Die Leben vor sich

Der dritte Roman «Santa Tereza» des Berner Autors Flurin Jecker erzählt von einem Friedhofswächter mit Lernschwäche. Eine Geschichte über Träume, die noch mal auftauchen, obwohl man sie schon längst begraben hat.

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(Bild: Jörg Kühni)

So blöd wie er müsse man erst mal sein, hatte die Lehrerin von Luchs ihm manchmal gesagt. Im Unterricht schrieb er deswegen lieber einen Comic. Schriftsteller wurde Luchs, die Hauptfigur im Roman «Santa Tereza» des Berner Autors Flurin Jecker, dann doch nicht. Der Junge mit Lernschwäche hat es auf Rat seiner Mutter, zu tun, was sein «Herz ihm sagt», immerhin probiert. Doch dann hat ihm sein lange abwesender Vater den Traum ausgetrieben und ihn zum Arbeiten in ein Callcenter geschickt.

Jetzt ist Luchs schon lange Nachtwächter auf dem Friedhof, und glücklich dort, auch wenn die Chance klein ist, dass aus ihm «einmal eine Brunnenfigur gemacht würde.» Doch es stehen Troubles an: Eines Nachts fragt ihn die dreizehnjährige Teresa um Feuer. Er gibt ihr welches, nicht ahnend, welche Folgen das haben wird.

Er sei nicht da, um den Leuten zu sagen, was man auf einem Friedhof tun soll oder nicht. Trotzdem hält er seinen Job für wichtig: «Weil ich glaube, dass es einen Unterschied macht für die, die vorbeikommen, oder vielleicht sogar für den Friedhof selbst. Wie ein Brunnen einen Platz ja auch besser macht, auch wenn gerade niemand vorbeikommt, der halb am Verdursten ist.»

Von Teresas Stiefvater wird er später beschuldigt, dem Mädchen Gras verkauft zu haben. Luchs verliert fast seinen Job, doch Teresa biegt es wieder gerade. Aus einem grossen Missverständnis entwickelt sich eine Freundschaft zwischen Luchs und Teresa, die nun immer häufiger auf dem Friedhof auftaucht, mit ihm Pink Floyd hört und über das Leben philosophiert. Sie fordert den 34-jährigen Friedhofswächter heraus, will von ihm, dass er sein Leben anpackt oder von ihr Gitarre lernt. Als er sich wehrt, fragt sie ihn einmal: «Dann willst du für immer so sein? Als wärst du hundert Jahre alt?» Und Luchs beginnt sich zu fragen, wo eigentlich die Träume geblieben sind, die er mal hatte.

Coming of Age forever

«Santa Tereza» ist ein Coming of Age Roman der speziellen Art. Einer, der aufzeigt, dass die Sinnsuche nicht mit zwanzig vorbei und Erwachsenwerden kein abgeschlossener Prozess ist. Trotzdem gibt es diesen Punkt, an dem man nicht mehr «zehn Leben vor sich» hat, wie Luchs beschreibt. Man hat irgendwann nicht mehr das Gefühl, dass man alles kann, dass «man sich nur entscheiden muss, ob man lieber fliegen möchte oder durch Wände gehen.»

Nach diesem Punkt scheint plötzlich alles definitiv. Luchs hat zwar viel Selbstvertrauen, und doch spukt in seinen Gedanken immer wieder die Lehrerin herum, die ihm nichts zugetraut hat und ihm sagte, man würde besser alles schnell wieder vergessen, was er sagt, «weil man sonst in die Klinik muss, wenn man das nicht macht». Er weiss, dass er einige Sachen nicht kann, auch wenn Teresa an ihn glaubt. Gitarre lernen zum Beispiel.

Simpel und doch hochpoetisch beschreibt Flurin Jecker durch die Linse von Luchs die Welt und beweist einmal mehr seine Fähigkeit, seinen Antihelden eine eigene Stimme zu verleihen und das Erzählen an ihren Blickwinkel anzupassen: Sein Debüt «Lanz» (2017) besteht aus fiktiven Blogeinträgen von der gleichnamigen Hauptfigur, welche diese für die Schule schreiben muss, die Sprache lausbubig und helvetisch. Der zweite Roman «Ultraviolett» besteht aus kumpeligen Briefen von Partyboy Held an seinen verschwundenen besten Freund Eule.

Jeckers nun erneut sehr gelungener dritter Roman wird im Zentrum des Lesefests «Bern liest ein Buch» stehen, welches im Mai stattfindet. In diesem Rahmen werden verschiedene Veranstaltungen rund um das Buch stattfinden und Möglichkeiten zum Austausch bieten.

Platz finden, wo keiner ist

Luchs’ Stimme ist geprägt von seinem Bewusstsein, dass er mit seiner Neurodivergenz anders ist und denkt, sich aber trotzdem eine Stimme zutraut. Er bringt Sachen auf den Punkt, die für ihn selbstverständlich sind, doch in dieser profitorientierten Welt eben nicht so funktionieren. Er steht zu seinen manchmal unkontrollierten Gefühlen, zu seinen unkonventionellen Sichtweisen, denen von aussen kein Verständnis entgegengebracht wird. «Auch wenn ich nicht finde, dass meine Gefühle unbedingt falsch sein müssen, nur weil mein Gehirn keinen Nobelpreis gewinnen würde», meint er dazu.

«Santa Tereza» ist ein erfrischender und hoffnungsvoller Roman über das Platz finden in einer Welt, die für viele keinen Platz bieten will. Denn wenn «man mit Optimismus Geld verdienen würde», wäre Luchs schon lange Millionär.

Flurin Jecker: «Santa Tereza», Nagel & Kimche, 144 Seiten.

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