Freikörperkultur – «Hauptstadt»-Brief #345
Donnerstag, 25. Juli – die Themen: Ausstellung mit Berner Beteiligung; Sommerserie; Gemeindewahlen; Güsche-Bilanz; Prüfungsstau; Pride und Werbeverbot.
Meine Ferien habe ich in Marseille verbracht – und bin dort sogar einem Stück Bern begegnet. Genauer gesagt einem Ausstellungsstück, das die Schweizerische Nationalbibliothek in Bern dem Museum Mucem für seine Schau «Paradis naturistes»geliehen hat. Das Werbeplakat für Ferien im waadtländischen Leysin aus dem Jahr 1930 zeigt eine Frau im Sprung. Versehen ist die Illustration mit dem Schriftzug «Air et soleil», also Luft und Sonne, die den Gästen auf 1450 Metern über Meer neue Kraft und Gesundheit spenden sollten. Ebenfalls en vogue war zu dieser Zeit der Naturismus, der für einen unbekleideten Freiheitsdrang und die Suche nach einem ungezwungenen Leben fernab der Industrialisierung stand. Die Historikerin Daniela Vaj hat sich mit dem Werbeplakat befasst und geht davon aus, dass die dargestellten Bewegungen der Frau vom Naturismus und der Eurythmie Rudolf Steiners beeinflusst sind.
Wobei wir wieder bei der Ausstellung in Marseille wären. «Paradis naturistes» erinnert daran, dass sich Anfang des 20. Jahrhunderts in Frankreich Naturist*innen-Gruppierungen bildeten, die Vorbilder in der Schweiz und Deutschland hatten. Deren Anhänger*innen verfolgten häufig noch andere – damals avantgardistische – Ansätze wie Vegetarismus, Anarchismus, Antimilitarismus und Umweltschutz. Der Naturismus war damit auch eine Art Gegenbewegung zur damaligen Industrialisierung und Urbanisierung – und ist uns damit näher, als man auf den ersten Blick meinen könnte.
Ebenfalls aktuell ist die Politisierung und Instrumentalisierung des weiblichen Körpers – auch diesen Aspekt beleuchtet die Ausstellung und macht sie damit umso sehenswerter. Alle, die ihren Sonnenhunger – bekleidet oder unbekleidet – am französischen Mittelmeer stillen, sei also ein Besuch im Mucem ans Herz gelegt. «Paradis naturistes» ist noch bis zum 9. Dezember zu sehen.
Und jetzt noch zu anderen Themen des Tages:
- Sommer-Serie: Die «Hauptstadt» macht Sommerpause. Wir publizieren während drei Wochen abgesehen vom wöchentlichen Brief, den du gerade liest, keine neuen Artikel. Trotzdem liefern wir dir Lesestoff. Denn vielleicht geht es dir wie uns: In der Hektik des Alltags fehlt oft die Zeit, alles zu lesen, was sich lohnen würde. Deshalb empfehlen dir Redaktionsmitglieder ihre persönlichen Lieblingstexte aus dem vergangenen «Hauptstadt»-Jahr. Heute denkt Flavia von Gunten über das Trauern nach.
- Gemeindewahlen I: Thomas Iten (parteilos) bleibt Ostermundigen als Gemeindepräsident erhalten. Es sei nur ein Wahlvorschlag bei der Gemeinde eingegangen, weshalb der Gemeinderat Iten in der Sitzung vom Dienstag in stiller Wahl im Amt bestätigt habe. Dies teilte die Gemeinde Ostermundigen gestern mit. Die kommende Amtsperiode Itens – seine vierte als Gemeindepräsident – dauert vom 1. Januar 2025 bis zum 31. Dezember 2028. Gemäss der Nachrichtenagentur Keystone-SDA haben sich auch in Worb für die Gemeindewahlen vom 22. September keine Herausforderer*innen für den amtierenden Gemeindepräsidenten gemeldet. Somit wird auch der Worber Gemeindepräsident, Niklaus Gfeller, aller Voraussicht nach eine weitere Amtszeit antreten. Der Gemeinderat werde Gfeller in stiller Wahl als gewählt erklären, teilte die Gemeindeschreiberei am Dienstag mit. Der EVP-Politiker ist seit 2009 im Amt und geht damit seiner fünften Amtszeit entgegen.
