Treffpunkt Grauholz
Ein Abend auf Berns einziger Autobahnraststätte.
Das Grauholz ist eine von sehr wenigen Autobahnraststätten in der Schweiz, die nicht von einer Konzern-Kette geführt sind. Die «A1 Hotel- und Restaurant Grauholz AG» gehört drei Gastro-Unternehmerfamilien. Sie betreibt die Raststätte seit 40 Jahren.
Wobei die Konzernunabhängigkeit nicht mehr ganz lupenrein ist: Seit letztem Winter führt Burger King eines der Restaurants.
Das ist nicht zu übersehen. Auf einer 30 Meter hohen Säule wirbt der US-Konzern mit seinem Burger-Logo. Gegen diese «Veramerikanisierung der Landschaft» haben die Grünen gar einen Vorstoss im Kantonsparlament eingereicht.
Der «Burger King-Spargel», wie sie ihn nennen, kann einem aber auch als Orientierung dienen. Zum Beispiel, wenn man wie ich mit dem Velo anreist. Eine Premiere für mich. Es gibt dann auch keine Veloständer vor Ort.
Wohl aber ein Tor zum ansonsten umzäunten südlichen Areal der Raststätte, das den autofreien Eintritt ermöglicht. Das Sonnenlicht ist immer noch grell an diesem späten Nachmittag Anfang September. Auf dieser Seite der A1 brausen die Autos von der Stadt weg in Richtung Osten.
Das Grauholz ist die einzige Autobahnraststätte in der Umgebung der Stadt Bern. Sie liegt auf Gemeindeboden von Ittigen. Was erklärt, weshalb ich hier noch kaum je war. Warum auch, wenn man in Bern wohnt.
Chlei cho höckle
Ich bin hier nicht die Einzige, die ohne Motorfahrzeug gekommen ist. Am Tor treffe ich Michael. Er stösst einen Kinderwagen, die Schwiegermutter trägt daneben sein Baby.
Sie wohnen in der nahe gelegenen Kappelisacker-Überbauung in Ittigen. Auf seinen Spaziergängen kommt Michael häufig auf der Raststätte vorbei. So auch heute: «Eifach chlei cho höckle.» Manchmal geht er auch einen Kaffee trinken, im Tankstellenshop was kaufen oder ab und zu auf der Nord-Seite in den Burger King.
«Stört der Lärm nicht?», frage ich über das Verkehrsrauschen hinweg. «Gehört dazu», sagt der freundliche Mann in schwarzem Printshirt und knielangen Hosen. Die Durchgangsstrasse neben seinem Schlafzimmer sei mühsamer, obwohl es da 30er-Zone ist.
Auf dem Parkplatz ist es ruhig. Die meisten Parkfelder sind leer. Die Ferienzeit ist offensichtlich vorbei: Praktisch alle PWs tragen Schweizer Nummernschilder.
Hier auf der kleineren Süd-Seite gibt es neben einer Tankstelle das «Grauholz Süd Restaurant». Es lockt mit dem Slogan: «Gemütlichkeit hat einen Namen».
An einem Aussentisch sitzt eine Frau vor ihrem leeren Kaffeebecher. Kinnlanger Bob, Silberschmuck, neben sich auf der Holzbank eine Handtasche in beige. Sie wartet auf einen Kollegen, erzählt sie. Die beiden haben sich hier auf einen Kaffee verabredet. Sie arbeitet fürs Militär im Tessin, hat aber ab und zu Kurse in Bern. Er ist aus der Umgebung. «Wenn wir mehr Zeit haben, treffen wir uns an schöneren Orten», sagt sie. Heute muss Grauholz Süd reichen. Denn sie fährt nachher noch zurück ins Tessin.
Vor uns biegt ein Auto mit tiefer gelegtem Unterboden in einen Parkplatz ein. Es stösst mit der Front auf dem Randstein auf. Zwei Männer steigen aus, schauen besorgt, einer sagt: «Voll am Rauche, Bro.» Ich sehe keinen Rauch.
Käseküchlein
Im Restaurant ist nichts los. Es gibt ein Buffet mit Salat, Fleisch, allerlei. Ich kaufe mir ein Käseküchlein.
Im Aufenthaltsbereich gibt es eine Mikrowelle zum selber wärmen. Mein Gebäck ist aber schon warm. Ich setze mich auf Holzstühle, es gäbe auch Samtsessel. Es läuft Radio: Nachrichten, dann «Rolling in the Deep» von Adèle. Der Boden des Käseküchleins ist labbrig. Nicht einfach, es von Hand zu essen. Das Lokal ist mir sympathisch.
Natürlich gibt es Souvenirs und Schweizer Markenprodukte. Es lockt Süsses von Kambly, Lindt, Toblerone, Ricola. Es gibt Stoffkühe. Auch ein Messer von Victorinox kann sich gönnen, wer will.
