Es ist schön, ein Kind zu sein. Oder?

Ist die Kindheit ein Mangelzustand oder ein verlorenes Paradies: Unser Philosophie-Kolumnist wägt zwischen zwei philosophischen Positionen ab.

Illustration für die Philo Kolumne
(Bild: Silja Elsener)

Seit ich Vater bin, suche ich Orte auf, die ich früher um jeden Preis gemieden habe. Die vielen Spielplätze im Quartier, den Zirkus auf der Allmend, das Dählhölzli. Ich sehe Kinder und denke darüber nach, was es bedeutet, ein Kind zu sein. 

Bei meinen eigenen Kindern versuche ich solche distanzierenden Reflexionen zu vermeiden. Klettert aber ein fremdes Kind unbeholfen die Treppe zur Rutschbahn rauf, denke ich sofort: Wie unbeholfen. Und schon dieses banale Urteil enthält die Vorstellung, dass das nicht immer so bleiben wird, dass die Unbeholfenheit eine vorübergehende ist, dass das Ziel darin besteht, die Treppe einmal ohne Mühe besteigen zu können. Aus dieser Perspektive ist die Kindheit primär ein Mangelzustand. 

Andererseits sind die Spielfreude und Begeisterung von Kindern – die ineinander klatschenden Hände beim Anblick eines auftauchenden Seehundes – manchmal so ansteckend, dass der Gedanke an einen Mangelzustand völlig fernliegend erscheint. Ich kann dann nicht umhin zu denken, dass Kinder es eigentlich besser haben als wir Erwachsenen mit unseren To-Do-Listen, unseren Zoom-Meetings und Zukunftssorgen. Von dieser Warte betrachtet ist die Kindheit eher ein verlorenes Paradies.

Diese beiden Perspektiven entsprechen Positionen, die in der philosophischen Debatte um Kindheit vertreten werden. Gemäss einer historisch dominanten und auch heute noch vertretenen Ansicht stellt die Kindheit lediglich eine Art Vorbereitungsphase auf das eigentliche Leben als erwachsene Person dar. Dieser Auffassung zufolge ist sie etwas, das es zu überwinden gilt, um in den eigentlich wertvollen Zustand des Erwachsenenseins zu gelangen. 

Wer baut den Duplo-Turm fertig?

Was ist das Wertvolle am Erwachsensein? Man schaue sich etwa an, wie Kleinkinder Pläne verfolgen: Der Duplo-Turm ist oft vergessen, noch bevor die ersten zwei Steine zusammengesteckt wurden. Erwachsene können einen solchen Turm fertig bauen, wenn sie es sich denn vornehmen. Oder sie nehmen sich vor, Tomaten zu pflanzen, Pizza zu backen, ein Studium abzuschliessen, eine Familie zu gründen oder einen Roman zu schreiben. Kinder sind – je nach Phase der Kindheit natürlich in unterschiedlichem Ausmass – unfähig, Ziele zu erreichen, die über den Moment hinausgehen. Ja, sie können sich oft noch nicht einmal solche Ziele setzen, weil es ihnen an der Fähigkeit mangelt, sich Zustände vorzustellen, die in zwei Monaten, zwei Wochen oder auch nur in zwei Tagen vorliegen könnten. Geht es um die Orientierung an komplexen Zielen, sind Kinder also miserabel ausgestattet. Und das ist nur eine Facette davon, wie Kindheit als eine existentielle Bredouille verstanden werden kann, aus der man möglichst schnell rauskommen sollte.

Die Reaktion auf diese Sicht der Dinge sollte den meisten von uns auf der Zunge liegen: Kinder können eben andere Dinge sehr gut, und manche davon sogar besser als Erwachsene. Vertreter*innen positiver Kindheitsauffassungen machen entsprechend geltend, dass es bestimmte Werte oder Güter gibt, die ausschliesslich oder besonders gut in der Kindheit realisiert werden können. Es ist atemberaubend zu beobachten, wie selbstvergessen Kinder in einem Spiel aufgehen können, wie sie sich ganze Nachmittage lang und unter Einsatz einfachster Requisiten vorstellen können, sie seien Zauberinnen oder Gemüseverkäufer. Auf ähnliche Weise ist die Aufmerksamkeit, die sie im Naturkundemuseum oder bei einem Ausflug in die Berge kleinsten Details einer Pflanze oder eines ausgestopften Bernhardiners schenken, aus der Perspektive eines Erwachsenen oft einfach nur beneidenswert. 

