Geld und Geist, made in Bern (II)
Die Burgergemeinde ist vermögend und freigebig, weil sie ihren Bodenbesitz weitsichtig bewirtschaftet. Heisst das auch, dass sie die Stadtentwicklung in ihrem Sinn beeinflusst? Die Bernburger-Saga, Teil II.
Kürzlich hat die Stadt Bern die neue 50-Meter-Schwimmhalle im Neufeld in Betrieb genommen. Sie steht auf dem Boden der Burgergemeinde, den diese der Stadt gegen Zins im Baurecht abgibt.
Vor einer Woche erlebten die Young Boys einen denkwürdigen Champions-League-Fussball-Abend gegen Manchester City im Wankdorfstadion. Das Stadion befindet sich auf dem Boden der Burgergemeinde, den diese den drei Investoren Coop, Suva und Axa Winterthur bis 2081 im Baurecht überlassen hat.
Auf dem Messegelände der Berner Allmend wird derzeit die neue Festhalle gebaut. Sie entsteht auf einem Grundstück der Burgergemeinde. Die Messeveranstalterin Bernexpo, Erbauerin der Festhalle, ist eine der grössten Baurechtsnehmerinnen der Burgergemeinde.
In den nächsten Jahren soll westlich des Freibads Weyermannshaus ein neues Quartier mit 1000 Wohnungen entstehen. Der Boden, auf dem diese Stadtverdichtung stattfinden wird, gehört der Burgergemeinde und der Post.
Wachstumsgewinnerin
Diese vier Beispiele zeigen: Die Burgergemeinde ist als Bodenbesitzerin eine zentrale Playerin der Berner Stadtentwicklung. Omnipräsent. Doch oft ohne dass die breite Öffentlichkeit ihre Bedeutung wahrnimmt.
Kaum ein grösseres Bauvorhaben, in das die Burgergemeinde nicht involviert ist. Allerdings auch kaum eine Kulturinstitution, eine Kunstproduktion oder eine Buchpublikation, die ohne Unterstützung der Burgergemeinde entsteht.
Das ist die Doppelrolle, die sich die Burgergemeinde in den letzten 150 Jahren auf den Leib geschrieben hat.
Man kann Bern nicht verstehen, wenn man die Rolle der Burgergemeinde nicht versteht. Mit ihren 18’000 Mitgliedern ist sie eine der grössten und wohlhabendsten Burgergemeinden der Schweiz, die ein Drittel des städtischen Bodens besitzt. Und das ausgerechnet in der linken Stadt Bern, der sie jedoch als grosszügige Kulturmäzenin beisteht. Wie entstand die Burgergemeinde und wie wurde sie reich? Wie funktioniert sie? Wie viel Macht übt sie aus? Und: Was wäre Bern ohne die Burgergemeinde?
Diese Fragen arbeitet die «Hauptstadt» in den nächsten Wochen aus diversen Blickwinkeln in einem mehrteiligen Schwerpunkt auf. Dieser erste Text über die burgerliche Entstehungs-Saga ist der Auftakt dazu. Zudem hast du Gelegenheit, am «Hauptsachen»-Talk vom 7. November im Progr (19.30 Uhr) live über die Burgergemeinde mitzudiskutieren – mit Burgerrats-Präsident Bruno Wild und SP-Stadtrat Halua Pinto de Magalhães, der die Burgergemeinde in Frage stellt.
Ausgangspunkt der heutigen Schlüsselfunktion der Burgergemeinde für die Stadtentwicklung ist das Jahr 1852, als sie mit der Einwohnergemeinde im Ausscheidungsvertrag den Besitz aufteilt. Die Burger überlassen der Stadt die meisten zu unterhaltenden Gebäude und das Recht, Steuern zu erheben. Selber behalten sie Wälder sowie Äcker und Felder ausserhalb der Aareschleife in ihrem Exklusivbesitz. Zudem übernehmen sie soziale Aufgaben wie die Waisenhäuser.
Damals konzentriert sich der historische städtische Baukörper zwar noch auf die Aarehalbinsel. Aber schon kurze Zeit später setzt ein starkes Bevölkerungswachstum ein. Die Stadt platzt aus allen Nähten und wächst hinaus auf die burgerlichen Felder. Beundenfeld, Kirchenfeld, Murifeld werden bebaut – der Wert der ehemaligen Kartoffeläcker schiesst in ungeahnte Höhen. Und die Burgergemeinde trägt dazu bei, dass diese Entwicklung in für sie günstige Bahnen gelenkt wird.
