Das Gosteli-Archiv baut aus
Das Gosteli-Archiv zur Geschichte der Schweizerischen Frauenbewegungen hat sich in den letzten Jahren neu aufgestellt und will nun ausbauen. Ein Besuch in Worblaufen.
Das Archiv zur Geschichte der Schweizerischen Frauenbewegungen befindet sich in einer Landvilla in Altikofen, am Rand von Worblaufen. Auch wenn die braunen Wegweiser vom Bahnhof Worblaufen zuverlässig hierher führen, staunt man ein bisschen, als man vor dem Haus steht, das von einer Pferdekoppel, einer Scheune und einem Bauernhaus eingerahmt wird.
Letzthin sei eine Nachbarin vorbeigekommen und habe zugegeben: «Eigentlich wusste ich bisher gar nicht, was hier genau ist.» Als Simona Isler, die Co-Leiterin des Gosteli-Archivs, das erzählt, steht sie zwischen Büchern, Ordnern und Dokumenten. Sie sind es, die dieses Haus beherrschen, die überall sind. Sie füllen jede Wand, die Abstellräume und die ganze Scheune nebenan. In diesem repräsentativen Wohnhaus in Altikofen wird seit 1982 die Geschichte der Frauen und der Frauenbewegungen archiviert.
Bis heute hat das Gosteli-Archiv fast wöchentlich Anfragen für Schenkungen. Es kann Nachlässe und Organisationsarchive aus der ganzen Schweiz übernehmen, manchmal von einer lang verstorbenen Grosstante, deren Dokumente Jahre später in einem Estrich gefunden werden. Zum Beispiel Tagebücher oder längst vergessene Zeitschriften wie «Die Schweizerin», herausgegeben vom Schweizerischen Katholischen Frauenbund. Auch Frauengruppen wie die Radikalfeministinnen Bern-Fribourg-Biel oder Berufsverbände von typischen Frauenberufen wie der Kindergärtnerinnen haben ihre Geschichte hier dokumentiert.
Ein unterirdisches Magazin
Längst nicht immer kann das Archiv Ja zu den Anfragen sagen. Letztes Jahr beispielsweise hat es 36 neue Bestände übernommen. Es geht darum, die Lücken zu füllen, alle relevanten Materialien zu übernehmen, aber zu viele Doppelspurigkeiten zu vermeiden. «Wegen der zeitlichen Verzögerung ist die Ausweitung unseres Archivs schlecht planbar, wir wissen nicht, wie lange die Leute noch physische Dokumente an uns herantragen», sagt Isler.
Bis jetzt sind im Archiv Dokumente im Umfang von rund einem Laufkilometer eingelagert. Gut möglich, dass es dereinst drei Laufkilometer sein werden. Nicht zuletzt darum will das Archiv ausbauen. Die gut gefüllte Scheune nebenan durch einen Neubau ersetzen und darunter ein neues, unterirdisches Magazin erstellen. Aktuell läuft ein Studienauftrag, Ende September wird ein Projekt ausgewählt und anschliessend im Gemeindeshaus in Ittigen ausgestellt. Wenn alles nach Plan läuft, kann Anfang nächstes Jahr eine Baubewilligung beantragt werden. Zeitgleich startet auch das Fundraising für das mehrere Millionen teure Projekt.
Der Geist der Gründerin
Doch der Umbau ist auch ein Zeichen: Endlich kann das Archiv wieder vorwärts schauen. Denn nach dem Tod der Archiv-Gründerin Marthe Gosteli 2017 sah es eine Zeit lang düster aus. Das Archiv war bis zu diesem Zeitpunkt privat finanziert gewesen, in der Folge gingen die Gelder langsam aus. Erst seit 2021 und dank viel politischem Engagement ist die Zukunft des Archivs langfristig gesichert: Es wird nun über wiederkehrende Unterstützungsbeiträge von Bund und Kanton Bern im Umfang von knapp einer Million Franken jährlich finanziert und ist anerkannt als Forschungsinfrastruktur von nationaler Bedeutung.
Das hat auch einen weiteren Schritt der Professionalisierung möglich gemacht. Seit drei Jahren leitet Isler das Gosteli-Archiv in Co-Leitung mit Lina Gafner. Die beiden 43-jährigen Historikerinnen haben das Archiv in eine neue Ära geführt. Das Team wurde vergrössert, die Digitalisierung und Katalogisierung vorangetrieben.
