Mythos gerader Rücken?
Hat der gerade Rücken ausgedient? Dies ist eine der Fragen, welche die Forschenden des «Bern Movement Lab» aufwerfen. Die von ihnen gewonnenen Erkenntnisse könnten schon bald einige allgemeingültigen Glaubenssätze in der Unfallprävention und -behandlung infrage stellen.
Auf einem Tisch liegen 58 kleine, silbern reflektierende Bälle, sogenannte Reflektormarker. In einer Kiste daneben acht EMG-Sensoren und ihre Sender. Im Boden eingelassen sind zwei dreidimensionale Kraftmessplatten. Rund um die Platten angeordnet, nehmen 16 High-Speed-Kameras alles aus verschiedensten Perspektiven auf.
Was von innen für Biomechaniker*innen und andere Techniknerds aussieht wie ein Schlaraffenland, ist das «Bern Movement Lab» der Berner Fachhochschule (BFH). Es liegt beinahe versteckt in einem unscheinbaren Plattenbau in der Nähe des Inselplatzes. Wenn die Fenster des turnhallengrossen Raums geöffnet sind, hört man ab und zu das Rotorengeräusch eines Helikopters, der das Inselspital anfliegt; von Zeit zu Zeit lässt ein Zug den Boden beben.
«Die Vorbereitung eines Experiments kann schon mal bis zu zwei Stunden dauern», meint Christian Bangerter, Doktorand in der Abteilung Physiotherapie der BFH, während er von einem Forschungskollegen mit Reflektormarkern beklebt und anschliessend verkabelt wird. Die Dauer eines Experiments mit solch langer Vorbereitung? Etwa eine halbe Stunde.
Bangerter wird die Aufgabe haben, verschiedene Techniken zu nutzen, um eine mit Gewichten bestückte Kiste anzuheben. Ziel ist es, herauszufinden, wie die verschiedenen Hebetechniken sich auf die Belastung des Rückens auswirken.
Stimmt die weitverbreitete Meinung, dass das Heben aus der Hocke mit gestreckter Wirbelsäule Rückenschmerzen vorbeugen kann? Das ist eine der Forschungsfragen, welche die Forschenden im «Bern Movement Lab» beschäftigt.
Zu diesen Forschenden gehört Stefan Schmid. Er ist Leiter der Forschungsgruppe für Wirbelsäulen-Biomechanik an der BFH und Privatdozent an der Universität Basel. Alles was mit der Wirbelsäule zu tun hat, ist sein Fachgebiet.
Inzwischen ist Bangerters Rücken vollgeklebt mit den Reflektormarkern. Diese sind exakt nach Checkliste auf markanten Punkten des menschlichen Skeletts angebracht. 58 Stück in diesem Fall. Sie reflektieren Infrarotlicht zurück in die 16 High-Speed-Kameras, welche rundherum im Raum verteilt sind und Bangerters Bewegungen beim Heben der Kiste von allen Seiten aufnehmen werden. Das mit 200 Bildern pro Sekunde.
Ein bisschen Hollywood am Inselplatz
«Die Technik ist eigentlich dieselbe, die bei Filmen oder Videospielen verwendet wird, nur was wir danach mit den Daten machen, ist etwas anders», stellt Stefan Schmid fest.
«Motion Tracking» nennt sich das Verfahren, welches benutzt wird, um übernatürliche Gestalten in Filmen wie «Herr der Ringe» oder «Iron Man» möglichst natürlich aussehen zu lassen. Dazu werden ihre Bewegungen von echten Menschen ausgeführt und auf ein computeranimiertes Modell übertragen. So auch im «Bern Movement Lab», nur dass hier schlussendlich nicht Thor seinen Hammer anhebt, sondern Christian Bangerter eine Kiste. Und die Daten daraus fliessen in ein möglichst genaues Modell des menschlichen Bewegungsapparats.
Auf Bangerters Körper sind zudem acht EMG-Sensoren angebracht. Kabel führen von den kleinen blau blinkenden Sendern zu den Elektroden, die ein bisschen wie Pflaster aussehen. EMG steht für Elektromyografie. Was kompliziert tönt, bedeutet, dass die winzig kleinen elektrischen Impulse, welche seine Rücken- und Bauchmuskulatur aktivieren, gemessen und erfasst werden.
