Alleine gegen Einsamkeit
Naima Ferrante engagiert sich in Bern seit gut zwei Jahren dafür, dass das Thema Einsamkeit enttabuisiert wird. Das tut sie hauptsächlich allein.
Im Tibits brummt die Kaffeemaschine und um die Selbstbedienungstheke wuseln Leute mit vollen Frühstückstellern. Naima Ferrante arbeitet fast jeden Tag hier. «Im Büro wäre ich alleine und hätte keine Möglichkeit zum Austausch», sagt sie. Hier werde sie immer wieder angesprochen und habe dadurch Interaktionen und spontane Begegnungen. «Das tut mir gut.»
Naima Ferrante ist Psychologin und doktoriert am Inselspital Bern. Ein grosser Teil ihres Lebens nimmt aber ihr eigenes Projekt ein: Mit Soli Bern engagiert sie sich gegen Einsamkeit.
Einsamkeit ist ein grosses Thema dieser Zeit. Und immer noch ein Tabu.
82 Prozent der Instagram-Community der «Hauptstadt» fühlen sich laut einer Umfrage manchmal einsam. Das ist viel. Die offiziellen Zahlen des Bundesamts für Statistik sprechen von rund 40 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung der Schweiz, die sich manchmal oder oft einsam fühlen.
Ferrante wird misstrauisch, wenn jemand sagt, dass er oder sie sich noch nie einsam gefühlt habe. «Spätestens bei einem Verlust oder einer Trennung von einem wichtigen Menschen fühlt man sich einsam.» Sie gibt Workshops in Co-Moderation am Recovery College Bern (RCB) und alleine über Soli Bern.
Einsam oder allein
Der Name Soli steht für Solitude. Er ist Englisch und bedeutet eine positive Form von Alleinsein. Daneben gibt es noch den Begriff Loneliness, der negativ konnotiert ist. Den Namen hat sie aus diesem Grund gewählt. Sie will den Menschen zeigen, wie sie mit ihrer Einsamkeit besser umgehen können.
Im Deutschen sei der Unterschied zwischen positiver und negativer Einsamkeit den meisten Menschen weniger klar. «Wenn wir sagen, ich bin alleine oder ich fühle mich alleine, meinen wir oft eigentlich Einsamkeit», sagt Ferrante. Sie erklärt den Unterschied: «Einsamkeit ist ein Gefühl, das man sich nicht aussucht. Es ist nicht kontrollierbar und von aussen nicht ersichtlich. So kann man sich auch inmitten von Menschen einsam fühlen.» Alleinsein sei hingegen ein objektiver Zustand, den man selber wähle. Er beschreibe die Abwesenheit von Menschen und sei neutral. Er könne als positiv oder negativ wahrgenommen werden, während Einsamkeit meist negativ sei.
Ferrante erkrankte im November 2020 an Corona und fühlte sich durch die damit einhergehende Isolation einsam. «Das war sehr schlimm», sagt sie. Es wurde ihr auch bewusst, dass Einsamkeit bei 25 bis 40 jährigen Menschen in den Medien kaum thematisiert wurde. Das wollte sie ändern.
Sie erstellte eine Website, um über das Thema Einsamkeit zu informieren. Und gründete im Februar 2021 mit der Unterstützung von Selbsthilfe Bern die erste Selbsthilfegruppe für junge Einsame (zwischen 25 bis 40 Jahren) mit einem besonderen Angebot: Neben Gesprächsabenden fanden auch gemeinsame Aktivitäten statt. Ein Jahr später löste sich die Selbsthilfegruppe von Selbsthilfe Bern und nimmt seither keine neuen Mitglieder mehr auf. Es sind Freundschaften entstanden und die Gruppe ist nun eigenständig und geschlossen. Auf Selbsthilfe Bern kann man sich anderen Gruppen anschliessen.
Seit Februar 2022 gibt sie regelmässig Workshops allein oder am RCB mit Cordula Reimann.
Einsamkeit hat viele Gesichter
Sich einsam fühlen, empfindet jede*r anders. Naima Ferrante beschreibt ihre Einsamkeitsgefühle mit seelischen Schmerzen, die mit Traurigkeit und Angst einhergehen. Und sie hat das Gefühl, dass sie nicht gesehen oder nicht so angenommen wird, wie sie ist.
Auch in den Rückmeldungen der Instagram Community der «Hauptstadt» zeigt sich die Diversität an Gefühlen. Es ist die Rede von einem Knoten in der Brust, einem beklemmenden Gefühl der Leere, Bauchschmerzen oder sich nicht verstanden oder verbunden mit anderen Menschen fühlen.
