Tour de Köniz
Köniz hat 43’000 Einwohner*innen – und besteht aus mehr als einem Dutzend Stadtquartieren, Dörfern und Weilern. Was macht die Gemeinde aus? Eine Velofahrt zu Menschen und Ansichten.
«Köniz ist die beste Stadt der Schweiz. Alle sind so freundlich.» Bale Ancheski lacht, als er das sagt. Er nennt es sein «Hollywood-Smile». Das braucht er in seinem Job. Seit 14 Jahren verkauft der gebürtige Tscheche jeden Dienstag und Samstag Schweizer Poulets auf dem Bläuacker in Köniz.
Der Bläuacker ist die erste Station dieser Tour de Köniz auf dem E-Bike, die uns später noch ins Liebefeld, nach Niederwangen, durch Herzwil, Liebewil und Mengestorf nach Niederscherli und anschliessend über Gasel wieder zurück nach Köniz führen wird. Die Rundfahrt ist nicht komplett, bei weitem nicht.
Wichtige Orte fehlen, so etwa Wabern und Spiegel mit dem inklusiven Kulturlokal Heitere Fahne und dem Gurten. Aber auch das Schloss Köniz oder das Naherholungsgebiet am Schwarzwasser. Köniz ist so gross, es lässt sich fast nicht fassen. Rein flächenmässig sogar fast exakt gleich gross wie Bern. Doch lustigerweise wird die weitläufige Gemeinde von fast niemandem als Stadt bezeichnet, obwohl sie mit ihren 43’000 Einwohner*innen der viertgrösste Ort im Kanton ist. Dicht dran an Thun, das nur ein paar hundert Einwohner*innen mehr hat.
Bläuacker: Da, wo alle mal vorbeikommen
Zurück auf den Bläuackerplatz. Wenn es einen Ort in der Gemeinde gibt, an dem alle Könizer*innen irgendwann mal vorbeikommen, ist es der Bläuacker. Egal, ob sie städtisch in Wabern oder im Liebefeld leben oder ländlich in Oberscherli, Thörishaus oder Niederscherli wohnen. Im Könizer Zentrum unterhalb des Schlosses gibt es Coop und Migros, samt angeschlossener Selbstbedienungsrestaurants, es hat Denner, Aldi, die Drogerie, das historische Scherz-Café und das Restaurant Sternen, in dessen Säli man sich nach Beerdigungen trifft.
Die Verkehrssituation auf dem Bläuacker ähnelt einer ideal geplanten Verkehrsführung von vor 20 Jahren. Es gibt zwar keine Zebrastreifen und Fussgänger*innen haben überall Vortritt, es wirkt aber doch nicht so, als ob sie und Velofahrer*innen im Zentrum wären. Ausserdem fällt auf: Der ganze Platz ist versiegelt. Einzig auf dem nun winterlich kargen Kiesplatz hinter dem Güggelistand von Bale Ancheski sorgen ein paar gleichförmig wachsende Bäume für etwas Grün. Im Sommer ist der Bläuacker eine der krassesten Hitzeinseln der ganzen Agglomeration.
Für den Güggeli-Verkäufer ist der Standplatz am Bläuacker Gold wert. «Ich habe viele Stammkunden», sagt er. Hier gebe es zwar mit den vielen Läden drumherum eine grosse Konkurrenz, aber eben auch viel Laufkundschaft. Er verkaufe gut. «Vor allem die älteren Leute halten gerne einen Schwatz mit mir.» Und die Betreiberinnen des nahe gelegenen Concept Store und Café Kariert bringen ihm jeweils am Morgen einen Kaffee vorbei. Der Bläuacker sei wie ein zweites Zuhause für ihn.
