Zuhören für eine friedlichere Welt

Das Projekt «Empathie Stadt» will Berner*innen beibringen, wie sie gewaltfrei kommunizieren können – und damit die Demokratie fördern. Wie geht das?

Impressionen eines Workshops der Empathie Stadt in der Villa Bernau in Wabern, aufgenommen am 16.09.2024 für hauptstadt.be
Wie eine Fremdsprache braucht auch die gewaltfreie Kommunikation Übung. (Bild: Daniel Bürgin)

An einem Montagabend im September treffen sich 17 Menschen in der Villa Bernau in Wabern, um zu lernen, wie sie empathisch Konflikte lösen können. Es ist der sechste von sieben Kursteilen, viele Teilnehmer*innnen umarmen sich zur Begrüssung. Sie wissen bereits, was sie zu Beginn erwartet. Wie jede Woche führt Kursleiter Marco Pfister durch eine Übung, mit der sie sich mit sich selbst verbinden können. Auf halbierten Gymnastikmatten liegend oder auf Stühlen sitzend, beantworten sie für sich die Fragen: «Was will mein Körper? Was spüre ich im Körper?»

«Merken, wie es mir selbst geht, ist ein essenzieller Bestandteil der Konfliktlösung», erklärt Marco Pfister. «Schaue ich zu mir selbst, ist allen gedient.»

In seinen Worten schwingt mit, was namensgebend ist für den Kurs: Empathie. Vor vier Jahren haben die ehemalige Berner SP-Stadträtin Tanja Walliser und ihre Kollegin Sonja Wolfensberger «Empathie Stadt Zürich» gegründet. Das «Zürich» ist inzwischen aus dem Namen verschwunden, da sie ihre Initaitive auf die ganze Deutschschweiz ausdehnen. Auch nach Bern, wo bereits drei Kurse stattgefunden haben. Das Anliegen ist das gleiche geblieben: «Wir wünschen uns eine Stadt, in der alle allen und allem Acht geben», erzählt Tanja Walliser im Telefongespräch mit der «Hauptstadt».

Bitten und zuhören

Der Weg dorthin führt über den Ansatz der Gewaltfreien Kommunikation (GfK). An diesem Kursabend geht es darum, Bitten zu formulieren. Sie sind nach Beobachtungen, Gefühlen und Bedürfnissen der vierte und letzte Schritt im GfK-Modell.

In Zweiergruppen üben die Kursteilnehmer*innen, Bitten zu formulieren. Beispielsätze auf einem Papier dienen als Inspiration für Bitten im Dialog:

Ich habe das Gefühl, ich drücke mich unklar aus. Kannst du mir helfen?

Wärst du offen, meine Perspektive zu hören?

Kann ich sagen, was das mit mir macht?

Ebenso wichtig wie Bitten zu formulieren, sei das Zuhören, betont Marco Pfister. «Ein Konflikt entsteht, wenn zwei Leute sprechen, aber niemand zuhört.» Mit zuhören meint er mehr als die Wahrnehmung des Akustischen. Es geht um ein aufrichtiges Interesse daran, verstehen zu wollen, was das Gegenüber sagt. «Wir hören uns zu wenig zu in unserer Gesellschaft», findet Pfister. So würden Bedürfnisse ungesehen und unbefriedigt bleiben. Was dann zu Konflikten führe, im Kleinen und im Grossen.

Impressionen eines Workshops der Empathie Stadt in der Villa Bernau in Wabern, aufgenommen am 16.09.2024 für hauptstadt.be
Wie mit einem «Nein» umgehen? Marco Pfister erklärt Strategien dafür. (Bild: Daniel Bürgin)

Daraus leitet «Empathie Stadt» ein weiteres Ziel ab: Mit Empathie die Demokratie stärken.

«Demokratie bedeutet für uns nicht nur, dass die Mehrheit entscheidet. Wir möchten gemeinsam Lösungen finden, die für alle besser sind», erklärt Marco Pfister, auch er ein ehemaliger Berner Stadtrat (GLP). Dazu brauche es den Dialog und damit verbunden die Fähigkeiten, sich auszudrücken und – eben – zuhören zu können.

Neue Geschichten für eine neue Welt

Um diese abstrakte Idee auf den Boden zu bringen, veranstaltet «Empathie Stadt» Kurse wie jenen in Bern. Wenn einzelne Menschen gewaltfrei und empathisch kommunizieren, verbreitet sich das mit der Zeit in der ganzen Gesellschaft, so die Idee. Das Bedürfnis danach scheint jedenfalls gross zu sein: Ohne Werbung zu machen, seien alle Kurse in Bern ausgebucht gewesen, so «Empathie Stadt»-Co-Gründerin Tanja Walliser.

Auf den Sozialen Medien und auf ihrer eigenen Website findet mit Essays von verschiedenen Autor*innen und einem Podcast die sogenannte «Narrativarbeit» statt: «Wenn wir etwas verändern wollen, brauchen wir neue Arten, wie wir über die Welt reden», erklärt Walliser. Sie selbst hat zum Beispiel einen Post geschrieben darüber, dass Kindererziehung gemeinschaftlich sein sollte. Es geht aber auch um den Platz des Menschen im Ökosystem oder die weltweiten Kriege.

