Streiken ohne Burnout

Pia Portmann will Aktivist*innen davor bewahren, auszubrennen. Das Projekt ist auch eine Art Therapie für sie selbst.

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Charlotte Naab und Pia Portmann haben des Kollektiv «aktiv sein und bleiben» gegründet. (Bild: Manuel Lopez)

Am 14. Juni 2019 war es drei Wochen her, seit Pia Portmann die Kriseninterventionsstation des Psychiatriezentrums Münsingen verlassen hatte. Während ihre Kolleg*innen als Vorbereitung auf den feministischen Streik Reden schrieben und Plakate malten, sprach die damals 29-jährige Bernerin mit ihrer Therapeutin darüber, wie sie den Tag am besten überstehen könnte. «Menschenmassen vertrug ich damals gar nicht.»

Sie gründete das Streikkollektiv der Student*innen der Universität mit. Gleichzeitig engagierte sie sich in drei weiteren politischen Projekten, stemmte ein Praktikum, einen Nebenjob und schrieb ihre Masterarbeit über Hatespeech in der Schweizer Politik. Kurz vor dem Streiktag brach ihr Lebensmodell auseinander: «Ich war völlig überlastet und ausgebrannt. Ich konnte nicht mehr schlafen und denken.»

Dabei hätte Pia Portmann eine aktive Rolle spielen wollen am 14. Juni 2019.

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Pia Portmann fragte sich: «Kann ich Aktivistin sein, ohne auszubrennen?» (Bild: Manuel Lopez)

Am Streiktag selbst war sie – wie sie sagt «nur» – als Teilnehmerin an der Demo dabei. Sie besuchte mehrere Veranstaltungen in Bern und in Schwarzenburg, dazwischen ruhte sie sich immer wieder aus in ihrer Wohnung. Am Abend legte sie an der Party im Dachstock auf.

Bereits mehrere Male ist Pia Portmann in ihren mittlerweile zehn Jahren als Aktivistin ausgebrannt. Jedes Mal pausierte sie, jedes Mal kehrte sie zurück. Und jedes Mal brannte sie erneut aus. Nach dem Frauenstreik 2019 stellte sie sich die Frage: «Kann ich Aktivistin sein, ohne auszubrennen?»

«Sie sollen nicht das gleiche durchmachen müssen wie ich»

Ein Jahr später besuchte Pia Portmann eine Weiterbildung, um Jugendliche bei der Berufswahl begleiten zu können. Die Übungen, die sie einst als Trainerin weitergeben würde, testete sie an sich selbst aus. «Ich erkundete meine Stärken und Visionen. Und erkannte, dass ich mich am lebendigsten fühle, wenn ich andere Menschen unterstützen kann.»

Diese Erkenntnis führte sie zu ihrer nächsten Tat: Sie brachte sechs Aktivist*innen aus der ganzen Deutschschweiz zusammen und traf sich mit ihnen alle paar Monate, um über ihr Wohlbefinden und ihre Belastungen zu sprechen. Das Angebot stiess auf Anklang. Dann erfuhr sie, dass am 14. Juni 2023 erneut ein grosser feministischer Streik stattfinden soll. Das perfekte Projekt für ihre neue Idee.

Pia Portmann will die Aktivist*innen des Feministischen Streiks 2023 darin unterstützen, nicht auszubrennen. «Sie sollen nicht das gleiche durchmachen müssen wie ich.»

Erneut aktivierte sie ihr Netzwerk. Sie suchte gesellschaftskritische Workshopleiter*innen, die Burnout-Präventionsangebote für Aktivist*innen anbieten wollten. Zum Beispiel Charlotte Naab, 34-jährig, Anthropologin. Nachdem sie selbst, wie viele ihrer aktiven Freund*innen, von Burnout betroffen war, liess sie sich 2018 in den Pyrenäen zur Trainerin für Nachhaltigen Aktivismus ausbilden. «Die Methoden und Perspektiven, die ich dort lernte, haben meine Vorstellung von Aktivismus und meine Praxis als Aktivistin grundlegend verändert.»

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Charlotte Naab: «Emotionen zeigen uns, was uns wichtig ist, aber auch, wo unsere Grenzen liegen.» (Bild: Manuel Lopez)

Prägend war für Naab insbesondere die Auseinandersetzung mit Emotionen. «Wut, Angst und Traurigkeit zum Beispiel sind völlig angemessene Reaktionen auf den Zustand der Welt.» Sie müssten gefühlt werden, auch das gehöre zu einer Burnout-Prävention. «Die Emotionen zeigen uns, was uns wichtig ist, aber auch, wo unsere Grenzen liegen.» Zu oft bliebe dafür aber wenig Raum im Aktivismus, so Naab.

Pia Portmann kannte Charlotte Naab von früher, weil sie einmal einen Workshop bei ihr besucht hatte. Nun holte Portmann sie und sieben weitere Menschen ins Kollektiv für das  Projekt «aktiv sein und bleiben». Die Gruppe traf sich zum Brainstorming. Die Ideen sprudelten. «Wir mussten unsere Ambitionen dann runterschrauben, um uns nicht zu überfordern», erzählt Pia Portmann. Denn was sie ihren Kursbesucher*innen mitgeben, wollen sie selbst vorleben: Die Praxis des Nachhaltigen Aktivismus.