Naima Ferrante erwähnt die für sie sehr passende Beschreibung der Psychologin Felizitas Ambauen: «Einsamkeit ist ein Gefühl des Losgelöstseins, psychologisch ist man dabei auf der sogenannten Bindungsebene nicht connected – man fühlt sich nicht eingebunden.»
Workshops
In Ferrantes Workshops geht es primär darum, dass die Teilnehmenden über ihre Einsamkeit sprechen und sich damit auseinandersetzen. «Dadurch haben sie einen Raum, wo sie über ihre Situation und Gefühle sprechen können und verstanden werden. Sie merken, dass sie nicht alleine sind.» Das löse viel aus. Und sei das «A und O, damit man etwas ändern kann», sagt Ferrante.
Wer nicht will, muss sich nicht exponieren. Das ist ihr wichtig. «Es ist ein heikles Thema, man kennt einander nicht. Die Teilnehmenden sollen sich nicht gedrängt fühlen, darüber zu sprechen», sagt Ferrante.
Sie spricht in den Workshops immer wieder über ihre eigene Einsamkeit. Für die Teilnehmenden sei das sehr wertvoll. «Wenn sie ein Beispiel sehen, hilft ihnen das. Ich begegne ihnen dadurch auf Augenhöhe und das berührt sie.»
Natur, Tiere und Schreiben
Trotz Selbsthilfegruppe, Workshops und viel Offenheit ist diese Arbeit für Naima Ferrante nicht leicht. Denn sie wird immer wieder mit ihren eigenen Einsamkeitserfahrungen konfrontiert.
In solchen Situationen versucht sie zum Beispiel andere zu unterstützen. Das gebe Lebenssinn, erklärt sie. Und sie schöpft von ihrem Wissen aus der Psychologie: Auch Tiere seien eine Hilfe. Tiere zu streicheln, schütte Glückshormone aus. Ferrante hat einen Hund. «Selbst wenn ich zu Hause verzweifle, mein Hund lenkt mich immer wieder ab.» Er bringt sie in die Natur und die Natur tue gut.
Sie denkt nach und löffelt die geschäumte Milch von ihrem Latte Macchiato. Ihr Blick wandert zum Notizbuch auf dem Tisch. Sie schreibt Poesie, wenn sie einsam ist. Es ist auch psychologisch erwiesen: Schreiben hilft dem Verarbeitungsprozess.
Ein guter Umgang mit Einsamkeit ist also lernbar. In den Workshops überlegen sich die Teilnehmenden, was sie gerne machen und welche Menschen ihnen nah sind. «So sehen sie die vielen Möglichkeiten, die sie haben und dass sie nicht alleine sind», erklärt Ferrante. Solche Übungen fördern die Selbstreflexion der Teilnehmenden und helfen, in Zukunft besser mit schwierigen Situationen umzugehen.
Ihre Workshops seien zwar ein gutes Brückenangebot, aber keine Gruppentherapie. Wenn der Leidensdruck unaushaltbar werde und man einen ungesunden Lebensstil entwickle, sollte man professionelle Hilfe in Anspruch nehmen, rät sie.
Mental Health Café
In Deutschland wurden Plauderkassen und Schwätzbänkle eingerichtet, wo sich Menschen Zeit nehmen, um miteinander zu sprechen und zuzuhören. Es gibt sogar ein Netzwerk, das Kompetenznetz Einsamkeit (KNE). Naima Ferrante würde gerne auch in Bern mehr Begegnungsorte schaffen. Denn bis Betroffene einen Therapieplatz finden, vergehe oft viel Zeit und das Risiko für einen chronischen Verlauf steige.
Ferrante hat noch eine weitere Idee. Sie möchte ein Mental Health Café eröffnen. «Durch Essen und Trinken kann Verbindung geschaffen werden.» Und das Café könnte eine Plattform für Austausch und Aktivitäten sein, stellt sich Ferrante vor. Ihre Idee kann sie ab April/Mai im Dock8 realisieren: Sie will mit Salome Balasso – ebenfalls am RCB tätig – regelmässige Events zu Themen über psychische Gesundheit organisieren.
Der Latte Macchiato ist ausgetrunken. Am Tisch nebenan hat soeben eine Frau Platz gefunden. Bis jetzt ist das Tibits Naima Ferrante persönliches Mental Health Café. Hier arbeitet sie an ihrer Doktorarbeit und plant – bis jetzt hauptsächlich alleine – weitere Projekte und Workshops.
Save the Date: «Hauptsachen»-Talk zum Thema Mental Health am 26. April in der Aula im PROGR.
Im 23. März findet im Politforum Bern eine Podiumsdiskussion zum Thema: «Ich bin einsam»: Einsamkeit als Epidemie des 21. Jahrhunderts? statt.