Liebefeld: Anonymität in der Agglo
Ancheski muss neue Poulets auf den Grill spannen, wir fahren weiter. Vorbei an Kleingewerbe und Bürogebäuden gehts ins Liebefeld. Neben den Vidmarhallen, wo sich früher ein Industrieareal befand und jetzt Theater, Kunst und Gewerbe beheimatet sind, wurde vor wenigen Jahren eine dieser Wohnsiedlungen gebaut, von denen es in der Umgebung mehrere gibt. Unter dem Namen Livingandmore sind insgesamt 95 Wohnungen entstanden. Doch an diesem Dienstagnachmittag, die Sonne zeigt sich nun zögerlich, ist von Leben nichts zu spüren. Die Veloständer sind gähnend leer, kein Mensch ist zwischen den Häusern oder auf einem Balkon zu erspähen. Nichts stört die Ruhe und die schon fast steril wirkende Sauberkeit hier.
Das bejaht Sandro Galfo. Zusammen mit seiner Frau Selma Schlaginhaufen hat er letzten August das Coworking Workspace & More im Erdgeschoss des Kubus-Baus eröffnet. Dieses stand zuvor seit Bauende im Jahr 2020 leer. Nun sollen Kreative und Büromenschen hier zu sehr moderaten Preisen arbeiten können – oder auch mal nur Kaffee trinken.
Co-Working-Spaces gibt es sonst vor allem in der Berner Innenstadt – Galfo und Schlaginhaufen glauben an eine Marktlücke. Doch das Angebot wird bisher nur spärlich benutzt. «Wir spüren die Anonymität der Agglo», sagt Galfo. Obwohl sich Siedlung und Umgebung städtisch anfühlten, sei es hier anders. «Es gibt eine riesige Einstellhalle, es gibt Leute, die sich Kaffee leisten könnten, aber das Leben findet nicht hier statt».
Vom 3 bis 7. März verlegt die «Hauptstadt» ihr Büro für eine Woche nach Köniz. Die Redaktion arbeitet im jungen Co-Working Workspace & More im Liebefeld. Wenn man Köniz als Agglo-Gemeinde bezeichnet, fliegt sie fast unter dem Radar. Mit 43’000 Einwohner*innen ist sie ein eigener Kosmos direkt am Stadt-Land-Graben. Gerade bewegt sich in Köniz viel. Vom Liebefeld aus ergründen wir, was jetzt mit dem lange etwas vergessenen Schloss geschehen soll, wie das Imperium von Thömus Veloshop wirklich funktioniert und warum die Könizer Guggemusik Zinökler schafft, was für Bern und Köniz undenkbar wäre.
Dabei seien doch viele Menschen im Homeoffice – von denen sie hier in der Siedlung einige vermuten – froh, wenn sie ab und zu an einem gut eingerichteten Arbeitsplatz arbeiten können. «Sharing economy ist die Zukunft», sinniert Galfo. «Sind wir damit vielleicht noch zu früh?»
Niederwangen: Ort ohne Image
Um vom Liebefeld nach Niederwangen zu gelangen, fährt man am besten über Bümpliz. Eingeklemmt zwischen dicht befahrener Hauptstrasse ins Wangental und Autobahn sind hier erst einfache Einfamilienhäuser zu finden, bevor sie in Niederwangen von Industrie abgelöst werden. Autohandel, mechanische Werkstätten, Baustoffhandel. Mittendrin die Sportbörse. Eine Anlaufstelle für preisbewusste Sportler*innen aus der ganzen Schweiz.
Mitgegründet wurde sie 1993 von Istvan Jakab. Im Jahr 2000 ist sie von der Murtenstrasse an die Freiburgstrasse in Niederwangen gezügelt und seither dort geblieben. Die Börse verkauft Occasionsware von Privaten, die 60 Prozent des Verkaufspreises in der Sportbörse erhalten. Auch Händler bieten teilweise ihre Ausschussware an. An einem normalen Dienstagnachmittag ist die Verkaufshalle gut besucht. Familien leihen Skis aus, junge Frauen probieren Velos aus.
Mit der Sportbörse zog auch Istvan Jakab selbst mit seiner Familie nach Niederwangen. Was ist denn dieses Niederwangen? «Es ist ein Ort ohne Image, aber für mich ist es der Lebensmittelpunkt.» Seine Familie habe hier alles, was es brauche: Schulen, einen kurzen Arbeitsweg, schnelle ÖV-Verbindungen in die Stadt. Aber nein, ein Zentrum gebe es nicht. «Die Autobahn halbiert das Dorf.»