Als alles fertig verkabelt ist, begibt sich Christian Bangerter in den Bereich, auf den die Kameras gerichtet sind. Gleichzeitig erscheinen auf dem Computerbildschirm viele kleine Punkte, welche Bangerters Bewegungen nachahmen. Würde man die Punkte verbinden, so hätte man tatsächlich ein rudimentäres Abbild eines menschlichen Körpers. Schmid tippt etwas in den Computer und auf dem Bildschirm erscheinen die Daten der EMG-Sensoren. Bangerter spannt einmal die Bauchmuskeln an, die Linie auf dem Bildschirm schlägt aus. Die Muskelimpulse werden erfasst. Alles funktioniert.
Als Bangerter auf eine der zwei im Boden versenkten Platten steht, erscheint auch noch ein roter Pfeil auf dem Bildschirm. Der Pfeil zeigt an, mit welchen Kräften Bangerter auf die Platte einwirkt. Das in allen drei Richtungsdimensionen.
Nun geht das Experiment richtig los, Bangerter hebt die Kiste mit verschiedenen Techniken an. Fünfmal frei nach Intuition, fünfmal aus der Hocke heraus mit möglichst geradem Rücken, fünfmal mit rundem Rücken.
Nach der Aufzeichnung folgt die Auswertung der Daten. Ein paar Gigabyte kommen da in wenigen Minuten zusammen. Alle Punkte müssen den richtigen Körperteilen und Knochen zugewiesen werden. Mithilfe der Bewegungsdaten aus dem Videomaterial und den Kraftmessungen der Platten können die Belastungen, welche auf die verschiedenen Gelenke wirken, errechnet werden. Dies reicht aber noch nicht für ein realistisches Bild, denn aufgrund der Kräfte, die die Muskeln im Körper entwickeln, werden die Gelenke zusätzlich belastet. Diese Belastung lässt sich von aussen nicht messen. Sie wird von einem weiteren Computermodell errechnet, welches Schmids Forschungsgruppe mitentwickelt hat.
«Es gibt aus biomechanischer Perspektive keinen Grund, warum man eine Hebe-Technik der anderen vorziehen sollte»
Stefan Schmid, Forscher im «Bern Movement Lab»
Die Daten, die Schmids Team bis jetzt erhoben hat, stellen eine allgemeingültige Empfehlung infrage. Seit Jahren wird empfohlen, Lasten mit geradem Rücken zu heben.
«Es gibt aus biomechanischer Perspektive keinen Grund, warum man eine Hebe-Technik der anderen vorziehen sollte», fasst Stefan Schmid zusammen. Dieses Ergebnis wurde im November letzten Jahres von Stefan Schmids Team in einem wissenschaftlichen Artikel publiziert.
Es gehe nicht darum, bisherige Forschung zu kritisieren: «Vor 25 Jahren wäre eine solch detaillierte Messung noch nicht möglich gewesen», ordnet Schmid ein. «Damals hätte Christian schon nur einen Rucksack voll Technik für die EMG-Sensoren angehabt und die Reflektoren am Rücken somit verdeckt.» Erst jetzt sind solch ausführliche biomechanische Studien überhaupt möglich. «Es ist Zeit zum Umdenken, die Empfehlungen gehören meiner Meinung nach angepasst», meint Schmid.
Die «Hauptstadt» hat bei der SUVA nachgefragt, der in der Schweiz wohl prominentesten Herausgeberin von Empfehlungen zur Unfallprävention. Der SUVA seien die Ergebnisse der Studie bereits bekannt, schreibt ein Mediensprecher. Auch die SUVA sage, dass es keine einzig richtige Hebetechnik gebe. Dennoch würde sie ihre Empfehlungen beibehalten, da insbesondere bei der Kombination von schweren Lasten und ungünstiger Körperhaltung beim Heben gemäss weiterer Studien ein erhöhtes Verletzungsrisiko bestehe.
Eine zufällige Zusammenarbeit
Das «Bern Movement Lab» arbeitet unter anderem mit der Firma «Ortho Team» zusammen. Dies habe auch zu der Entstehung des Bewegungslabors beigetragen, erklärt Schmid. «Das Ortho Team hat sich vor knapp zwölf Jahren ein Infrarot-Kamerasystem gekauft und war auf der Suche nach einem geeigneten Raum.» An einem Apéro sei man eher zufällig aufeinandergestossen. «Wir von der BFH hatten einen geeigneten Raum, dafür noch keine Kameras.»
