Wahlen 2024

«Geiler Wahlkampf», das würde sie nie sagen

Nach ihrem Sieg im ersten Wahlgang und dem Verzicht von Alec von Graffenried (GFL) wird Marieke Kruit (SP) Berns erste Stadtpräsidentin. Wie tickt sie und wie kam sie so weit?

Impressionen von den Wahlen der Stadt Bern,  fotografiert am Sonntag, 24. November 2024 in Bern. (VOLLTOLL / Manuel Lopez)
Sieger*innen: Matthias Aebischer, Marieke Kruit, Ursina Anderegg und Alec von Graffenried im Progr. (Bild: Manuel Lopez)

Mitternacht. Marieke Kruit (56) steht zusammen mit den eben gewählten Gemeinderät*innen Matthias Aebischer (SP), Ursina Anderegg (GB) und Alec von Graffenried (GFL) auf der Bühne in der Aula des Progrs, wo die RGM-Bündnisparteien gemeinsam den Wahlsonntag ausklingen lassen. Die Stimmung ist ausgelassen: Knallende Champagnerkorken, Döner, Pizza, Büchsenbier. Die Mitglieder der Jungparteien tanzen zu lauter Popmusik. Und auf den Gesichtern der Anwesenden wechselten sich Freudentränen mit glücklichem Lachen ab. 

Stapi Alec von Graffenried, der von allen RGM-Kandidat*innen am wenigsten Stimmen geholt hat, gibt sich euphorisch: «Mir heis huere grocket», ruft er ins Publikum. Matthias Aebischer nimmt den Faden auf. Er habe viele Wahlkämpfe miterlebt, so der SPler, «aber das isch dr geilscht gsy». Stolz und zufrieden ist auch die neu gewählte Ursina Anderegg. Sie bleibt kämpferisch: «Bärn isch linggs, Bärn blibt linggs!» Der Saal jubelt. 

Selbst Marieke Kruit gibt sich ausgelassen. Ein bisschen. Ihr Auftritt bleibt kontrolliert. Sie hebt ihre Freude über die neu entstandene Frauenmehrheit im Gemeinderat hervor und bedankt sich bei allen Anwesenden: Es sei ein super Wahlkampf gewesen – «merci für euer Engagement!»

In Watte gepackt

Dieser kurze Auftritt im Moment des Triumphs sagt viel darüber aus, wie die Politikerin Marieke Kruit funktioniert: Sich gehen zu lassen ist für sie keine Option. Ein unbedachtes Wort kommt öffentlich auch in emotionalen Momenten nicht über ihre Lippen. «Geiler Wahlkampf», das würde sie nie sagen.

Impressionen von den Wahlen der Stadt Bern,  fotografiert am Sonntag, 24. November 2024 in Bern. (VOLLTOLL / Manuel Lopez)
Denkt immer daran, zu danken: Marieke Kruit. (Bild: Manuel Lopez)

Kruit wirkt immer kontrolliert – und sie denkt immer daran, anderen Menschen für die Unterstützung zu danken. Auch in Situationen, in denen sich alles um sie dreht, vermittelt Marieke Kruit oft den Eindruck, als habe sie es gar nicht gesucht, im Mittelpunkt zu stehen.

Als sei alles eine Folge logischer Ereignisse.

Offiziell, das sagte Marieke Kruit im Wahlkampf immer, forderte sie ihren Bündnispartner und amtierenden Stadtpräsidenten Alec von Graffenried heraus, «um den Wahlberechtigten eine Auswahl zu bieten». Ein typischer, in Watte gepackter Kruit-Satz. Ihr als Vertreterin der stärksten Partei in der Stadt musste von Beginn weg klar gewesen sein, dass er gegen sie kaum eine Chance hat.

Und so kam es. 

Im ersten Wahlgang ums Stadtpräsidium distanzierte sie den Grünen Alec von Graffenried um über 8000 Stimmen und damit so deutlich, dass sich ein zweiter Wahlgang von Beginn weg praktisch erübrigte. Am Dienstagmittag gab von Graffenried seinen Verzicht auf einen zweiten Wahlgang bekannt. Damit steht fest: Marieke Kruit wird ab 2025 Berns erste Stadtpräsidentin.

Fähigkeiten der Psychologin

Dabei konnten vor vier Jahren, als die damalige Präsidentin der SP-Fraktion im Stadtrat erstmals für den Gemeinderat kandidierte, nicht einmal alle ihre Parteikolleg*innen ihren Vor- und Nachnamen richtig aussprechen. Finanzdirektor Michael Aebersold scheiterte jedenfalls kläglich daran, als die SP im Herbst 2020 im Gaskessel den Wahlkampf einläutete. Sie würde sich wohl am besten in Mareike Kraut umbenennen, scherzte Kruit damals in einem Anfall von Selbstironie*.

