Zürich schafft es, Bern nicht
Obschon das Volk der Containerpflicht zugestimmt hat, führt sie die Stadt nicht ein. Die «Hauptstadt» rekonstruiert aufgrund von Originaldokumenten, wie es zu diesem Debakel kam. Die Stadtberner Kehricht-Saga, Teil I.
Es sollte ein ökologischer Befreiungsschlag für die Stadtberner Kehrichtabfuhr werden. Doch es wurde ein Planungsflop: Das Farbsack-Trennsystem, die Umstellung der Wertstoffsammlung vom Bring- auf das Hol-System. Das Ziel dabei: Abfälle können daheim getrennt gesammelt und in Containern vor dem Haus entsorgt werden. Verbunden war das System von Beginn weg mit der Einführung einer Containerpflicht für alle Liegenschaften mit Ausnahme der Altstadt.
«Mit grosser Freude», verkündete die damalige Tiefbaudirektorin Ursula Wyss (SP) im Dezember 2019, dass ein Pilotversuch die technische Machbarkeit des Farbsack-Trennsystems nachgewiesen habe. Die Zufriedenheit bei den Testerinnen und Testern sei gross. Wyss betonte auch, wie dank der Containerpflicht die Gesundheit der Mitarbeitenden von Entsorgung + Recycling Bern geschützt werde. Diese müssten schwere Abfallsäcke von Hand in den Kehrichtwagen werfen, was zu Rückenproblemen führen könne.
Ein Jahr später verabschiedete sich Wyss in den politischen Ruhestand. Sie überliess das Dossier ihrer Nachfolgerin Marieke Kruit (SP). Diese arbeitete mit ihren Mitarbeitenden eine Vorlage aus und überzeugte im November 2021 bei der Volksabstimmung 58,3 Prozent der Stimmbürger*innen. Die Einführung der Containerpflicht und des Trennsystems mit Farbsäcken war beschlossen.
Die ökologische Berner Kehricht-Revolution schien kurz vor der Vollendung. Doch statt zu einem Recycling-Leuchtturm wurde die Vorlage zu einem Beispiel für ein kolossales Planungsdebakel der Tiefbaudirektion.
Zuerst wurde die Einführung der Containerpflicht, die Grundlage für das ganze System, mehrere Male verschoben. Dann verkündeten Gemeinderätin Marieke Kruit und Christian Jordi, Leiter Entsorgung und Recycling, im März dieses Jahres sogar den Stopp: Die flächendeckende Containerpflicht komme nicht, weil rechtliche Probleme sie verhindern würden.
Als Ausweg schlug der Gemeinderat dem Parlament eine teilweise Containerpflicht vor. Die Folge: Belader*innen werden vorläufig weiter in allen Stadtquartieren Kehrichtsäcke heben müssen. Zudem: Das Farbsack-System wird auf absehbare Zeit nicht für alle Bewohner*innen Berns eingeführt, sondern vorerst nur für die Teilnehmenden des Pilotversuchs weitergeführt.
Kruit entschuldigte sich für die begangenen Fehler. Gescheitert ist die Umsetzung, wie sie damals mit ihren Mitarbeitenden vor den Medien ausführte, hauptsächlich an zwei Problemen:
Bauordnung: Der sogenannte Vorgartenland-Schutzartikel verhindert laut der Direktion für Tiefbau, Verkehr und Stadtgrün (TVS) in vielen Fällen das Erstellen eines Containerplatzes auf Privatgrund.
Zumutbarkeit: Die TVS hatte unterschätzt, dass Container zum Teil zu viele Treppenstufen zum Bereitstellungsplatz gezogen werden müssten.
Geplant hatte die TVS, dass 80 Prozent der Containerstandplätze auf privatem Boden errichtet würden. Nun zeigte sich, dass sich wohl nur eine 50-Prozent-Quote an privaten Containerstandplätzen erreichen lässt. Als nicht machbar erachtet es die Stadt, die anderen 50 Prozent der Container auf öffentlichen Grund zu platzieren. Deshalb erklärte sie die Containerpflicht nur für teilweise gültig. Das heisst: Das vom Volk beschlossene Reglement wird nicht umgesetzt.
Das war für die «Hauptstadt» der Ausgangspunkt einer umfangreichen Recherche. Wir wollten verstehen, warum die Umsetzung einer vom Volk beschlossenen Vorlage so eklatant scheiterte. Die Frage, wie es zur Fehlplanung kam, ist demokratiepolitisch relevant. Denn Stimmbürger*innen müssen darauf vertrauen können, dass eine Vorlage umsetzbar ist, wenn sie über diese abstimmen.