- Gemeindewahlen II: Bei den Gemeindewahlen in Ostermundigen vom 22. September schicken die Grünen Adrian Tanner und Kathrin Ernst ins Rennen um die Regierungssitze. Dies teilte die Partei diese Woche mit. Die Grünen streben eine Rückkehr in den Gemeinderat an, in dem sie von 2006 bis 2016 mit Ursula Lüthy vertreten waren. Als grosse Herausforderungen für die kommende Legislatur sehen sie die Themen Biodiversität, Klima und sozialen Zusammenhalt. Die Ostermundiger SP hatte ihre Kandidat*innen bereits Ende Juni bekanntgegeben – ebenfalls bekannt ist, dass Die Mitte, EVP und FDP mit einer gemeinsamen Gemeinderats-Liste «Zäme für Mundige» antreten werden.
- Gurtenfestival: Rund 73'000 Menschen sollen laut den Veranstalter*innen dieses Jahr das Gurtenfestival besucht haben. Freitag und Samstag waren ausverkauft. Die Berner Band Patent Ochsner – sie spielte am Freitag – lockte viele zur gleichen Zeit auf den «Güsche», was zu einem grossen Stau an der Bergstation führte. «Hauptstadt»-Redaktorin und Musikexpertin Andrea von Däniken war vor Ort. Ihre Highlights: Nemo lieferte eine energetisierende Show; Leila brachte als Überraschungsact Jeans for Jesus mit auf die Bühne und war am Schluss so berührt vom Publikum, dass sie einige Tränchen verdrückt hat. Aufgefallen ist Andrea von Däniken ausserdem das Awareness-Programm. Nicht nur das Festival selbst wies darauf hin, sondern auch einige Künstler*innen. Alles in allem: Ein friedliches Festival mit tollen Entdeckungen und beeindruckenden Shows.
- Kundgebung: In der kommenden Woche findet die Bern Pride statt. Am 3. August wird es sowohl einen Demonstrationszug durch die Stadt als auch ein Festival auf dem Bundesplatz geben, um den Anliegen der LGBTIQ-Community Gehör zu verschaffen. In diesem Jahr fordern die Veranstalter*innen unter anderem mehr queere Saferspaces, eine Erweiterung der Antirassismus-Strafnorm und einen dritten Geschlechtseintrag. In Bern findet eine Pride-Veranstaltung 2024 erst zum vierten Mal statt.
- Motorfahrzeugkontrolle: Mehr als 45‘000 Fahrzeuge sind derzeit «ungeprüft» auf den Strassen im Kanton Bern unterwegs. Das zeigt ein Artikel von Bund/BZ (Abo). Laut dem Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons Bern beträgt der sogenannte Prüfrückstand per Ende Juni 45’664 Fahrzeuge. Das entspricht rund 5,5 Prozent aller im Kanton immatrikulierten Autos. Schweizweit ist der Prüfrückstand bei amtlichen Prüfungen sogar noch höher: Aktuell beträgt er 8,3 Prozent. Verantwortlich sind unter anderem Personalengpässe und Corona-Altlasten.
- Werbeverbot: Im Februar hat der Stadtrat denkbar knapp eine Motion überwiesen, die ein Werbeverbot im Aussenraum vorsieht. Derzeit erarbeitet der Gemeinderat einen Vorschlag, wie die Umsetzung aussehen könnte. Die Frage, wie man mit Plakatwerbung im öffentlichen Raum umgehen soll, beschäftigt aber nicht nur Bern. Die Genfer Gemeinde Vernier beispielsweise kennt schon ein Verbot kommerzieller Plakatwerbung. Für dieses Verbot hat die Gemeinde nun auch Rückendeckung vom Bundesgericht bekommen, wie aus einem Artikel der NZZ hervorgeht. Für das Bundesgericht ist das Verbot ein zulässiger Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit.
PS: Strassenzeitungen können Leben verändern. Oder? Die Ausstellung im Kornhausforum blickt auf die vergangenen 30 Jahre von Strassenzeitungen zurück und beleuchtet deren aktuelle Herausforderungen.