Braver als ihre Politik

Die neue Grossratspräsidentin Edith Siegenthaler (SP) setzt auf zurückhaltende Töne. Hartnäckigkeit und psychologisches Geschick verleihen ihrem Wort trotzdem Gewicht.

Edith Siegenthaler fotografiert am Freitag, 30. Mai 2025 in Bern. (VOLLTOLL / Manuel Lopez)
Kann lachen über Widersprüche in der Berner Politik: Grossratspräsidentin Edith Siegenthaler. (Bild: Manuel Lopez)

Sie könne schon aus der Haut fahren und sich mächtig aufregen, sagt die Sozialdemokratin Edith Siegenthaler (42). Zum Beispiel über den finanzpolitischen Kurs der bürgerlichen Mehrheit im Grossen Rat. Das im Herbst verabschiedete Investitionsgesetz, das nun Steuersenkungen einführt und Investitionen verschiebt, sei bekanntlich für die Ratslinke «schwer zu schlucken gewesen». Kurzer Stossseufzer. «Aber als Ratspräsidentin ist es nicht an mir, die aktuelle Politik zu kommentieren.»

Die Historikerin, Gewerkschafterin und Politikerin sitzt vor der Dampfzentrale in der Berner Matte an einem Restauranttischchen, eine Tasse Tee vor sich. Die Aare zieht kräftig. Die finanzpolitisch motivierte Empörungswelle währt kurz und weicht der Heiterkeit. Edith Siegenthaler ist bei diesem Gespräch die Ruhe selbst.

Wie in ihrer ganzen bisherigen politischen Karriere.

Wahlkampf mit Handbremse

Seit rund 15 Jahren exponiert sich Edith Siegenthaler in Ämtern der SP. Und trotzdem sind in der Erinnerung keine giftigen Bemerkungen, schrillen Inszenierungen oder emotionalen Ausbrüche hängen geblieben. Sie war Stadträtin und während aufwühlenden acht Jahren Co-Präsidentin der SP Stadt Bern, der mit Abstand grössten Partei in der Stadt. 2021 wechselte sie in den Grossen Rat.

Nach unüblich kurzer Zeit im Rat wählte sie das Kantonsparlament Anfang Woche zu ihrer Präsidentin. «Ich wollte das und habe mich parteiintern zur Verfügung gestellt», sagt Edith Siegenthaler. Während eines Jahres ist sie die formell höchste Bernerin.

Dass sie in diesem Amt kurz vor den Wahlen im Frühjahr 2026 nicht als krasse Wahlkämpferin auftreten kann, nehme sie gerne in Kauf. Polemisieren entspreche ohnehin nicht ihrem Naturell. Zusätzlich hat Siegenthaler für das Präsidium ihr Arbeitspensum beim Gewerkschaftsdachverband Travail Suisse, wo sie Geschäftsleiterin ist und die Sozialpolitik verantwortet, auf 60 Prozent reduziert.

Edith Siegenthaler fotografiert am Freitag, 30. Mai 2025 in Bern. (VOLLTOLL / Manuel Lopez)
Edith Siegenthaler haftet laut Ratskollegin Marianne Schild etwas Geheimnisvolles an. (Bild: Manuel Lopez)

Edith Siegenthaler wuchs mit zwei Geschwistern in der bürgerlich dominierten Gemeinde Rapperswil im Seeland auf. Zu Hause sei zwar zu den Nachrichten rege politisch diskutiert worden, erinnert sie sich. Ihr Vater habe sich aber erst in der lokalen SP engagiert, als Tochter Edith bereits in der städtischen SP aktiv war. Die Irrationalität der US-Intervention 2003 im Irak habe sie dermassen entsetzt, dass sie beschloss, selber politisch aktiv zu werden, sagt Edith Siegenthaler.

«Auf Edith ist Verlass»

In der Berner Politik ist sie heute eine Stimme der Rationalität. Das bestätigt Marianne Schild, Grossrätin der Grünliberalen, die mit der SP in vielen Fragen uneins sind. Schild kennt Edith Siegenthaler schon aus gemeinsamen Jahren im Stadtrat: «Ich schätze sie sehr, sie ist eine umgängliche Person und ihr politischer Stil ist sachlich und bodenständig», sagt Marianne Schild der «Hauptstadt» auf Anfrage.

Ob Siegenthaler in ihrem neuen Amt jedoch auch die Herzen der Bevölkerung erreichen werde, bezweifelt Schild: «Ich glaube nicht, dass es ihr leicht fällt, mit allen rasch Kontakt zu knüpfen. Dafür ist sie zu wenig draufgängerisch.» Dominique Bühler (Grüne), Siegenthalers Vorgängerin als Ratspräsidentin, habe etwas Schelmisches ausgestrahlt, sagt Marianne Schild. Edith Siegenthaler hafte hingegen eher etwas Geheimnisvolles an. Sie persönlich finde das reizvoll, so Schild.

Siegenthalers erste Mission besteht laut Schild ohnehin darin, den bürgerlich geprägten Rat von ihren Führungsqualitäten zu überzeugen. Sie sei sicher, dass Edith Siegenthaler den Grossen Rat effizient und besonnen führen werde, sagt Schild: «Auf Edith ist Verlass.»