Lukrative Bodenrente
Wenn man es ökonomisch ausdrücken will: Die Burgergemeinde schöpft die Bodenrente ab, die ihr die Nutzer*innen dafür entrichten, dass sie auf Burger-Grundstücken arbeiten, wohnen oder die Freizeit verbringen.
Darauf basiert das bis heute wichtigste Standbein des burgerlichen Geschäftsmodells: Den lukrativen Grundbesitz so zu bewirtschaften, dass langfristig stabile Erträge anfallen. Diese Gewinne lässt sie gemäss der Kantonsverfassung, der sie als Gemeinde untersteht, «zum Wohl der Allgemeinheit» an die Öffentlichkeit zurückfliessen.
Aktuell besitzt die Burgergemeinde – inklusive Wäldern – gut 30 Prozent des Bodens in der Stadt Bern. Sie ist die grösste Grundbesitzerin. Mit von der Burgergemeinde zur Verfügung gestellten Daten hat die «Hauptstadt» eine zoombare Übersichtsgrafik erstellt, die zeigt, wie sich der heutige Burgerbesitz auf dem Stadtboden verteilt.
Das Bild, das sich ergibt: Quantitativ der grösste Teil des burgerlichen Besitzes in der Stadt ist Wald (grün), rund 26 Prozent des städtischen Bodens. Die bebauten Grundstücke, die der Burgergemeinde gehören (und um die sich dieser Text hauptsächlich dreht), machen vier Prozent der städtischen Bodens aus
Das ist allerdings nur ein Teil des ursprünglichen Eigentums. Mehrere grosse städtische Grundstücke hatte die Burgergemeinde seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verkauft.
Den Erlös investierte sie meist in günstigen Boden ausserhalb der Stadt, dem die Baureife und die Wertsteigerung erst bevorstand. Deshalb ist sie auch in Agglomerationsgemeinden ein Faktor für die Entwicklung – so etwa in Köniz (Zentrum Bläuacker), Kehrsatz (Breitenacker), Muri (Multengut) oder Worb (Sunnebode). Wald besitzt die Burgergemeinde Bern beispielsweise auch im Kiental oder in Saanen.
Doppelrolle im Monopoly
Doch zurück in die Stadt. Die Frage ist: Wie stark nimmt die Burgergemeinde, die weniger als zehn Prozent der Stadtbevölkerung repräsentiert, Einfluss? Und steuert sie die Stadtentwicklung zu ihren Gunsten?
Kritik begegnen die Burger*innen meistens so: Ihr ausgedehnter Grundbesitz habe diesen Boden der Spekulation entzogen, weil die Burgergemeinde nicht auf kurzfristige Gewinne aus sei. Das wäre anders gekommen, so die Argumentation weiter, hätte man bei der Güterausscheidung 1852 den Boden an private Investoren verhökert.
Auf dem Bodenmarkt Rendite erwirtschaften, aber gleichzeitig der Allgemeinheit verpflichtet sein: In dieser Doppelrolle bewegt sich die Burgergemeinde seit je auf schmalem Grat. Exemplarisch zeigt sich das beim Bau der Hochbrücken über die Aare im 19. Jahrhundert, dem «Berner Brückenmonopoly», wie es der Historiker und Journalist Stefan von Bergen einmal bezeichnet hat.
Die Burger werfen ihr Gewicht entschlossen in die Waagschale, damit ihnen die von Kanton und Einwohnergemeinde verantworteten Brückenbauten möglichst optimal in die Karten spielen. Die hohen Aareübergänge sind entscheidend dafür, dass die burgerlichen Stadtfelder am anderen Ufer zu einträglichem Bauland werden.
Der unverstellte Blick in die Alpen
Beim Bau von Berns erster Eisenbahnbrücke, die das Wylerfeld mit dem künftigen Hauptbahnhof verbindet, wird das Monopoly zum ersten Mal gespielt. Die finanzschwache Stadt ist auf Investitionsbeihilfe der Burger angewiesen.
Diese sagen zu, verlangen aber von der Stadt, dass man die Bahnbrücke um einen Fahrweg ergänzt. Damit wird der ihnen gehörende, brachliegende Boden in der Lorraine erschlossen und aufgewertet. Finanziell praktiziert die Burgergemeinde saubere Risikominimierung. Sie zahlt den vollen Beitrag erst, als der erste Brückenpfeiler steht.
Die Rechnung geht auf. Die Lorraine erblüht. In die neuen Häuser ziehen jedoch vor allem Arbeiter*innen ein, was der Burgergemeinde suspekt ist. Beim Bau der Kirchenfeldbrücke (1881) wählen die Burger eine andere Strategie. Sie verkaufen ihren Boden im Kirchenfeld vorgängig an die britische Berne Land Company.