Und so begann die Geschichte des «Bern Movement Lab.» Gestartet sei das Ganze mit sechs Kameras, über die Jahre seien zehn weitere hinzugekommen.
Inzwischen kommt primär die BFH für die Infrastruktur des «Bern Movement Lab» auf. Neu hinzugkommen sind externe Zusammenarbeiten mit dem Universitäts-Kinderspital beider Basel in Form von Dienstleistungen für Patient*innen, welche auf Messungen aus dem Bewegungslabor angewiesen sind. So ist das «Bern Movement Lab» täglich in Verwendung.
Forschungsprojekte werden vor allem durch den Schweizerischen Nationalfonds (SNF) oder private Stiftungen finanziert. «Dadurch sind wir sehr frei in unserer Arbeit», erklärt Stefan Schmid. «Eine weitere Möglichkeit, wie wir Kapazitäten für Forschungsprojekte schaffen können, ist durch das Betreuen von Masterarbeiten», führt Heiner Baur aus.
Baur ist Leiter des Physiotherapie-Forschungs-Teams der BFH. Sein Forschungsgebiet sind neuromuskuläre Abläufe in den unteren Extremitäten. Neuromuskulär bedeutet «die Nerven und die Muskeln betreffend.»
«Neuromuskuläre Abläufe finden bei jeder Bewegung statt, sehr eindrücklich bewusst wird einem das, wenn wir im Dunkeln eine Treppe runtergehen und unerwarteterweise eine Stufe mehr kommt», erklärt Baur. Wenn dabei alles gut läuft, reagiert die Muskulatur auf den äusseren Einfluss und stabilisiert die Gelenke ausreichend, wenn nicht, kann es zu Verletzungen kommen.
Zurzeit beschäftigt sich Baur mit der Frage, warum nach einem Kreuzbandriss oft wieder Folgeverletzungen auftreten. Er sagt: «Ein durchschnittlicher Kreuzbandriss wird für etwa sechs bis zwölf Monate therapiert.» In der Praxis stelle man fest, dass oft nicht genügend lange und konsequent therapiert werde. Bei Profisportler*innen würde die Therapie länger dauern, doch auch da liessen sich Defizite feststellen. Dies vor allem in der stabilisierenden Muskulatur im Knie. «Deshalb denke ich, dass in der Physiotherapie in Zukunft ein noch grösserer Fokus auf neuromuskulären Trainingsformen liegen muss», stellt Baur fest.
Kopf oder Körper?
Heiner Baur zeigt im Gespräch hinüber zu Schmid: «Eigentlich liegen unsere Forschungsfelder nicht weit auseinander, denn im Grunde befassen wir uns mit den Auswirkungen von Muskelspannungen auf Gelenke und deren Stabilität während Bewegungsabläufen.»
Er führt weiter aus: «In allen Feldern versuchen wir biomechanische und neuromuskuläre Perspektiven hineinzubringen – diese haben vielerorts vorher noch nicht ausreichend existiert.» Die beiden Forscher nennen ihre Arbeit auch «angewandte Grundlagenforschung».
«Es geht nicht darum, am Status quo einfach nur Kritik zu üben», stellt Schmid fest. Viele Untersuchungen seien bis vor kurzer Zeit technologisch schlicht nicht möglich gewesen. Weiter erklärt er: «Das Wichtigste ist ja, dass den Patientinnen und Patienten geholfen wird.» Baur nickt zustimmend und fasst zusammen: «Grundsätzlich versuchen wir die biomechanischen Erklärungen für praktizierte Behandlungs- und Präventionsmethoden zu finden.» Falls etwas keine biomechanische Erklärung habe, dann heisse das nicht sofort, dass es gar nicht funktioniere, sondern dass vielleicht noch andere Faktoren, beispielsweise psychologischer Art, mit eine Rolle spielen.
Wenn man diese Feststellung salopp zusammenfassen möchte, dann geht es um die Frage, was sich mit Abläufen im Bewegungsapparat erklären lässt und was mit Abläufen im Kopf.