Die «Hauptstadt» hat darum bei der Stadt gemäss Öffentlichkeitsgesetz um Einsicht in alle Unterlagen gebeten, die zur Vorbereitung der Abstimmungsvorlage erstellt worden waren. Das Gesuch wurde von der Stadtkanzlei abgelehnt, weil es zu umfangreich und unpräzis sei. Zudem würden bei gewissen Dokumenten überwiegende private und öffentliche Interessen eine Herausgabe verhindern.
In einer Kompromisslösung lieferte die TVS der «Hauptstadt» jedoch eine Reihe von Dokumenten, die aus Sicht der Direktion für die Vorbereitung der Containerpflicht zentral waren. Zudem erhielt die «Hauptstadt» die gewünschten Protokolle der ämterübergreifenden Arbeitsgruppe Containerstandplätze aus den Jahren 2016 und 2017.
Schon die abschlägige Antwort auf das Einsichtsgesuch zeigte, dass die gescheiterte Vorlage kein Schnellschuss war. Die Containerpflicht und das Farbsack-System wurden in unzähligen Arbeitsstunden von Verwaltungsangestellten und externen Berater*innen vorbereitet. Das ganze Dossier zur Vor- und Nachbereitung der Abstimmungsvorlage umfasste laut einem Memo der Stadtkanzlei einen Berg von Dokumenten:
- weit über 7000 E-Mails;
- weit über 100 Protokolle verschiedenster städtischer Gremien sowie zahlreiche Protokolle zu Sitzungen mit Dritten;
- diverse interne sowie externe Berichte, Machbarkeitsstudien sowie Factsheets und verwaltungsinterne Stellungnahmen und Korrespondenz;
- über 100 Präsentationen (z.B. Infoveranstaltungen mit Quartierorganisationen) und Pläne.
Für die Recherche hat die «Hauptstadt» nicht alle 7000 Mails angesehen. Aber rund 250 Seiten Verwaltungsdokumente ausgewertet, Protokolle von 18 städtischen Sitzungen aus den Jahren 2016 und 2017 analysiert sowie etliche Recherche-Gespräche geführt.
Sie hat sich an folgenden Forschungsfragen orientiert:
- Wie hat Bern von Zürich gelernt, das vor 20 Jahren die Containerpflicht erfolgreich eingeführt hat?
- Welches sind in Merkblättern und Planungsdokumenten die Unterschiede vor und nach der Abstimmung zu rechtlichen Fragen und zur Zumutbarkeit des Containerstandplatzes auf Privatgrund?
- Wie hat die ämterübergreifende Arbeitsgruppe «Containerstandplätze» gearbeitet
- Warum lässt sich die Pflicht letztlich nicht umsetzen?
Das Vorbild Zürich
Am Anfang der Berner Planung stand ein Blick Richtung Osten. Zürich beschloss schon 2004 eine Containerpflicht bei der Kehrichtabfuhr und setzte diese dann innerhalb weniger Jahre um – und zwar bei fast allen Liegenschaften.
In Zürich befinden sich aktuell laut Angaben von Entsorgung & Recycling Zürich (ERZ) 98,75 Prozent der Containerstandorte auf Privatgrund und lediglich 1,25 Prozent auf öffentlichem Boden. Zürich hat also eine noch viel höhere Quote erreicht als die 80 Prozent, die Bern in der Abstimmungsvorlage angestrebt hatte. Die Quote ist gar doppelt so hoch wie jene 50 Prozent, die Bern mit der abgespeckten Umsetzung nun zu erreichen versucht.
Wie war das möglich?
Bei Liegenschaftsbesitzer*innen, die sich weigerten, Container auf ihrem Boden zu stellen, erliess Zürich Verfügungen. Dagegen wurden zwar über 60 Rekurse eingereicht. Doch die juristischen Instanzen wiesen alle ab. Bei zweien war es sogar das Bundesgericht. Die meisten Einwände erfolgten laut ERZ wegen Optik und Ästhetik, aufgrund von Geruchsemissionen und wegen angeblicher Wertverminderung der Immobilie.