Sie knüpfen den Verkauf an die englische Beteiligungsgesellschaft an die Bedingung, dass die Land Company die Brücke bezahlt und ein mondänes Villenviertel anlegt. Dieses soll betuchtere Bewohner*innen anziehen – was allerdings nur teilweise gelingt. Zudem legen die Burger fest, dass im Kirchenfeld keine hohen Häuser gebaut werden. Damit die burgerliche Sicht von der Münsterplattform auf die Alpenkette «unverkümmert bleibt».
Deal bei der Kornhausbrücke
Weit aus dem Fenster lehnen sich die Burger bei der Kornhausbrücke. Für diese gibt es ein weniger teures Alternativprojekt, das vom Waisenhausplatz hinüber in den Altenberg führt. Dieses hat aber aus Burgersicht den Nachteil, dass ihr Bodenbesitz im Breitenrain nicht erschlossen wird.
Die Burger überlegen sich einen Schachzug. Sie bieten der Stadt gewinnträchtiges Bauland oben im Breitfeld günstig an, damit diese sich vor der Volksabstimmung für die Kornhausbrücke (und damit für die Burgerinteressen) stark macht. Der Poker geht auf. Die männlichen Stimmberechtigten segnen den Deal an der Urne ab. Aber auf die Burgemeinde hagelt es angesichts des Beeinflussungsversuchs in der noch jungen Berner Demokratie Kritik: «Wer befiehlt eigentlich in Bern?»
Martin Stuber, Historiker an der Universität Bern, hat die Geschichte des burgerlichen Grundeigentums in der Langzeitperspektive untersucht. Er hat dabei auch mehrere heftige Konflikte rekonstruiert.
Bestimmender, so Stubers Bilanz, sei die integrative Wirkung der Burgergemeinde. Sein Fazit: Die burgerliche Bodenpolitik war immer dann erfolgreich, wenn sie ihre Eigeninteressen nicht absolut setzte, sondern sich um gesellschaftliche und politische Anschlussfähigkeit bemühte.
Neue Profilierung mit Baurechten
Konform mit den Interessen der Einwohnergemeinde verhält sich die Burgergemeinde in der Wachstumsphase in Berns Westen ab den 1950er-Jahren. In der anlaufenden Hochkonjunktur wachsen industrielle Hochhaussiedlungen in die Höhe. Die Burgergemeinde, die in Bümpliz über grossflächigen Bodenbesitz verfügt, ist deshalb ein wichtiger Faktor, der die zu dieser Zeit für die ganze Schweiz innovativen Grossüberbauungen in Bern West ermöglicht.
Die Burger ändern den Umgang mit ihrem Grundbesitz: Sie verkaufen den lukrativen Boden nicht mehr, sondern geben ihn im Baurecht gegen Zinszahlungen ab.
Mustergültig exerzieren sie das in der Siedlung Schwabgut in Bümpliz durch. Auf burgerlichem Boden entstehen 1000 preisgünstige Wohnungen, die von der ebenfalls in Burgerbesitz stehenden Schwabgut AG realisiert werden.
Der Historiker Moritz Gutjahr hat den Bau des Schwabguts untersucht. In seiner Arbeit zieht er einen interessanten Schluss: Die neue Praxis der Baurechtsvergabe habe auch die Aussenwahrnehmung der Burger verbessert. Zwar behält die Burgergemeinde ihre Machtposition auf dem Bodenmarkt und sichert sich eine kontinuierliche und konstante Rendite. Gleichzeitig profiliert sie sich «durch den Bau von preiswertem Wohnraum als engagierte Wohnraumentwicklerin».
Virtuos hält die Burgergemeinde ihre Bodenpolitik von öffentlicher Kritik fern, indem sie ihre Leistungen betont. Das gelingt fast immer. Sie trägt zur Rettung des Botanischen Gartens bei. Oder zur Realisierung des Bärenparks.
In den 1990er-Jahren widerfährt ihr allerdings ein spektakulärer Sündenfall. Aus Renditeerwägungen setzt sie den Abbruch der historischen, denkmalgeschützten Kocherhäuser an der Laupenstrasse durch, die sie via den Kocher-Fonds verwaltet. Heute stehen dort Bürohochhäuser, in denen sich unter anderem die Finanzmarktaufsicht befindet.
Die Burger, die sich auch als Bewahrer der Berner Altstadt gebärden, geraten heftig in die Kritik.