Doch trotz aller Änderungen ist es Simona Isler wichtig zu betonen, dass das Archiv immer noch vom Geist der Gründerin lebe. «Wir brauchen keine Abgrenzung von Marthe Gosteli», sagt sie.
Simona Isler führt durch die Räume, mittlerweile hat das Archiv acht Festangestellte. Ihre Schreibtische befinden sich im Haus verteilt zwischen den vollen Gestellen. In einem Büro stehen kistenweise Dokumente aus dem Nachlass der Theologin Else Kähler. Sie werden momentan geordnet, katalogisiert und verpackt. Dazu nimmt die zuständige Archivarin jedes Dokument in die Hand und informiert sich, worum es geht. Es ist eine zeitintensive Arbeit. Auch darum muss das Archiv sorgfältig auswählen, welche Nachlässe es übernimmt.
Der Nachlass von Else Kähler wird also bald zugänglich für alle sein. Interessierte finden ihn in einem digitalen Verzeichnis. Doch wer mehr wissen will, muss nach Altikofen kommen. Das Archiv funktioniert so, dass es keine Dokumente ausleiht. Wer eine Matur- oder Masterarbeit schreiben will, wer an einer Buchrecherche dran ist oder schlicht Ahnenforschung betreibt, studiert die Unterlagen vor Ort.
Es ist dasselbe Prinzip wie unter der Frauenrechtlerin Marthe Gosteli, die das Archiv 1982 gegründet hat. Den Impuls gab damals der Bund Schweizerischer Frauenvereine (heute Alliance F), um zu verhindern, dass das Material vieler Frauenorganisationen verloren geht. Gosteli übernahm die Dokumente, gründete eine Stiftung und begann mit dem Aufbau des Archivs im Wohnstock auf dem Bauerngut ihrer Familie. Ziel der Stiftung war die Aufarbeitung der Geschichte der Frauenbewegung in der Schweiz. Ohne Wertung. Und so ist heute beispielsweise der Nachlass prominenter Gegnerinnen und Befürworterinnen des Frauenstimmrechts im Archiv zu finden.
«Wir wollen die ganze Breite an Frauenbewegungen abbilden», sagt Simona Isler. Und da seien sehr unterschiedliche Positionen vertreten. Mit der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 haben sich einige Frauen auch vermehrt parteipolitisch engagiert. Die Position des Archivs bringt Simona Isler anhand eines Beispiels auf den Punkt: «Bei der politischen Frage um die Ausgestaltung der AHV kann das Archiv aus den Quellen erzählen. Es geht um die Debatte, um die Argumente unterschiedlicher Frauen dafür und dagegen.» Und weil das Archiv die gesamte Frauengeschichte dokumentiere, sei es auch nicht in Frage gekommen, sich beispielsweise in feministisches Archiv umzubenennen – denn längst nicht alle engagierten Frauen würden sich selbst als feministisch bezeichnen.
Das Archiv will gezielt Lücken füllen. Solche gibt es bei Nachlässen aus der Romandie und von Migrantinnen. In diesen Bereichen akquiriert das Archiv aktiv Bestände. Gerade bei Migrantinnen sei es aber sehr schwierig, überhaupt an Nachlässe zu kommen, betont Isler. «Sie pflegen andere Netzwerke, und oft gibt es wenig schriftliches Material.»
Und etwas Weiteres erhofft sich Co-Leiterin Simona Isler mit der Erweiterung und dem Umbau des Archivs: «Wir möchten die Umgebung offener gestalten», sagt sie. So dass Leute auch mal im weitläufigen Garten picknickten. Und Nachbarinnen wüssten, was sich eigentlich hinter den herrschaftlichen Mauern verbirgt.
Vom 1. bis zum 5. September verlegt die «Hauptstadt» ihre Redaktion nach Ittigen. Genauer: Wir arbeiten während einer Woche im Sitzungsraum Jura des Quartiertreffs der Überbauung Kappelisacker. Unsere Türen sind offen. Wenn du vorbeikommst, freuen wir uns.
Ittigen ist eine Gemeinde zwischen Bern, Bolligen und Zollikofen, bei der Aussenstehende oft gar nicht genau erkennen, wo sie anfängt und wo sie aufhört. Doch sie ist spannend: Ittigen hat den tiefsten Steuerfuss der Agglomeration, aber auch die höchste Sozialhilfequote. In Worblaufen an der Aare entsteht das erste Plusenergiequartier des Kantons.
Wir werden uns mit offenen Augen und Ohren in Ittigen bewegen. Wenn du etwas über Ittigen wissen möchtest, schreibe uns. (jsz)
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