Und noch etwas prägt Niederwangen: Zurzeit wird die Papillon-Siedlung gebaut. Sie wird das Dorf von 2000 auf 4000 Menschen verdoppeln. Um die 2000 Menschen werden dereinst in dieser leicht oberhalb und direkt am Könizbergwald gelegenen Überbauung wohnen.
Papillon heisst die Siedlung, weil die Gebäude wie Schmetterlingsflügel angeordnet sind. Nach Schmetterlingen heissen die Wohnblocks auch: Eisvogel, Monarch und Aurora sind schon bewohnt. Cleopatra, Pallidana, Feuerfalter, Apollo und Heliconius sind erst im Bau oder geplant. Es gibt neue Strassen, neue Trottoirs, neue Schilder, neue Bushaltestellen, neue Begegnungszonen.
Auf dem Reissbrett ist die Siedlung perfekt geplant. Aufregend wie ein Ferienressort, aber zum Wohnen. Es gibt sogar eine kleine Self-Checkout-Filiale des Dorfbecks aus Oberscherli, wo wir uns einen Nussgipfel gönnen. Doch Leben finden wir hier noch nicht so viel. Ob es an den Wochenenden anders aussieht?
Es ist beeindruckend, wie Köniz dieses Projekt stemmt. Wohnraum für Tausende Menschen schafft – ohne jahrelanges Hickhack wie in Bern zum Beispiel im Viererfeld. Vielleicht ist es die Prioritätensetzung, die anders ist: In Bern dauern grosse Wohnprojekte und Überbauungen ungewöhnlich lang, allerdings sind die Ansprüche auch höher, zum Beispiel, dass Begegnungsräume wirklich mit Leben gefüllt werden. Was zählt mehr?
Von hier aus ist auf der anderen Seite der Autobahn eine grosse Baustelle zu sehen. Dort entsteht in den nächsten Jahren das neue Polizeizentrum mit bis zu 1400 Arbeitsplätzen. Vielleicht kann der eine oder die andere dereinst ganz wie Istvan Jakab sich auch auf einen nur fünfminütigen Arbeitsweg freuen.
Herzwil, Liebewil, Mengestorf: Über Land mit Möwen und Mofas
Oberhalb des vielbefahrenen Kreisels in Niederwangen nehmen wir die kleine Landstrasse Richtung Herzwil. Nur ab und zu braust ein Auto an uns vorbei. Es hat aufgeklart. Auf der Anhöhe vor Herzwil begrüsst uns eine Schar Möwen, die auf dem gepflügten Acker nach Nahrung sucht. Herzwil ist ein Weiler mit geschütztem Ortsbild. Hier gibt es noch intakte Bauernhäuser, Speicher und viele Miststöcke. Wir sind definitiv im ländlichen Köniz angelangt. Eines, das in etwa das Gegenteil des betriebigen Liebefeld ist.
Nach Herzwil überholen uns zwei übermütige jugendliche Mofafahrer johlend und winkend. Ein Bauer hat beim Mistzetten ein Stück der Strasse getroffen, um das wir einen grossen Bogen fahren. Hier auf der Hochebene fühlt es sich an, als ob wir eine Spazierfahrt machen würden. Die Stadt ist ganz weit weg. Bei der Einfahrt nach Liebewil sehen wir die beiden Mofas am Strassenrand parkiert. Die zwei Töfflifahrer sitzen auf einer Wasserfassung und daddeln auf ihren Handys. Waren sie deshalb so übermütig?
Raus aus Liebewil und über Mengestorf geht es luftig und mit Sicht auf die Alpen Richtung Niederscherli.