Aber auf mich wirkt das alles recht dezent. Die Regale für die auf langen Autofahrten wirklich nutzlosen Dinge (Marken-Sackmesser und Schlüsselanhänger) stehen abseits in einer Ecke. Fast könnte man sie übersehen. Auch der Weg von und zu den WCs führt durch keine Konsumgassen. Wer will, kann beim Eingang einfach direkt rechts abbiegen.
In der Frauentoilette hängt einer dieser Automaten, bei denen man löblicherweise OBs und Kondome, und aus unerfindlichen Gründen auch Mini-Vibratoren beziehen kann. Wer denkt sich am unerotischsten Platz der Welt: Momol, so ein Toy nehm ich mir jetzt mit?
Ansonsten ist zum WC festzuhalten: Es ist sauber, ohne Schnickschnack und kostet einen Franken. Die WC-Türen sind, sehr unschweizerisch, verkratzt. Beim Pinkeln lese ich in krakeligen Lettern: «Hi du Spast.»
Raststätten sind nicht für LKWs gebaut
Von Süd nach Nord führt eine Brücke. Sie ist auch mit dem Auto befahrbar – nützliches Wissen für alle, die zum falschen Einspuren neigen.
Zu Fuss kreuze ich auf dem Weg ein junges Paar aus dem Wallis. Er hat eine Flasche Weisswein für später unter den Arm geklemmt, sie trägt ein weisses Mini-Kleid. Die beiden haben etwas zu feiern. Ein nigelnagelneues Auto haben sie gekauft und soeben in Bern abgeholt, erzählen sie mir. Ich blicke dem blendend weissen Peugeot hinterher, als sie auf die Beschleunigungsspur einbiegen.
Das Areal der Nord-Seite ist grösser. Der besagte Burger King ist hier in einem unansehnlichen Bau mit Eternit, Beton und Glas untergebracht, dazu gibt es weitere Essensstände und in einem zweiten Gebäude ein Café der Grauholz AG. Sogar ein Hotel steht hier.
Auf der Nord-Seite sind auch die LKWs.
Ich treffe Daniel und Giacomo draussen vor dem Restaurant. Grasgrüne T-Shirts spannen sich über ihre Bäuche. Daniel raucht zu seinem Espresso eine Zigarette. Der Ostschweizer wartet, bis sein Lastwagen aufgeladen ist – er fährt mit Strom. Seine Strecke führt von Wil in St. Gallen bis nach Château-d'Oex. An 15 Posten hat er heute Ware abgeladen. «Ich transportiere alles, was nicht Öl oder so ist», sagt er. Pro Woche fährt er bis zu 7'500 Kilometer. «Immer die A1 rauf und runter».
Für heute ist Feierabend. Daniels Handy klingelt. «Nöd wichtig», sagt er, winkt ab und bringt das singende Gerät zum Schweigen. Da kommt einer raus und steuert direkt auf ihn zu. Er trägt Tattoos, ein Headset im Ohr und eine spiegelnde Sonnenbrille. Über seinem schwarzen Shirt glitzert eine dicke Silberkette. «Gopferdammi, nimsch s Telefon nid ab?», ruft er und klopft Daniel auf den Nacken. «Chunnsch mit uf Schüpfe, s git Härdöpfusalat und Bohne!»
Daniel willigt ein und klärt mich auf: «Wir Lastwagenfahrer mögen eigentlich Raststätten nicht besonders.» Zum Beispiel hier: Das Essen sei zwar in Ordnung und das Lokal sauber, aber es sei zu teuer. «8 Franken 50 für einen Salat und dann zahlst du die Sauce und die Gabel noch obendrauf.» Eine Dusche kostet ebenfalls 8 Franken.
In Chauffeur-Lokalen, die extra grosse Parkplätze für LKWs haben, seien die Bedingungen besser, und das Essen sei mit mehr Liebe gekocht. «Wenn möglich, gehen wir Schweizer Trucker dorthin», sagt Daniel. Wie eben nach Schüpfen, wo er mit seinem Kollegen über Nacht stehen will. Leider seien diese Lokale vom Aussterben bedroht. «Es gibt keine Jungen mehr, die sie führen wollen.»
Giacomo hingegen wird heute noch weiter nach Lausanne fahren. Der Tessiner transportiert für die Migros Gemüse und Obst. Autobahnraststätten seien eher schlecht als recht auf LKW-Fahrer ausgerichtet, sagt er. «Mit den Touristen macht man mehr Geld.» So gebe es auf den meisten Schweizer Raststätten zu wenig LKW-Parkplätze. «Komm in der Nacht hierher, dann siehst du, dass sie überall parkieren müssen», sagt Giacomo. Manchmal müssten die Chauffeure auch Bussen in Kauf nehmen, weil sie keine legalen Parkmöglichkeiten fänden, ohne lange Umwege zu fahren. Zusätzliche Kilometer würden ihnen von den Transportunternehmen teilweise verrechnet. «Das ist ein Problem für uns Trucker. Wir bräuchten mehr Platz.»