Edith Siegenthaler fotografiert am Freitag, 30. Mai 2025 in Bern. (VOLLTOLL / Manuel Lopez)
Als 2016 Kritik auf die Leitung der SP Stadt Bern einprasselte, blieb Siegenthaler als Co-Präsidentin an Bord. (Bild: Manuel Lopez)

Sich in skeptischem Umfeld Respekt zu verschaffen, hat Edith Siegenthalers politischen Weg von Beginn weg geprägt. In der Stadtberner Politik tauchte sie 2012 aus dem Nichts auf – und zwar gleich weit oben. Die damals 29-Jährige wurde neben dem erfahrenen Stefan Jordi SP-Co-Präsidentin.

Und blieb es auch in konfliktreichen Jahren. Sie gipfelten 2016 darin, dass nach heftigen Spannungen im Rot-Grün-Mitte-Bündnis nicht die vermeintliche Favoritin Ursula Wyss (SP) Stadtpräsidentin wurde, sondern Alec von Graffenried (GFL). «Es sind viele sehr unschöne, verletzende Sachen passiert», sagt Edith Siegenthaler, «und ich bin bis heute der Meinung, dass der Umgang mit Ursula Wyss in der Öffentlichkeit unfair war.»

Kraft der Emotionen

Auf die SP-Führung prasselte Kritik ein. Sie sei zu abgehoben, zu farblos, zu wenig führungsstark gewesen. «Es war eine intensive Zeit. Ich habe in dieser Phase extrem viel gelernt darüber, wie emotional Menschen in der Politik funktionieren können», sagt Edith Siegenthaler. Zum Beispiel, welche Rolle persönliche Befindlichkeiten spielen, wie lange weit zurückliegende Verletzungen nachwirken und aktuelle Entscheidungen beeinflussen können.

Für sie selbst sei es wichtig gewesen zu lernen, sich in der Politik nicht von Kränkungen leiten zu lassen. «Natürlich rege ich mich manchmal auf», sagt Siegenthaler, «aber ich kann das einordnen und auf die Seite schieben, so dass es meine Handlungen nicht bestimmt.»

Nach der Nichtwahl von Ursula Wyss die Führungsverantwortung abzugeben, kam für Edith Siegenthaler nicht in Frage. «Ich wollte meinen Beitrag leisten, dass wir es besser machen», sagt sie. Es war ein Wagnis. Siegenthaler führte ihre Partei in den schwierigen Wahlkampf 2020. Weil Ursula Wyss nicht mehr antrat, drohte der grossen SP gar der Verlust eines ihrer beiden Gemeinderatssitze. Doch Marieke Kruit, der heutigen Stadtpräsidentin, gelang eine glanzvolle Wahl in die Stadtregierung.

Ohne zu einer charismatischen Figur geworden zu sein, hat sich Edith Siegenthaler mit ihrer Sorgfalt Respekt erarbeitet – innerhalb und ausserhalb der SP.

Edith Siegenthaler fotografiert am Freitag, 30. Mai 2025 in Bern. (VOLLTOLL / Manuel Lopez)
«Das Amt ist wichtig, und nicht ich als Person.» (Bild: Manuel Lopez)

Als Nachfolgerin von Kruit übernahm Siegenthaler das Präsidium des kantonalen Mieter*innenverbands – normalerweise eine gute Startrampe für die Wahl in eine Regierung. Vor Kruit war Evi Allemann (SP) von dort aus der Sprung in den Regierungsrat gelungen.

«Natürlich würde mich der Gestaltungsspielraum eines Exekutivamts interessieren», sagt Edith Siegenthaler, «aber es ist schwierig, in der Politik Pläne zu machen, weil es viele Unwägbarkeiten gibt.» Es könne sich unerwartet eine Gelegenheit bieten, die man dann relativ schnell ergreifen müsse, wenn man das wolle.

Lieber Kino als Netflix

Vorerst schwärmt sie von der Politik im Parlament. «Ich finde die Arbeit im Grossen Rat echt spannend», sagt sie. Natürlich müsse man sich als Linke, die aus der rot-grün dominierten Stadtpolitik komme, daran gewöhnen zu verlieren. «Aber es schadet nicht, wenn man hart um Argumente und Mehrheiten kämpfen muss», sagt Siegenthaler. Berührungsängste mit Bürgerlichen habe sie ohnehin nie gehabt. Das helfe, auf dem Boden zu bleiben und sich zu bemühen, wirklich alle Menschen mitzunehmen.

A propos auf dem Boden bleiben: Die Präsidentin des Mieter*innenverbands wohnt in einer Zweieinhalb-Zimmerwohnung in der Nähe des Loryplatzes, die Wohnung ist während einem Teil der Woche auch das Zuhause ihres Partners. «Ich wohne sehr gern da und die Wohnung entspricht meinen Bedürfnissen», sagt sie, die gerne schwimmt, liest und lieber ins Kino geht als Netflix schaut.

Was für ein Film ist für sie das Grossratspräsidium, dessen Beginn sie heute Donnerstag Nachmittag im Campus der Berner Fachhochschule im Marzili mit Freund*innen und Politprominenz feiert? Edith Siegenthaler will mit geschärftem Bewusstsein in diesen Film einsteigen. «Ich freue mich. Aber ich weiss auch, dass man sich daran gewöhnen kann, gefragt zu sein. Man wird plötzlich viel eingeladen, sitzt oft in der vordersten Reihe.»

Das Amt sei wichtig, und nicht sie als Person, sagt Edith Siegenthaler. Sie wolle das stets im Kopf behalten. Auch wenn ihr bewusst sei, dass das gar nicht so einfach sei. 

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