Schwaches Parlament, starke Regierung
Die Fluktuation im Stadtrat ist hoch. Was sind die Folgen davon? Ein Verwaltungswissenschaftler erklärt.
Alle vier Jahre wählen die Stadtberner Stimmberechtigten ihr Parlament. Diesen November ist es wieder soweit. Kurz davor wird rund jeder zweite Stuhl im Rathaus von einer anderen Person besetzt sein als nach den letzten Wahlen. Will heissen: Die Hälfte der 80 Mitglieder ist aus dem Rat ausgeschieden und von einer anderen Person ersetzt worden.
Die hohe Fluktuation ist kein neues Phänomen. Sondern seit vielen Jahren eine Tatsache und immer wieder Thema im Rat selbst und in den Medien. Die «Hauptstadt» hat jüngst eine Podcast-Folge dazu publiziert. Co-Redaktionsleiterin Marina Bolzli erklärt darin die Gründe für die hohe Fluktuation und zählt Massnahmen auf, mit denen sich die Rate senken lassen könnte.
Doch was sind die Folgen, wenn die Mitglieder eines Parlaments so oft wechseln? Und ist die Rate – im Vergleich mit anderen Parlamenten – tatsächlich aussergewöhnlich hoch?
Diese Fragen beantworten kann Ursin Fetz. Er ist Professor und Rechtsanwalt und leitet das Institut für Verwaltungsmanagement an der Fachhochschule Graubünden. Ausserdem ist er Bürgerpräsident von Domat/Ems (GR), wo er zuvor viele Jahre Mitglied im Parlament war.
«Die Rate ist sehr hoch. Doch das Phänomen ist verbreitet», sagt Fetz. Drei von vier Gemeinden mit Parlamenten und über 20’000 Einwohner*innen sind der Meinung, dass es zu viele Rücktritte gebe während der Legislatur. So steht es im Gemeindemonitoring, das die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften alle zehn Jahre durchführt. Die aktuelle Ausgabe stammt von 2017.
Darin zeigt sich, dass kleinere Gemeinden weniger stark betroffen sind. Von den Parlamentsgemeinden mit maximal 5’000 Einwohner*innen geben nur ein Viertel an, dass es zu viele Rücktritte gebe während der Legislatur.
Diesen Unterschied zwischen grossen und kleinen Gemeinden erklärt Ursin Fetz mit drei Gründen:
Die Arbeitsbelastung des Parlaments steige mit der Grösse einer Gemeinde an. Ebenso die Komplexität und Tragweite der Geschäfte. Und drittens könne auch Frust eine Rolle spielen, wenn man merke, als einzelnes Ratsmitglied weniger als erwartet bewegen zu können. Insbesondere, weil man sich oft der Fraktionsmeinung anzuschliessen habe.
«Balance of Powers»
Ursin Fetz ist klar der Meinung, dass eine hohe Fluktuationsrate einem Parlament mehr schade als nutze.
Zentral ist für ihn das, was er «Balance of Powers» nennt: «Es schwächt die Stellung des Parlaments gegenüber der Regierung mit der Verwaltung im Rücken, wenn es zu viele Wechsel gibt.» Ratsmitglieder würden erst im Laufe der Jahre ihre Dossierfestigkeit aufbauen. Was es ihnen erleichtert, der Regierung kritische Fragen zu ihren Geschäften zu stellen. «Die Regierung ist stärker gefordert, wenn sie damit rechnen muss, dass erfahrene Parlamentarier*innen Fragen stellen», meint Fetz.
Die Regierung habe einen Vorsprung gegenüber dem Parlament, weil sie auf das Wissen der Verwaltung zurückgreifen kann. Dort sind viele Fachleute angestellt, die – als bezahlte Arbeit – die Geschäfte vorbereiten. Anders das Parlament: Die Mitglieder des Berner Stadtrats erhalten eine Entschädigung für Rats- und Kommissionssitzungen. Wenn sie sich in Themen einlesen oder Vorstösse schreiben, erhalten sie kein zusätzliches Geld dafür. Ein Stadtratsmandat entspricht zirka 20 bis 30 Stellenprozenten, gegen oben sei es offen, wie mehrere Mitglieder gegenüber der «Hauptstadt» berichtet haben.
