«Der neue Wohnort wärmt meine Seele»
Dirigentin Alevtina Ioffe stellt die Kunst über alles. In Bern möchte die neue Chefdirigentin der Oper ein neues Zuhause finden.
Dirigieren ist bis heute eine männlich geprägte Welt. Hier in Westeuropa – und noch viel mehr in Russland. Fragt man die Russin Alevtina Ioffe, wie sie es dennoch geschafft hat, eine angesehene Dirigentin zu werden, sagt sie zuerst: «Ich hatte Glück.» Doch die letzte Silbe ist noch nicht gesprochen, da merkt sie schon, dass das nicht alles ist. Sie zögert und setzt dann an zu einem leidenschaftlichen Monolog. Natürlich reicht Glück allein nicht. «Es war fast unmöglich», sagt sie.
Alevtina Ioffe sitzt auf der Terrasse des Pausenraums im Berner Stadttheater. Es ist ein versteckter Ort, die Terrasse befindet sich inmitten von Bäumen am steilen Aarehang, von aussen nicht sichtbar. «An Bern liebe ich die Natur», sagt sie, «meine Energie kommt so wieder ins Gleichgewicht.»
Eben hat die frischgebackene Chefdirigentin der Berner Oper eine Probe mit dem Berner Symphonieorchester beendet. Nun stehen ihre ersten öffentlichen Auftritte in der neuen Funktion an: Am Wochenende dirigiert sie das traditionelle Openair-Konzert des Berner Symphonieorchesters auf dem Bundesplatz. Und im September wird sie das Dirigat der Oper «Manon» im Stadttheater leiten.
2022 hat sie Russland verlassen
Doch zurück zur Ausgangsfrage und der leidenschaftlichen Antwort darauf. «Ich wollte so sehr Dirigentin werden, steckte alle meine Energie hinein, habe zehn Jahre lang für praktisch kein Geld gearbeitet», sagt sie. Das sei nur gegangen, weil sie dank ihres Mannes finanzielle Sicherheit gehabt habe. Sie sei ein Mensch, der für die Kunst lebe. «So bin ich geboren. Wenn ich das nicht hätte machen können, wäre ich wohl aus Schwermut gestorben», fügt sie an. Sie sagt es auf Russisch, da klingt es ein bisschen weniger pathetisch als auf Deutsch.
Ioffe studierte in Moskau zuerst Klavier und Gesang, danach kam sie zum Dirigieren. «Dirigieren ist das Konzentrat aus allem Wissen aus Musik und Kunst», sagt sie. Da fliesse zum Beispiel auch Architektur und Geschichte mit ein. «Es ist ein unwahrscheinlich interessanter Beruf.»
Und einer, für den sie keine weiblichen Vorbilder hatte. «Magisch» findet sie bis heute die beiden Dirigenten Leonard Bernstein und Carlos Kleiber. «Sie lassen sich nicht kopieren, aber ihre Art zu dirigieren zeigte mir, dass man seinen Weg suchen muss, damit die Musik lebt.»
Bereits als 27-Jährige wurde Alevtina Ioffe erstmals Chefdirigentin. «Ich war so jung, so unerfahren. Und die Aufgabe so verantwortungsvoll.» Später leitete sie zehn Jahre lang die Junge Oper in Moskau, von 2021 bis 2022 war sie schliesslich musikalische Direktorin des Michailovski-Theaters in St. Petersburg.
Ioffe hat seit 2022 – dem Jahr, als der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine begann – in Berlin gewohnt, wo ihr Sohn und ihr Mann seit vielen Jahren leben. Doch es seien rastlose und aufreibende drei Jahre gewesen, sagt sie. «Ich hatte kein Zuhause mehr.» Dafür Engagements in vielen europäischen Städten und den USA. In kurzer Zeit baute sie sich eine neue Karriere auf. «Ich wollte schon immer in Europa arbeiten und die verschiedenen Kulturen spüren.» Bei ihren Konzerten beobachte sie ganz genau, wie sich die Menschen verhalten, versuche die verschiedenen Temperamente herauszuspüren. «Ich sammle Gefühle. So kann ich die Welt kennenlernen.»
Internationale Engagements wird Alevtina Ioffe, die ihr Alter lieber für sich behält, auch weiterhin haben. Doch es sei ihr wichtig, in Bern anzukommen, hier zur Ruhe zu kommen. Nur mit einer inneren Ruhe könne man auch gut arbeiten.
Und wie schätzt die Gefühle-Sammlerin das Berner Orchester ein? «Im ersten Moment ist das BSO zurückhaltend und wartet ab, im zweiten ist es aber sehr offen», findet sie. «Ich mag das sehr, wenn ein Orchester auch hinterfragen kann.» Und nun, nach dem ersten Kennenlernen, freue sie sich einfach auf eine «gemeinsame Ekstase».
In ihrer eigenen Welt
Alevtina Ioffe ist ein herzlicher und temperamentvoller Mensch, das fällt einem nicht erst im Gespräch auf. Der Fotografin trägt sie ungefragt den Koffer mit der Ausrüstung, Leuten, denen sie im Haus begegnet, lächelt sie freundlich zu. Und trotzdem sagt sie: «In meinem Beruf bleibt man am besten allein.»
Allermeistens befinde sie sich sowieso in ihrer ganz eigenen Welt, denke an eine Partitur, eine Szenerie, da fühle sich ein Gegenüber schnell vernachlässigt. «Mein Sohn sagt, ich sei mit meiner Arbeit verheiratet», erzählt sie. «Aber Dirigieren ist für mich gar keine Arbeit, es ist mein Leben.»
Und so sind der 24-jährige Sohn und der Mann in Berlin geblieben. Man besucht sich gegenseitig, es seien mit dem Flugzeug ja nur zwei Stunden. «Aber um Energie für die Kunst zu haben, lebe ich besser hier, allein.»
Seit ein paar Wochen wohnt Alevtina Ioffe in der Berner Altstadt. Die roten Ziegeldächer haben es ihr angetan. «Sie haben etwas Märchenhaftes, wie in den Geschichten von Hans Christian Andersen», sagt sie. Als Kind seien solche Dächer für sie ein Merkmal Europas gewesen – und auch ein Sehnsuchtsort. «So etwas gab es bei uns nicht.»
Und dann sagt sie wieder so einen Satz, der auf Russisch passt und auf Deutsch übertrieben wirkt. «Der neue Wohnort wärmt meine Seele.»
BSO-Openair-Konzert: Sa, 23. August, 20.30 Uhr, Bundesplatz, kostenlos. Gespielt wird laut Dirigentin ein «nicht zu schweres Programm», unter anderem mit Stücken aus verschiedenen Opern, so auch «Manon Lescaut» von Puccini. Auch die beiden Solist*innen dieser Oper (Premiere am 20.9. im Stadttheater) Kiandra Howard und Andeka Gorrotxategi werden einen Auftritt haben.
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