Die drei Weiler sind abgelegen, weil sie nicht an den ÖV angeschlossen sind, und nach wie vor bäuerlich geprägt. Andere solche früheren Weiler, die wie etwa Mittelhäusern an der S-Bahn nach Schwarzenburg liegen, haben sich mit der Zeit verändert. In Mittelhäusern wurde ab Anfang der 1990er Jahre die Siedlung Strassweid gebaut. Mit ihr verdoppelte sich die Dorfbevölkerung. SVP-Lokalpolitiker Hans Moser, nach eigener Aussage «in der Bauernstube» in Mittelhäusern geboren, hat diese Veränderung mitbekommen. Der 67-Jährige findet, der Graben zwischen Stadt und Land werde in Köniz «etwas herbeigeredet». Trotzdem werde das ländliche Köniz «gerne überstimmt oder politisch entmächtigt», weil Köniz im urbanen Teil mit der Stadt Bern zusammenwachse. Und politisch allgemein linker und grüner werde. Allerdings halte man in der oberen, ländlichen Gemeinde zusammen, findet Moser.
Niederscherli: FC Sternenberg zieht Mädchen an
Das zeigt sich auch in Niederscherli. Es ist ein Dorf ohne wirkliches Zentrum. Geprägt von der grossen Strasse Richtung Schwarzenburg, so wie auch Gasel und Mittelhäusern. Hier in Niederscherli gibt es mit dem Café Scherlettli immerhin einen Treffpunkt. Heute hat es zu, aber regelmässig finden hier Stricktage («Lismettli» genannt), Elternrunden oder auch Konzerte oder Vorträge statt. Als wir vorbeifahren in Richtung Schulhaus Niederscherli, stehen gerade zwei ältere Frauen vor dem Scherlettli. Sie haben sich offensichtlich zufällig hier getroffen und kennen sich nicht. Die eine meint zur anderen: «Ich wollte mal das Programm studieren. Sehen Sie, man muss eben nicht einmal nach Köniz, damit etwas läuft.»
Es ist 17.30 Uhr, die Sonne schickt ihre letzten Strahlen. 27 Mädchen haben sich auf dem Kunstrasenplatz in Niederscherli eingefunden, sie sind aus verschiedenen Ortsteilen, sogar aus Schwarzenburg und dem Spiegel, angereist. Es ist die FF 12-Equipe des Teams Schwarzwasser. Das einzige Mädchenfussballteam weit und breit.
«Hallo Dänu, hättsch mer ä Pumpi?», nähert sich eines von ihnen dem Mann im FC-Sternenberg-Pulli, der am Rand steht. Er lacht, macht einen Spruch über sich selbst als «Pumpi» und holt dann eine. Daniel Menetrey ist massgeblich daran beteiligt, dass es beim FC Sternenberg, dem identitätsstiftenden Fussballclub der oberen Gemeinde, überhaupt Mädchenteams gibt.
2021 trainierte er noch die E-Junioren des FC Sternenberg, unter ihnen vier Mädchen, davon eines seine Tochter. Die meinten zu ihm: Es wäre doch toll, nur in einem Mädchenteam zu trainieren. Die Idee begeisterte ihn, er packte es an. Ins erste Training im Sommer 2021 kamen elf Mädchen, ins zweite 17, ins dritte 23.
An diesem Abend trainieren nicht nur die Kleineren, es gibt mittlerweile auch ein FF 15 und ein FF 19-Team, insgesamt 67 aktive Juniorinnen. Eine Erfolgsgeschichte. Nur etwas bereitet Daniel Menetrey Sorgen: Er hat Schwierigkeiten, Trainer*innen zu finden. «Dabei dachte ich, mit dem Mädchenfussball-Boom wäre auch das leichter», sagt er. Jetzt hat Menetrey drei Väter «genötigt», wie er es ausdrückt, die FF 12 zu trainieren.
Gerade lassen sie die Mädchen zum Aufwärmen einen Stafetten-Sprint machen. Aber als es ums Foto geht, rennen die Mädchen plötzlich alle zu Menetrey und umkreisen ihn. Es ist ein passendes Bild zu dieser Tour, die zeigt: Köniz ist eine Agglo-Gemeinde, die zwar eine Stadt sein könnte, dafür aber zu fragmentiert ist. Sie wächst kräftig, aber nicht überall. Und sie lebt von Menschen, die sich für die Gemeinde einsetzen: Sei es als Mädchenfussball-Pionier, als Kleinunternehmerin, als Gewerbetreibender oder als Politikerin.