In der politikwissenschaftlichen Literatur wird eine Fluktuationsrate von 20 bis 30 Prozent als ideal erachtet. So stimme die Balance zwischen Leuten mit grossem Erfahrungswissen und Leuten, die frische Ideen reinbringen. Ursin Fetz ist der Meinung, dass gewählte Volksvertreter/innen wenn möglich die ganze Legislatur erfüllen sollten. Dies sind sie auch dem Stimmvolk gegenüber schuldig. «Nach einer Legislatur treten nie sämtliche Bisherigen wieder an. Erst dann sollte die Erneuerung stattfinden.»
In den potenziell neuen Ideen, die mit neuen Mitgliedern in den Rat gelangen, sieht Fetz einen positiven Aspekt der grossen Fluktuation. Und auch, dass durch viele Wechsel viele verschiedene Personen Erfahrungen in der Politik sammeln können. «Aber die Nachteile überwiegen.»
Wie löst man das Problem?
Wie im Podcast der «Hauptstadt» zu hören ist, wird in Bern oft die fehlende Vereinbarkeit eines Stadtratsmandats mit Familie oder Beruf als Grund für die vielen Wechsel genannt. Darum schlägt der Gemeinderat vor, eine sogenannte Stellvertretungsregelung einzuführen. Wer mehrere Wochen oder Monate ausfällt, kann sich in dieser Zeit von einer anderen Person, voraussichtlich der bestklassierten auf der gleichen Liste, vertreten lassen. Wohl noch im Herbst findet eine Volksabstimmung zu diesem Vorschlag statt.
Domat/Ems, die Gemeinde von Ursin Fetz, hat soeben eine Stellvertretungsregelung eingeführt. Doch Fetz ist skeptisch: «Die Bevölkerung hat so kaum mehr den Überblick, wer gerade im Parlament sitzt.»
Sinnvoller fände Ursin Fetz, wenn das Ratssekretariat die Parlamentarier*innen stärker entlasten würde. «Es könnte zum Beispiel gewisse Recherchearbeiten übernehmen», meint er. Das Ratssekretariat ist zwar Teil der Verwaltung. Doch es ist in der Stadt Bern dem Büro des Stadtrates, das unter anderem aus der Stadtratspräsidentin und deren Vize besteht, unterstellt. Somit steht es nicht im Widerspruch zu Fetz’ Befürchtung, dass ein schwaches Parlament einer starken Verwaltung gegenübersteht.
Anfang Jahr hat Stadtratspräsidentin Valentina Achermann (SP) im Rat eine Umfrage durchgeführt, um Methoden zu finden, die Mitglieder länger im Amt zu halten. Die Ergebnisse werden im Sommer publiziert. Doch bereits jetzt zeigt sich, dass der von Ursin Fetz vorgeschlagene Weg – Entlastung durch das Sekretariat – in Bern gute Chancen haben könnte, wie Marina Bolzli im Podcast erklärt.
Auch wenn eine hohe Fluktuationsrate bedauerlich ist, sind Gemeindeparlamente grundsätzlich eine gute Sache – gerade für grosse Gemeinden, meint Ursin Fetz. Zudem führt die Kombination mit der Urnenabstimmung zu einer höheren Stimmbeteiligung. In der Stadt Bern liegt diese regelmässig deutlich über 50 Prozent. Gemeindeversammlungsgemeinden ohne Urnenabstimmung kommen auf durchschnittlich zirka fünf Prozent. Eine hohe Stimmbeteiligung sorge für eine höhere Repräsentativität der Entscheide, so Fetz. Für eine Demokratie sei das sehr wertvoll.