, desto mehr liess Donato Cancellara seine Rolle als Betreuer und Mentor los. Das Colnago-Velo aus der Kirche zeugt nicht nur von der gemeinsamen Leidenschaft fürs Velofahren, sondern auch von einer «Abspaltung», wie Fabian Cancellara sie nennt. Auf dem Colnago war er unterwegs, als er für seinen ersten Profi-Vertrag beim Team Mapei in Italien anheuerte und seinen internationalen Durchbruch schaffte.
Aus Hindelbank wurde das französische Radmekka Roubaix, aus der Berner Rundfahrt die Tour de France. Cancellara senior verfolgte die glänzende Karriere seines Sohnes mehr und mehr als Fan.
Fabian Cancellara gewann 2016 in Rio de Janeiro Gold im olympischen Zeitfahren, danach beendete er seine aktive Karriere. In den letzten Jahren baute er das Rennteam Tudor Pro Cycling, in dem mittlerweile auch der Ittiger Profi Marc Hirschi fährt, zu einer ernstzunehmenden Grösse im Welt-Radsport auf.
Den CI Ostermundigen ereilte unterdessen das Schicksal vieler Radclubs: Ein immer breiteres Freizeitangebot, der Doping-Sumpf der frühen 2000er-Jahre und letztendlich die Überalterung liess die Mitgliederzahl schrumpfen. Auch Donato Cancellara trat im letzten Jahr aus dem Verein aus, der laut Wegbegleitern kurz vor der Auflösung steht.
Die wilde Velowelt der 1990er-Jahre versuchte Donato Cancellara zuletzt durch historische Rennvelos wiederaufleben zu lassen – durch eben jene Modelle wie das Colnago, das am Tag seiner Beerdigung am Altar stand.
Im Pensionsalter sammelte Donato Cancellara diese Velos samt Ersatzteilen in seinem Keller. «Er baute die Zweiräder in Eigenregie wieder auf und verkaufte sie anschliessend über WhatsApp», erzählt Pierino Rossi. Stahl statt Carbon, Vintage-Chic statt Performance-Protzerei. Oder in den überlieferten Worten von Donato Cancellara: «Du musst nicht immer das Beste haben. Es geht einfach ums Velofahren».
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