Es ist atemberaubend zu beobachten, wie Kinder sich ganze Nachmittage lang und unter Einsatz einfachster Requisiten vorstellen können, sie seien Zauberinnen oder Gemüseverkäufer.

Kinder erleben nicht nur die Natur unmittelbarer, sie scheinen die einfachsten Sinneseindrücke – den Geruch einer frisch gestrichenen Bank oder den Klang einer angeschlagenen Gitarrensaite – direkter und intensiver zu erfahren. Sie gehen mit anderen Menschen ohne Hintergedanken um, und haben dadurch, dass sie sich nicht verstellen können, eine eigentümliche Grazie: Es ist nahezu unmöglich, Kindern gegenüber Fremdscham zu empfinden, egal ob sie singen, tanzen oder versuchen, einen Witz zu erzählen. Die Beziehungen, die Kinder mit anderen Menschen führen, sind im besten Fall von Nähe und Vertrauen geprägt. Ihre Zukunft ist völlig offen. Sie müssen sich zu kaum etwas entscheiden. Sie müssen sich auf nichts festlegen. Sie müssen keine Konsequenzen befürchten. Sie können kreativ und sorgenfrei sein. Gibt es etwas Besseres, als Kind zu sein?

Mit dieser Frage soll selbstverständlich nicht nahegelegt werden, dass es Kindern nie schlecht gehen kann. Zu den Unerträglichkeiten der Welt, in der wir leben, gehört auch die Tatsache, dass viele Kinder unter schlimmsten Bedingungen aufwachsen müssen und Opfer verschiedener Formen von Missbrauch sind. Wer eine positive Kindheitskonzeption vertritt, wird das gar nicht bestreiten wollen. Gemeint ist eher, dass – gegeben ein bestimmtes Mindestmass an Wohlergehen – der Kindheit als Lebensphase ein positiver Wert zukommt, so dass es nicht zu rechtfertigen ist, Kinder früher als nötig zu zwingen, diesen Zustand zu verlassen. 

Nicht nur rechnen, auch spielen

An dieser Stelle sieht man sehr gut, was der eigentliche Witz an der Opposition zwischen positiven und negativen Kindheitsauffassungen ist: Man kann nicht verhindern, dass es die Kindheit als Lebensphase gibt, und insofern mag die Frage nach ihrem Wert müssig erscheinen. Andererseits haben die Entscheidungen von Eltern, ebenso wie die Erziehungskonzepte in Kindergärten und Schulen einen direkten Einfluss darauf, wie schnell der Übergang von der Kindheit zum Erwachsenensein vonstatten geht. Über Jahrhunderte hat das Ziel in unserer Gesellschaft darin bestanden, Kindern möglichst schnell Dinge wie Lesen, Schreiben oder Rechnen beizubringen, sie zur Genauigkeit im Arbeiten, zu Disziplin und Verantwortung zu erziehen. Hinter diesen Bemühungen stand die Vorstellung, die der negativen Kindheitskonzeption entspricht – dass die Kindheit einen Mangelzustand darstellt, der behoben werden sollte.

Glücklicherweise haben wir uns heute, auch dank verschiedener reformpädagogischer Anstrengungen, von solchen Vorstellungen entfernt. Ich vermute, dass die meisten Menschen, mit denen ich täglich zu tun habe, eher der positiven Kindheitsauffassung anhängen und etwa davon ausgehen, dass Kinder hinreichend viel Zeit zum Spielen benötigen und dass zu einer gelungenen Kindheit nicht nur eine erfolgreiche Schullaufbahn gehört. 