Spaziergänge, Yoga, Kommunikation

«Nachhaltig» bezieht sich dabei nicht auf das Klima. Gemeint ist, dass sich Menschen langfristig politisch engagieren können, ohne dabei selbst kaputt zu gehen. Das Konzept haben sich nicht die Berner*innen ausgedacht. «Es geht zurück auf die Kämpfe Schwarzer Feminist*innen, wie Audre Lorde, Marsha P. Johnson oder Adrienne M. Brown», betont Charlotte Naab.

Teil davon ist die Auseinandersetzung mit Machtstrukturen und wie diese den Aktivismus prägen. «Der herrschende Individualismus, so wie Rassismen, Sexismen und andere Diskriminierungsformen entfremden uns von uns selbst, voneinander und auch von der Natur. Sie fördern toxische Narrative darüber, wie ein*e ‹echte*r Aktivist*in› zu sein hat.»

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Zwölf verschiedene Angebote umfasst das Projekt von Naab und Portmann. (Bild: Manuel Lopez)

Prägend für den deutschsprachigen Raum ist das Buch «Politisch aktiv sein und bleiben» von Timo Luthmann, das Pia Portmanns Projektidee ihren Namen gab. Er beschreibt darin die drei Pfeiler des Nachhaltigen Aktivismus: Gesellschaft, Gruppe, Individuum. Das Projekt von Pia Portmann fokussiert sich aktuell auf die Gruppen und Individuen.

Zwölf verschiedene Angebote sind seit März auf der Website ausgeschrieben. Gruppen können in Workshops lernen, gewaltfrei zu kommunizieren, Rollen besser zu verteilen und lustvoll Sitzungen zu halten; für Einzelpersonen gibt es unter anderem beruhigende Spaziergänge und traumasensibles Yoga. Das Programm ist zunächst auf den feministischen Streik zugeschnitten, soll aber anschliessend für alle linken aktivistischen Bewegungen offen sein.

«Wir können den Stress nicht wegkonsumieren»

Pia Portmann leitet unter anderen das Angebot «Check-in mit mir selbst», gemeinsam mit einer Shiatsu- und Yogatherapeutin. An einem Sonntagnachmittag im April sitzen zwölf Aktivist*innen auf abgewetzten Sofas und Polstersesseln im queerfeministischen Raum der Berner Reitschule. Pia Portmann hält eine Tee-Schachtel mit der Aufschrift «Power Tea» in den Händen. «Solche Produkte gaukeln uns vor, selbst schuld zu sein, wenn es uns nicht gut geht. Aber wir können Stress nicht mit einer Tasse Tee wegtrinken und schon gar nicht wegkonsumieren. Oft sind es die äusseren Strukturen, die zum Burnout führen.»

In den folgenden zwei Stunden horchen die Teilnehmer*innen in sich hinein; spüren, wie sie sich fühlen; lenken ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte Körperteile. Sie teilen ihre aktuellen Sorgen und entwickeln gemeinsam Lösungen: Lies doch dieses Buch – überlege, welches Bedürfnis hinter deiner Frage steckt – plane Pausen ein. Am Schluss sagt Pia Portmann: «Obwohl ich gerade gearbeitet habe, fühle ich mich entspannt und aufgeräumt. Das ist eine neue Erfahrung.»

Das Gelddilemma

Obwohl das Projekt hauptsächlich Aktivist*innen des feministischen Streiks anspricht, dürfen auch andere Menschen die Veranstaltungen besuchen. «Freund*innen und WG-Mitbewohner*innen leisten genauso wichtige Arbeit wie Aktivist*innen an der Front», sagt Pia Portmann. «Oft sind sie es, die sich um erschöpfte Aktivist*innen kümmern. Dabei müssen sie schauen, dass sie sich selbst nicht aufopfern mit dieser Care-Arbeit.»

Seit März finden die Veranstaltungen von «aktiv sein und bleiben» statt. Fünf Kollektive haben seither Workshops gebucht und auch bei Einzelpersonen stosse das Angebot auf grosses Interesse, erzählt Pia Portmann.

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Alle arbeiten ehrenamtlich, langfristig aber will das Kollektiv Löhne bezahlen. (Bild: Manuel Lopez)

Geld verdient niemand mit dem Projekt – alle arbeiten ehrenamtlich. «Langfristig wollen wir aber Löhne zahlen. Es darf nicht sein, dass sich nur jene beteiligen, die sich Gratisarbeit leisten können», sagt Pia Portmann. Gleichzeitig dürfe der Preis keine Teilnehmer*innen ausschliessen. Aktuell werden diese eingeladen, in eine Kollekte einzuzahlen. Auch Spenden sind willkommen.

Pia Portmann arbeitet neben dem Aktivismus in der Musikförderung. Um über die Runden zu kommen, legt sie zudem als DJ Affect Alien auf. Ein zusätzliches Einkommen wäre willkommen – doch ihr geht es um eine andere Sache: «Ich bin Aktivistin, weil ich Widerstand gegen Ungerechtigkeiten leisten und Utopien leben will.» Mit «aktiv sein und bleiben» hat sie einen Weg gefunden, genau das zu tun. Ohne auszubrennen.

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