Impressionen von den Wahlen der Stadt Bern,  fotografiert am Sonntag, 24. November 2024 in Bern. (VOLLTOLL / Manuel Lopez)
Zeigt Grösse: Alec von Graffenried gratuliert Marieke Kruit. (Bild: Manuel Lopez)

Am Umstand, dass ihr Name in der Öffentlichkeit lange nicht geläufig war, lässt sich ablesen, dass die frühere Telebärn-Moderatorin, studierte Psychologin und Psychotherapeutin Marieke Kruit als Politikerin lange unterschätzt wurde. In ihren vorgängigen Berufen habe sie gelernt, Menschen, die sich in anderen Umständen befinden als sie selbst, aufmerksam zuzuhören. Und sich auch in Stresssituationen darauf zu konzentrieren, ruhig und tief zu atmen, sagte sie in einem Video-Interview mit Plattform J.

Die Fähigkeit, Andersdenkenden ein Ohr zu leihen und auch unter Druck nicht die Nerven zu verlieren – das sind wohl die beiden wichtigsten Eigenschaften, die Kruits Aufstieg von der Frau mit dem holländischen Namen zu einer der einflussreichsten Figuren der Berner Stadtpolitik prägen. Kruit schafft es problemlos, an einer SP-Veranstaltung die engagierte Gleichstellungsaktivistin zu geben. Und kurz darauf im Gespräch empathisch auf notorisch rot-grün-kritische Wirtschaftsvertreter*innen einzugehen. 

Die Versteherin der Bürgerlichen

Den Ruf, allen zuzuhören, hat sie über die Parteigrenzen hinaus. Marieke Kruit ist beliebt beim Gewerbe und bei den Bürgerlichen. Giorgio Albisetti, Präsident der Sektion Bern des Handels- und Industrievereins, sagte vor wenigen Tagen in der «Hauptstadt»: «Das Beispiel von Marieke Kruit zeigt, dass auch Linke Wirtschaftsverständnis haben, wenn sie sich mit der Materie auseinandersetzen und anerkennen, dass es Probleme gibt.»  

Impressionen von den Wahlen der Stadt Bern,  fotografiert am Sonntag, 24. November 2024 in Bern. (VOLLTOLL / Manuel Lopez)
Frauenmehrheit: Der neue Gemeinderat mit Matthias Aebischer, Melanie Mettler, Ursina Anderegg, Marieke Kruit, Alec von Graffenried. (Bild: Manuel Lopez)

Insbesondere für ihre Haltung bei Verkehrsmassnahmen wird sie von bürgerlicher Seite gelobt. Als linke Gemeinderätin in einer linken Stadt hat sie vom Parlament den Auftrag, Autos und Parkplätze zu reduzieren, sie schenkt dabei aber dem Wirtschaftsverkehr eine besondere Beachtung. So liess sie sich im August in Bund/BZ zitieren: «Es ist im Interesse aller, dass (...) Wirtschaftsverkehr rasch zum Ziel kommt». 

Applaus dafür erhielt sie in derselben Publikation von Peter Steck, Präsident des Gewerbeverbands KMU Stadt Bern. Er ortete gar Pionierpotenzial, wenn Bern als erste Schweizer Stadt den Begriff «Wirtschaftsverkehr» klar definiere und «pragmatische» Lösungen suche. 

Pragmatische Lösungen heisst aber oft: Kompromisse eingehen, Projekte zur Eindämmung des Autoverkehrs vorsorglich redimensionieren, um auch das Gewerbe ins Boot zu holen. Das kann zu Schelte aus dem eigenen Lager führen. «In den Kernthemen der Mobilität ging es mir in den letzten vier Jahren zu wenig vorwärts», sagt etwa Michael Ruefer auf Anfrage. Der GFL-Stadtrat ist Präsident des VCS Region Bern. Er findet Kruits Politik mutlos. Den Auftrag für einen autofreien Bahnhofsplatz habe sie nicht umgesetzt.

Steigende Ansprüche – von links

Es ist das Höchstmass an Kritik an Marieke Kruit, die mit Peter Lauener verheiratet ist, dem früheren Kommunikationschef des ehemaligen SP-Bundesrats Alain Berset. In ihrer Zeit als Gemeinderätin hat sie nichts richtig falsch gemacht. Der einzige Tolggen im Reinheft ist die misslungene Umsetzung der Containerpflicht, die das Volk in einer Abstimmung zusammen mit dem Farbsacksystem guthiess. Die «Hauptstadt» hat das Debakel in einer zweiteiligen Serie aufgearbeitet. Auf diese Schwachstelle haben ihre politischen Gegner*innen im Wahlkampf jedoch nicht gespielt.

Impressionen von den Wahlen der Stadt Bern,  fotografiert am Sonntag, 24. November 2024 in Bern. (VOLLTOLL / Manuel Lopez)
Warme Unterstützung für Marieke: Ursina Anderegg, Valentina Achermann, Meret Schindler, Nadine Masshardt, Lena Allenspach umrahmen Kruit. (Bild: Manuel Lopez)

Bereits am Tag nach ihrem Wahltriumph steigen allerdings die Ansprüche an Marieke Kruit – auch von ihren Verbündeten. Rahel Ruch, Co-Präsidentin des Grünen Bündnisses, sagt zur «Hauptstadt»:  «Für uns ist klar: Der Gemeinderat muss nun den Klimaschutz priorisieren. Wir erwarten von Marieke Kruit, dass sie hier einen klaren Schwerpunkt setzt.» Die Stadt Bern müsse schneller vorwärts machen, damit Bern Netto Null 2040 erreicht.