Gleichzeitig ist die negative Kindheitskonzeption nur dann problematisch, wenn man sie zu absolut versteht. Anders gesagt: Es gibt durchaus plausible Aspekte an der Auffassung, dass die Kindheit in manchen Hinsichten auch einen Mangel darstellt. Man stelle sich etwa vor, wie man sich angesichts der Nachricht fühlen würde, dass man sich innerhalb der nächsten zwei Wochen in den kognitiven Zustand eines fünfjährigen Kindes zurückentwickeln wird. Es ist nicht nur die bereits angesprochene Fähigkeit, Pläne umzusetzen, die einem in diesem Szenario abhandenkommen würde. Kinder können nur sehr schlecht ihre Emotionen regulieren. Und sie sind nicht sehr gut darin, Risiken und Wahrscheinlichkeiten abschätzen. Das alles führt dazu, dass sie oft gefährlichen Quatsch machen würden, wenn man sie liesse, so dass Erwachsene die moralische Pflicht haben, wichtige Entscheidungen für sie zu fällen. Als Zukunftsvision würde uns all das, insbesondere die drohende Wiederbevormundung, ein Gräuel sein, und auch Kinder sind bekanntlich alles andere als zufrieden mit einem Zustand, in dem ihnen ständig gesagt wird, was sie tun und lassen sollen.

Ewige Kindheit, endlose Abhängigkeit

Es ergibt also Sinn, Kinder zu Erwachsenen zu erziehen. Eine ewige Kindheit würde eben auch endlose Abhängigkeit bedeuten, und die Autonomie, die mit dem Erwachsenensein einhergeht, lässt sich durch keine Kindheitsgüter aufwiegen. Positive Kindheitskonzeptionen zeigen uns aber, dass der Übergang von der einen Phase in die andere nicht im Maximaltempo erfolgen sollte. Das heisst aber zunächst auch nicht mehr, als das wir darüber nachdenken müssen, welches Tempo denn das richtige wäre, und auf welche Weise wir Spiel und Strenge mischen sollten. Sie zeigen uns aber noch etwas anderes, etwas, das eher mit uns Erwachsenen zu tun hat. Manche der schönen Aspekte am Kindsein sind auch Erwachsenen zugänglich, und doch können wir sehr leicht diesen Zugang verlieren. Das passiert, wenn wir uns einseitig an typischen Erwachsenenwerten orientieren. Oder wenn uns die sozial-ökonomischen Umstände, in denen wir leben, nach und nach bestimmter Fähigkeiten berauben. 

Erwachsene können auch sehr gut im Spiel aufgehen und intensive Naturerlebnisse haben. Sie können auch sehr gut staunen und aufmerksam sein. Aber es ist alles andere als selbstverständlich, dass sie das auch tun. Ebenso wie bei einer guten Kindheit geht es auch bei einem guten Leben insgesamt darum, eine bestimmte Balance zu finden. Das ist gar nicht so einfach, aber manchmal kann ein Besuch im Zirkus oder im Tierpark, mit oder ohne Kind, diesbezüglich Wunder wirken.

Christian Budnik posiert im Büro der Hauptstadt für ein Portrait, fotografiert am 03. März 2022 in Bern.
Zur Person

Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit 15 Jahren in Bern.

tracking pixel

Das könnte dich auch interessieren

Diskussion

Unsere Etikette
Benjamin Seewer
15. Juni 2022 um 11:00

Sälü Chrigu

Schöner Artikel, danke!

Das Streben nach dem (kindlichen) Leben im Moment ist ein idealisiertes Ziel vieler Erwachsenen; oft auch meins (-: Die Verantwortung macht uns aber dabei leider oft einen Strich durch die Rechnung und lässt den Moment nur selten rein und unschuldig erscheinen.

Christoph Bloch
09. Juni 2022 um 10:52

Vielen Dank, Herr Budnik. Sie bringen da vielleicht keine Gedanken, die mich durch Ihre Neuartigkeit und Kreativität in kindliches Staunen versetzen würden. Doch Sie fassen meine eigene Kindheitskonzeption wunderschön zusammen. Ich hätte es noch kürzer so versucht: Kindheit ist nicht positiv oder negativ - sie ist einfach. Sie hat traumhafte und schwere Seiten. Kinder sind nicht mehr oder weniger als Erwachsene, und nicht besser oder schlechter - sie sind einfach. Der gesunde junge Mensch entwickelt sich ganz von alleine aus der Kindheit hinaus, wenn wir ihm nur ein gutes Umfeld, bedingungslose Liebe und genug Raum für die Entwicklung bieten. Und in jedem Erwachsenen steckt auch noch das Kind, das er einmal war. Man sollte auch ihm etwas Raum geben.