Impressionen eines Workshops der Empathie Stadt in der Villa Bernau in Wabern, aufgenommen am 16.09.2024 für hauptstadt.be
Marco Pfister war früher Politiker, heute leitet er Kurse zu gewaltfreier Kommunikation. (Bild: Daniel Bürgin)

Sechs Menschen arbeiten hauptberuflich für «Empathie Stadt». Dazu kommen Kurstrainer*innen und Freiwillige, die diese unterstützen. Das Leitungsteam zahlt sich Löhne aus, die «rund um die Armutsgrenze, teilweise tiefer» liegen, so Tanja Walliser. Wie viel die Teilnehmer*innen für die Kurse bezahlen wollen und können, entscheiden sie selbst. «Empathie Stadt» lebt vor allem von Spenden und Stiftungsgeldern. Auch Beratungen bei akuten Konflikten in NGOs oder politischen Gruppen – ein weiterer Pfeiler der Tätigkeiten – bringen etwas Geld.

Wie eine Fremdsprache lernen

Beim Kurs in Bern ist gerade Pause. Die Teilnehmer*innen stärken sich mit Datteln und Schokolade und erzählen, warum sie sieben Mal drei Stunden lang gewaltfrei kommunizieren lernen.

Alessandra besucht den Kurs, weil sie konstruktive Gespräche führen will, privat und beruflich. Sich nicht mehr verlieren in einem «hässigen und polarisierenden» Tonfall. Was sie bisher gelernt hat, helfe ihr «mega fest». Es fühle sich ein bisschen an, wie eine Fremdsprache zu lernen. Ihre Schwester habe sie kürzlich gefragt, warum sie «so komisch» spreche. «Es kann irritieren», sagt sie.

Auch Kursteilnehmerin Naomi berichtet, dass die Umsetzung schwierig sei. «Aber es lohnt sich, Zeit und Energie zu investieren.» Sie findet, dass sie durch die gewaltfreie Kommunikation mehr Nähe schaffen kann zu ihren Mitmenschen. Und die zunächst befremdlichen Aussagen und Fragen hätten bei einigen schon einen «Aha-Moment» ausgelöst, so Naomi.

Marco Pfister gibt zu, dass es viel Zeit brauche, um die gewaltfreie Kommunikation zu üben. «Danach aber wird die Kommunikation viel effizienter. Viele Missverständnisse entstehen gar nicht erst oder lassen sich rascher klären.» Hauptsächlich gehe es gar nicht so sehr darum, anders zu sprechen, sondern vielmehr, eine neue Haltung einzunehmen. Eine Haltung des Nicht-Wissens. «Oft interpretieren wir, was das Gegenüber meint.» Die Haltung des Nicht-Schon-Wissens ermögliche es, das Gegenüber verstehen zu können. Präsent zu sein, achtsam, offen.

Umgang mit dem Weltschmerz

Die Gründung von «Empathie Stadt» hat viel mit der Biografie von Tanja Walliser zu tun. Seit jeher wünscht sich die 38-Jährige eine «gerechte Welt für alle Wesen». Während und nach dem Studium politisierte sie in den Parlamenten von Bern und Dübendorf und arbeitete für die Unia und die SP. Damals kanalisierte sie ihren Weltschmerz in Aktivismus. «Ich spürte aber, dass mir dabei eine Dimension gefehlt hat.» Nach einem Burn-Out beschäftigte sie sich daher mit «inneren Sachen». «Ich lernte zu trauern und den Weltschmerz zu fühlen. Im Schmerz steckt eine Vision der Welt, wie ich sie mir wünsche. Diese Vision ist mein Antrieb.»

Impressionen eines Workshops der Empathie Stadt in der Villa Bernau in Wabern, aufgenommen am 16.09.2024 für hauptstadt.be
Sich ausdrücken und zuhören können sind essenzielle Fähigkeiten in einer Demokratie. (Bild: Daniel Bürgin)

Die «Empathie Stadt» sieht Tanja Walliser als Ort, wo die Arbeit am inneren und am äusseren System zusammenläuft. Auf einer feineren und leiseren Ebene als im klassischen Politikbetrieb. «Die Welt lässt sich nicht nur mit lauten Aktionen verändern», findet sie. Und nicht aller Wandel sei sichtbar: «Wenn eine Person Leid erlebt und ich ihr zuhöre, wird nicht alles wieder gut. Aber das Zuhören hat etwas mit dieser Person gemacht, sie schöpft womöglich neue Hoffnung.» Dieser Vorgang lasse sich auch auf die gesellschaftliche Ebene übertragen: «Der Einfluss ist nicht sofort klar, aber er ist da», so Walliser.

Am Kursabend in Bern diskutieren die Teilnehmer*innen inzwischen, wie sie mit einem Nein umgehen können. Also mit der Situation, wenn das Gegenüber ihre Bitte nicht erfüllen möchte. Obwohl sich viele Menschen am Austausch beteiligen, ist es ruhig. Man lässt einander ausreden und die Worte der anderen auf sich wirken. Sie fühle sich jeweils abgelehnt, wenn sie ein Nein erhalte, erzählt eine Kursteilnehmerin. Viele nicken oder flattern mit den Händen, um ihre Zustimmung auszudrücken.

Marco Pfister regt an, die Perspektive zu ändern: «Ein Nein ist ein Ja zu den eigenen Bedürfnissen.» Daraus könne ein Gespräch entstehen. Jeder Mensch würde dabei seine Bedürfnisse ausdrücken und zuhören, welche Bedürfnisse der andere hat.

Wie wohl eine Gesellschaft aussähe, in der alle Menschen solche von Ehrlichkeit und Respekt getragenen Gespräche führten? Wenn die Berner Kursteilnehmer*innen in ihr Alltagsleben ausströmen, wird zumindest im Kleinen eine Antwort aufleuchten.

Der nächste Grundlagenkurs in Bern startet am 21. Oktober. Am 26. Oktober findet in der Dampfzentrale im Rahmen vom Festival Tanz in Bern ein zweistündiger Workshop mit Empathie Stadt statt.

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