Werde Kruit Stadtpräsidentin, so Ruch, sei ein weiteres wichtiges Dossier der bezahlbare Wohnraum: «Wir fordern, dass Kruit die kürzlich im Stadtrat beschlossene Mietzinskontrolle rasch umsetzt. Und auf dem Viererfeld und im Gaswerkareal müssen bezahlbare Wohnungen für alle entstehen.»

Heikle Direktionsverteilung

Negativ ausgedrückt könnte man sagen, Marieke Kruit sei brav und zahm. Und bestrebt, jeglichen Fauxpas zu vermeiden. Sogar bei der Nominierungsversammlung ihrer Partei, einem Heimspiel unter getreuen Genoss*innen, hatte sie einen Mitarbeiter ihrer Direktion dabei und las ihre Motivationsrede – im Gegensatz zu Matthias Aebischer – vom Blatt ab.

Allerdings können die Lern- und Anpassungsfähigkeiten der passionierten E-Bike-Fahrerin, positiv ausgedrückt, auch sehr gute Eigenschaften einer Stadtpräsidentin sein: Sie kann integrativ wirken, ihr ist niemand richtig böse, und es ist kaum vorstellbar, dass die unaufgeregte Kruit Auslöserin eines Skandals sein könnte.

Vielleicht sind Marieke Kruits Naturell und ihre Ausbildung Pluspunkte, wenn sie daran geht, die neu zusammengewürfelte Regierung zu einem gut funktionierenden Team zu formen. Der erste Test könnte die Zuteilung der Direktionen sein, die sie als Stadtpräsidentin moderieren wird: Alle fünf Direktionen der städtischen Verwaltung bekommen eine neue politische Führung.

Impressionen von den Wahlen der Stadt Bern,  fotografiert am Sonntag, 24. November 2024 in Bern. (VOLLTOLL / Manuel Lopez)
Perfekt vorbereitet im Rampenlicht. (Bild: Manuel Lopez)

Eine wichtige Frage wird sein, wie die einzige Vertreterin der Mitte-rechts-Liste in die Regierung integriert wird. Setzt die rot-grüne Mehrheit Melanie Mettler (GLP) wie ihren Vorgänger Reto Nause (Mitte) auf die Sicherheits- und Umweltdirektion? Oder wird Mettler als Finanzdirektorin mit einer Schlüsseldirektion betraut?

Migrantische SP

Dabei könnte auch Kruits Herkunft helfen. Sie ist im abgelegenen Turbach bei Gstaad aufgewachsen, wo ihre Eltern ein einfaches Hotel führten. Marieke Kruit stieg mit einer KV-Lehre in einem Tourismusbüro ins Berufsleben ein. Inzwischen lebt sie seit Jahrzehnten in Bern und kennt das Leben des urbanen oberen Mittelstands. Doch Kruit versteht etwas vom Stadt-Land-Spagat – und kann, wenn es angebracht ist, auch die Bodenständigkeit der Berglerin ausspielen. Das stärkt ihre Akzeptanz.

Zudem hat sie holländische Wurzeln und wurde erst als 12-Jährige eingebürgert. Damit repräsentiert sie ein wichtiges Element der hochgradig erfolgreichen SP. Keine andere Stadtberner Partei schafft es, migrantische Personen so gut zu integrieren und damit auch die Wähler*innenschaft abzuholen. In der 26-köpfigen SP-Fraktion haben mindestens acht Parlamentarier*innen migrantische Wurzeln.

Die SP hat allen gezeigt, was es heisst, Wähler*innen zu mobilisieren. Marieke Kruit hat ihren Teil dazu beigetragen, indem sie sich konsequent als breit wählbare Person positioniert hat. 

Marieke Kruit wird wie immer gut vorbereitet sein, wenn sie ihr Amt als erste Stapi von Bern antritt. Dem Zufall überlässt sie nichts.

*Wer wissen will, wie man Marieke Kruit korrekt ausspricht, konsultiert hier ihr Kurzvideo auf Instagram, das sie für den Wahlkampf vor vier Jahren hochgeladen hat.

Hinweis: Der Artikel wurde nach Bekanntgabe von Alec von Graffenrieds Verzicht auf einen zweiten Wahlgang aktualisiert.

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Diskussion

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Hans Joss
19. Dezember 2024 um 09:28

Eine sorgältige, transparente Aufarbeitung des Projekts "Das Wandbild muss weg" steht immer noch an. In das Projekt wurden mehrere hundert Tausend Franken investiert. Ergebnis: ein zerstörtes denkmalgeschütztes Wandalphabet. Hauptverantwortlich: die Denkmalpflege, welche jegliche Auskunft über negative und positive Entscheidungen verweigert.