Angesichts dieser Zahlen der grössten Schweiz Stadt scheint der Fall klar: Eine Containerpflicht ist machbar. Das war auch das Fazit von zwei Ingenieur-Beratungsfirmen, die von der TVS 2015 mit der Erarbeitung der «Strategie Abfallsammlung 2030» beauftragt waren. Eine ihrer Kernaussagen:
«Die Einführung der Containerpflicht wird rund 5 Jahre dauern. Eine Pilotphase für die Containerpflicht für Kehricht und Papier/Karton erachten wir nicht als notwendig, da die Machbarkeit mit dem Beispiel Zürich nachgewiesen ist»
Auf diese Einschätzung verliessen sich die Berner Behörden bei den weiteren Arbeiten. Doch sie verpassten es, eine saubere Dokumentation zu erstellen, wie Zürich die Containerpflicht im Detail umgesetzt hatte. In den Unterlagen, welche die «Hauptstadt» von der TVS erhalten hat, wird nur sporadisch auf den Fall Zürich verwiesen. Die ämterübergreifende Arbeitsgruppe zu den Containern diskutierte Learnings und die rechtlichen Rahmenbedingungen der Zürcher Umsetzung nur am Rand.
Warum hat man das Zürcher System nicht dokumentiert und übernommen? Und warum schafft es die Stadt Bern nicht einmal, 80 Prozent private Standplätze zu realisieren?
Die in Bern zuständige Abteilung Entsorgung + Recycling Bern (ERB) sagt auf Anfrage, es habe regen Austausch mit Zürich gegeben. Es handelte sich dabei um Mailverkehr, Anrufe und physische Treffen. «ERB war ausserdem vor Ort und hat sich die Umsetzung gemeinsam mit der Projektleitung angeschaut.» Die Zürcher Behörde habe Unterlagen wie Richtlinien oder den Abschlussbericht des Projekts zur Verfügung gestellt. Es seien viele Themen besprochen worden. So etwa das Vorgehen mit der «Containergruppe» (auch die Stadt Zürich hatte eine solche) oder die Kriterien für die Bereitstellungsplätze. Die Ergebnisse des Austausches seien fortlaufend in die Projektentwicklung in Bern eingeflossen.
Die ERB nennt nun – im Nachhinein – drei Gründe, warum sich die Situation in Bern von derjenigen in Zürich unterscheide:
Doppelte Menge Container: Zürich habe nur die Containerpflicht für Kehricht eingeführt. In Bern will man auch Papier und Karton so sammeln. Das brauche die doppelte Menge an Containern.
Rechtliche Unterschiede: Die Stadt Zürich kenne keinen expliziten Vorlandschutzartikel. Es gibt daher wesentlich weniger Einschränkungen aufgrund des Stadtbilds, wenn ein Container im Vorgarten platziert werden soll. «Wenn – wie in Bern – Standplätze konsequent hinter einer Einfriedung, wie einer Hecke, erstellt werden müssen, benötigt dies wiederum wesentlich mehr Fläche», schreibt die ERB. Vor diesem Hintergrund sei immer klar gewesen, dass Bern nicht dieselbe Quote erreichen könne wie Zürich. Dass die tatsächlich erreichbare Quote in Bern am Schluss deutlich unter 80 Prozent fiel, «war für alle Beteiligten eine Überraschung und eine herbe Enttäuschung», so die TVS.
Verkomplizierung durch Farbsack-System: In Bern sollte gleichzeitig mit der Containerpflicht das Farbsack-Trennsystem eingeführt werden. «Das war zwar gut gemeint und hätte für die Bevölkerung eine (freiwillige) Möglichkeit zur Verbesserung der Entsorgungsqualität mit sich gebracht», schreibt die TVS. Gleichzeitig seien damit aber betriebliche Abhängigkeiten geschaffen worden. Aufgrund der erforderlichen Entsorgungsfahrzeuge (sogenannte «Leichtverdichter») wäre es laut TVS zwingend gewesen, dass Stadtteil für Stadtteil jeweils auf den gleichen Zeitpunkt eine vollständige Umsetzung auf das neue System erreicht worden wäre. Demgegenüber habe Zürich die Containerpflicht über mehrere Jahre hinweg Schritt für Schritt umgesetzt, ohne dass dies zu betrieblichen Problemen geführt habe.
Zumindest der erste Faktor der zusätzlichen Papiercontainer war schon zu Beginn der Planungen bekannt. Im Strategie-Papier von 2015 erachtete man eine «Containerpflicht für Kehricht und Papier/Karton» aber noch als machbar.
Und beim zweiten Faktor – den rechtlichen Problemen – stand und stünde der Stadt Bern die Option offen, die Bauordnung abzuändern. Dazu später mehr.
Doch warum hat man die angeblich derart unterschiedliche Ausgangslage in Bern und Zürich nicht schon vor der Abstimmung erkannt? Was hat man in den vielen städtischen Sitzungen besprochen? Wie viel Geld floss an externe Berater*innen? Und wie wurden die zentralen Dokumente für die Abstimmungsvorlage erarbeitet?
Das kannst du im zweiten Teil unserer Recherche lesen.
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Diese Recherche wurde mit Unterstützung von JournaFONDS realisiert.