Burgerliche Offenheit
«Wie kann eine Institution, die, getragen von altbernischen Familien, sorgsam um die Wahrung bernischer Geschichte bemüht ist, ein historisches Gebäude von nationaler Schutzwürdigkeit zerstören?» Das fragt die Berner Historikerin Katrin Rieder in ihrer fulminanten Doktorarbeit, die sie 2008 als 500-seitiges Buch veröffentlicht. Sie kritisiert die Burgergemeinde als undurchsichtiges konservatives Netzwerk, das unter dem Deckmantel des Diensts an der Allgemeinheit aristokratische Machtausübung betreibe. Rieder stellt die Existenzberechtigung der Burgergemeinde in Frage.
Die diskreten Bernburger gehen in die Offensive und stellen sich der Debatte. Sie beauftragen ein unabhängiges Historiker*innenteam mit der kritischen Aufarbeitung ihrer Geschichte. Heraus kommt 2015 ein zweibändiger Wälzer, der auch dunkle Kapitel ausleuchtet – etwa die Nazifreundlichkeit einzelner Burger.
Parallel dazu modernisiert die Burgergemeinde ihre Öffentlichkeitsarbeit. Einst wurden Journalist*innen, die kritische Artikel zur Burgergemeinde verfasst hatten, zu Einzelgesprächen mit der Burger-Spitze aufgeboten. Inzwischen beantwortet die Burgergemeinde kritische Anfragen professionell und bringt sich mitunter auch proaktiv ins Gespräch.
Ab und zu lassen sich die Burger auf gewagte Projekte ein. Ab 2005 wird die Idee einer Waldstadt im schmalen Streifen des Bremgartenwalds zwischen Länggasse und Autobahn hitzig diskutiert. Die vermeintlich konservative Burgergemeinde zeigt sich offen für das Experiment, Wald zu roden und Häuser zu bauen. Es wird allerdings 2016 von ihren Initiant*innen sistiert.
Kein Problem mit Rot-Grün
Als smart könnte man den Umgang der Burger mit der rot-grünen politischen Mehrheit bezeichnen, die früher von Berührungsängsten geprägt war. Schliesslich gehört es zur DNA kämpferischer Linker, die Abschaffung einer als elitär wahrgenommenen Nachfolge-Organisation der Bernern Patrizier zu fordern. Aber anders als etwa die Zürcher Zünfte hat sich die Burgergemeinde mit ihrer Förderpolitik nach links geöffnet
Letztmals kommt eine zaghafte Abschaffungsdiskussion bei der Revision der Kantonsverfassung 2009 auf. Dass allfällige Interessenkonflikte zwischen Einwohner- und Burgergemeinde etwa in stadtplanerischen Fragen – wie etwa beim Konflikt um die Kornhausbrücke – offen debattiert würden, ist fast unvorstellbar geworden. In der linken Stadtregierung sitzen mit Stadtpräsident Alec von Graffenried (GFL) und Finanzdirektor Michael Aebersold (SP) zwei Burger.
Im Stadtrat hängig ist ein einziger burgerkritischer Vorstoss. Er stammt von SP-Politiker Halua Pinto de Magalhães und fordert eine Strategie zur Vereinigung von Burger- und Einwohnergemeinde sowie Reparationszahlungen für Profite aus der Kolonialzeit. Der Vorstoss wird in einer der nächsten Stadtratssitzungen behandelt. Dass er etwas bewirken wird: eher nicht.
Berner*innen und Burger*innen, sie sind sich sehr nahe.
Lies am Donnerstag in der «Hauptstadt»: Wie die frühere Stadt- und Grossrätin Barbara Mühlheim nun in der Burgergemeinde Politik macht.
Verwendete Literatur:
Birgit Stalder, Martin Stuber, Sibylle Meyrat, Arlette Schnyder, Georg Kreis. Von Bernern und Burgern. Tradition und Neuerfindung einer Burgergemeinde. Hier und Jetzt. 2015
Katrin Rieder: Netzwerke des Konservatismus. Berner Burgergemeinde und Patriziat im 19. und 20. Jahrhundert. Chronos. 2008.
Stefan von Bergen: Brückenschläge in die Zukunft. Die Schlüsselrolle der Hochbrücken in Berns Urbanisierung, in: Christian Lüthi; Bernhard Meier (Hrsg.): Bern eine Stadt bricht auf. 1998
Moritz Gutjahr. Die Überbauung des Schwabguts 1957–1971. Die Burgergemeinde Bern als Akteurin in der städtischen Wohnraumpolitik. In: Berner Zeitschrift für Geschichte BEZG. 2018
Jürg Steiner: Bern – eine Wohlfühloase? Der Weg zur rot-grünen Hauptstadt. Stämpfli Verlag. 2020.
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Die Artikelserie zur Burgergemeinde wurde mit Unterstützung von JournaFONDS recherchiert und umgesetzt.