«Richtig schlecht» aber gehe es, das sagen die beiden, den ausländischen LKW-Fahrern. «Die können sich hier, wenn überhaupt, knapp den Stutz fürs WC leisten», sagt Daniel. Deren Löhne seien so schlecht, dass sie ihr Essen jeweils aus dem Ausland mitbringen. Auch die Chauffeur-Lokale, die Schweizer Chauffeure schätzen, seien für sie unerschwinglich.
Das Hotel Grauholz, drei Sterne und leicht erhöht über den Dächern der LKWs, ist eine Welt, der die Trucker nie begegnen. Im Hotel zu schlafen, könnte sich auch ein Schweizer Chauffeur unmöglich leisten, sagen mir die beiden. «Würde ich auch nicht wollen», sagt Daniel. «Ich schlafe nirgends so gut wie in meinem LKW.»
Roller
Ich hole mir ein Nachtessen bei «Asia Food». Bestellen kann man nur via einen Bildschirm. Die Mitarbeiterinnen hinter der Theke sind dann aber doch in Gesprächslaune. Ich bin auch die einzige Kundin.
Sie arbeiten gerne hier, sagen die beiden Frauen. Es kämen immer mal wieder «berühmte Leute». Zum Beispiel Fussballmannschaften: YB sei schon hier gewesen oder der FC St. Gallen vor einem Auswärtsmatch. Und der SCB habe einmal im Hotel übernachtet.
Aus einem Kartonschälchen spachtle ich Bami Goreng mit Tofu. Draussen vor dem Fenster erdreistet sich jemand, zu seinem Bier eine Schokoladenmilch zu trinken. Ansonsten läuft nichts.
Dann tauchen ein paar Jungs mit Elektrorollern auf. Sie sind offensichtlich zum Spass hier. Zwischen parkierten Autos ziehen sie enge Radien. Dann springt einer dem anderen in voller Fahrt hintendrauf. Seine silbernen Asics Sneakers sind nicht gebunden. Sein Kollege trägt Nike Airs, Trainerhosen, Pulli, ein Käppi, alles in schwarz. Sie sehen glücklich aus, wie sie ihre Runden drehen.
Bis zwei Polizisten ins Bild treten. Da stehen die sechs Jungs plötzlich ganz eng nebeneinander, keiner will der vorderste sein. Ein Ausweis wechselt von der jugendlichen in die Polizistenhand. Für mich ist der Moment gekommen, mich nach draussen zu begeben. Ich setze mich in die Nähe des Happenings und tue beschäftigt.
Der Tschugger belehrt die Jungs. Das ganze Areal hier gelte als Autobahn – kein Terrain für wenig potente Elektroroller. Und spätestens, wenn man «voll Garacho» ins «Einfahrt verboten» reinsteuere, seien mindestens 100 Stutz Busse fällig. «Geits euch no?»
Die Täter sind kleinlaut. Keiner widerspricht. Sie murmeln, sodass ich sie nicht verstehe. Kommt die Busse oder kommt sie nicht?
Plötzlich redet der Polizist von einem teuren Auto, das er sich mit 23 gekauft hat. Und er sagt so etwas wie «Nein, aber ehrlich, Jungs». Das ist ein gutes Zeichen für die Teenager. Ich tippe auf Freilassung.
Tatsächlich. «Häbet Sorg», sagen die Polizisten. Die sechs Rollerpiloten bedanken sich. «Merci viumau, wüük, merci», sagt einer, bei dem der Stimmbruch noch nicht lange her ist. Die Polizisten steigen in einen grauen Skoda und fahren davon. Die Jungs verschwinden im Restaurant. «Schwöre uf mini Mueter, i bi mit 50 durnes Fahrverbot», höre ich einen noch sagen.
Ich setze mich in den Burger King. Hier gibt es die schönste Aussicht. Ich gucke auf das eindunkelnde Bern und einen fleckigen Horizont. Müsste ich jetzt nicht noch mit dem Velo über Landstrassen nach Hause strampeln, sondern könnte im nagelneuen Peugeot in die Nacht hinein sausen: Ich fände es ganz angenehm.
Vom 1. bis zum 5. September hatte die «Hauptstadt» ihre Redaktion nach Ittigen verlegt. Genauer: Wir arbeiteten während einer Woche im Sitzungsraum Jura des Quartiertreffs der Überbauung Kappelisacker.
Ittigen ist eine Gemeinde zwischen Bern, Bolligen und Zollikofen, bei der Aussenstehende oft gar nicht genau erkennen, wo sie anfängt und wo sie aufhört. Doch sie ist spannend: Ittigen hat den tiefsten Steuerfuss der Agglomeration, aber auch die höchste Sozialhilfequote. In Worblaufen an der Aare entsteht das erste Plusenergiequartier des Kantons.
Wir haben versucht, uns mit offenen Augen und Ohren in Ittigen zu bewegen. Diese Reportage ist ein Resultat davon. Wir spürten der Ittiger Seele auch mit dem Gaumen nach: Lies unsere Gastro-Kritiken aus Ittiger Restaurants. (jsz)
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